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Sexismus, Betrug und Macht: Die korrupten Mechanismen hinter den Kulissen der Popmusik

Eine Unterhaltung mit dem Autor John Seabrook über die düsteren Machenschaften der Musikindustrie.

Die moderne Popmusik befindet sich an einem Scheideweg. Die Anforderungen des Publikums an seine Top 40 ist höher denn je, Hits kommen und gehen mit jedem Wimpernschlag, Memes laufen besser als Singleverkäufe, Alben, auf die wir seit Jahren gewartet haben, sind nach zwei Wochen nach Veröffentlichung schon wieder #over. Wie schafft es diese Industrie, mit der scheinbar konstanten Evolution des Pop klarzukommen—einer Welt, in der Macklemore an einem Tag in den Himmel gelobt und am anderen höflich darum gebeten wird, die Klappe zu halten? Wer entscheidet, was einen Hit ausmacht, und wie wird so einer fabriziert? Wer bekommt das ganze Geld, das Samsung für ANTI hingeblättert hat? Und warum zur Hölle muss Lady Gaga 2016 die Musikindustrie immer noch als „verdammten Jungsclub“ outen?

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John Seabrook, ein Autor des New Yorker, hatte Mitte 2015 The Song Machine: Inside the Hit Factory veröffentlicht—ein enthüllendes Buch über die Mechanismen, die sich im Hintergrund deiner Lieblingspophits abspielen. Er begab sich von New York nach Los Angeles und dann nach Stockholm und Korea auf eine Reise des Pop—von seinen Anfängen bis hin zu seiner modernsten Gestalt. Er sammelte Anekdoten, machte eigene Erfahrungen und verbrachte einen ganzen Nachmittag im Studio mit Max Martin. Das Resultat ist ein erschreckender Sprung in eine uns versteckte Welt—sein Buch wirft Licht auf Prozesse, die oftmals ungerecht erscheinen und unsere Top 40 wie eine iPhone-Fabrik aussehen lassen.

Wir haben uns mit John zusammengesetzt, um über die versteckten Kräfte in der Musikindustrie zu reden, über Geschlechterungleichheit, den anstehenden Krieg mit der Tech-Branche und darüber, wie Pop 2016 mutiert ist. Zu guter Letzt gibt es auch nich einige Gedanken zur Genialität von Fetty Wap.

Noisey: Eine der Sachen, die mich an deinem Buch besonders fasziniert haben, war wie du das Muster männlicher Svengalis enttarnt hast, das hinter den meisten weiblichen Popstars lauert. Von Lady Gaga bis Ariana Grande gab es bereits eine ganze Reihe Künstlerinnen, die mutig auf den Sexismus in der Branche hingewiesen haben, aber wie schlimm sieht es eigentlich wirklich aus?
John Seabrook: Es herrscht eine Menge Geschlechterungleichheit, so viel steht fest—wahrscheinlich sogar mehr Geschlechterungleichheit als ethnische Ungleichheit. Zum Beispiel tendieren Männer meistens dazu, die Producer zu sein, und die Frauen tendieren dazu, die Hooks zu schreiben. Man hat also die Männer (Producer) und die Frauen (Topline Writer—also diejenigen, die Lyrics und Gesangsmelodien schreiben) und so, wie die Studio-Sessions angesetzt und durchgeführt werden, buchen die Producer—also die Männer—die Räumlichkeiten und werden in der Regel vom Label nach Stunden bezahlt. Die Topline Writer—also die Frauen—werden jedoch nur danach bezahlt, ob es ihr Song auch aufs Album schafft. Die meisten Songs schaffen es natürlich nicht aufs Album. Die Zeit, die sie im Studio an Songs arbeiten, die es nicht aufs Album schaffen, ist also quasi unbezahlte Arbeitszeit. Die Männer hingegen werden immer bezahlt, egal ob es ihre Songs aufs Album schaffen oder nicht.

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Glaubst du, dass Frauen auf ihre Schreibrollen beschränkt werden, weil man ihnen mehr oder weniger ständig zu verstehen gibt, dass sie sich im Hintergrund halten sollen?
Total! Es gibt da diese Clive Davis/Kelly Clarkson Anekdote in meinem Buch, die das perfekte Beispiel dafür ist. Kelly sagt an einer Stelle, dass es für einen Typen wie Clive Davis unvorstellbar ist, dass eine Frau Songs schreiben und singen kann. Das ist eine Annahme, der sich Männer nicht ausgesetzt sehen.

Haben die weiblichen Songwriter nicht auch eine gewisse Macht?
Die Ironie an der ganzen Sache ist die, dass die Songwriter gerade wichtiger sind denn je. Mainstreamkünstler schreiben immer weniger ihrer eigenen Songs selbst. Während wir uns aber immer mehr in das Zeitalter des Streamings begeben, werden die Songwriter total übers Ohr gehauen. Mit dem Rückgang der Verkaufszahlen verlieren sie an den mechanischen Tantiemen, die sie sonst von den Albumverkäufen erhalten hätten. Und mit dem Übergang vom herkömmlichen Radio hin zum Streaming springt am Ende viel weniger Geld für sie raus.

Ist das einfach eine unglückliche Konsequenz oder ist das so gewollt?
Die Labels haben diese Deals so erschaffen, damit sie einen Großteil des Geldes einstreichen, und die Songwriter, die keinerlei Macht bei den ganzen Verhandlungen haben, sind die, die dabei eins reingewürgt bekommen. Das Paradoxe daran ist, dass die Songwriter unglaublich essenziell für den ganzen Prozess sind, aber so behandelt werden, als wären sie es noch nicht mal eine ordentliche Bezahlung wert. Ich weiß nicht, wie sich das in Zukunft noch entwickeln wird, aber wenn es sich die Songwriter nicht mehr leisten können, Songs zu schreiben, dann wird das ganze Geschäftsmodell auseinanderfallen.

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Hast du feststellen können, ob Producern wie Max Martin und Dr. Luke diese Geschlechterungleichheit bewusst ist?
Als ich sie darauf angesprochen habe, haben sie auf jeden Fall so getan, als ob. Aber dann passierte nach meiner Unterhaltung mit Dr. Luke diese Ke$ha-Geschichte und von Konsequenzen irgendeiner Art war nichts zu sehen. Meistens geht es einfach nur um Geld. Das Musikgeschäft ist anders als die meisten anderen Kreativbranchen. Es gibt dort nur sehr wenige Richtlinien oder ethische Standards. Das Filmgeschäft, das Buchgeschäft und das TV-Geschäft haben alle ziemlich fest etablierte Leitfäden dafür, wie man sich zu verhalten hat, wenn man einen Film, ein Fernsehprojekt oder ein Buch macht. Diese Dinge existieren im Musikgeschäft einfach nicht. Es dreht sich alles um Macht und Revierkämpfe. Die einzige Ethik, die dort existiert, lautet: Nimm, was du kriegen kannst.

Warum das so ist, hat mit der Tatsache zu tun, dass das Musikgeschäft historisch aus einer Art organisiertem Verbrechen heraus entstanden ist. Schwarze Künstler, die von dem wahren Wert ihrer Veröffentlichungen keine Ahnung hatten und so die Rechte für wenig Geld verkauften, wurden systematisch betrogen. Das führte dann dazu, dass sich die ganzen weißen Typen die Taschen vollgestopft haben und die komplette Industrie inzwischen auf einer Art verwunschenem alten Friedhof fußt. Wenn es hart auf hart kommt, tendiert man in der Branche dazu, wieder in diese sehr urwüchsige „ich mache dich fertig, bevor du mich fertig machst“-Einstellung zu verfallen.

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Hat der Aufstieg von SoundCloud, Streaming-Angeboten und leichtverfügbarer Produktionstechnik das Machtgefüge in irgendeiner Weise verändert?
Die Antwort darauf ist sehr sonderbar. Man würde eigentlich davon ausgehen, dass diese ganzen Trends die Branche demokratisieren würden. Die Majorlabel haben dann allerdings auf diese Entwicklung reagiert, indem sie versuchen ein System zu etablieren, das nur Majorlabel kontrollieren können. Schau dir nur mal den Aufstieg und die Werbung für diese ganzen ‚Super Producer’ an—das sind Leute, die sich nur die ganz großen Labels leisten können. Das Geschäft ist so despotisch, wie es nur sein kann. Und was die Vertriebswege angeht, auf denen es neue Song zum Hörer schaffen, üben die großen Labels noch immer eine große Macht über das herkömmliche Radio aus—vor allem die großen Popsender. Sie konzentrieren ihre Ressourcen also auf das ganze Zeug, das nur sie machen können.

Du hast in deinem Buch erwähnt, dass die Tech-Industrie eine große Rolle bei der Neuausrichtung der Regeln in der Musikindustrie spielen könnte. Wie das?
Die Tech-Industrie und die Musikindustrie befinden sich momentan miteinander im Krieg. Die Tech-Welt vertritt ganz andere Werte und ist viel transparenter. Dort wird mit Daten gearbeitet und man sieht recht deutlich: „OK, diese Person verdient so und so viel Geld und diese Person so viel.“ Es ergibt aus einer rationalen Perspektive alles Sinn. In der Musikindustrie ist das Abrechnungssystem so undurchschaubar, wie es nur geht. Fast niemand bekommt seine Tantiemen-Abrechnung zu sehen und wenn doch, ist diese ohne ein ganzes Heer von Anwälten kaum zu verstehen. Sie tun wirklich alles, um sich diese Undurchschaubarkeit zu erhalten, weil das ihnen ermöglicht, Geld abzuschöpfen—Geld, das den beteiligten Künstlern abgenommen wird. Dieser Kampf wird sich wahrscheinlich über die nächsten 20 Jahre dort abspielen. Ich glaube, dass sich die Tech-industrie am Ende durchsetzen wird, weil es recht schwer ist, Daten unter den Teppich zu kehren. Bis jetzt aber hat sich die Musikindustrie im Kampf ganz gut zur Wehr gesetzt.

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Was erwarten die Menschen deiner Meinung nach heutzutage von der Popkultur?
In dem Buch gibt es ein Zitat von jemandem, der sagt: „Es geht alles um Liebe und Party.“ Leute hören ganz gerne im Pop Dinge, die sie schon kennen—viel mehr als das, also irgendwelche tiefergreifenden Konzepte, wird dort nicht erwartet. Meiner Meinung nach ändert sich das allerdings gerade. Während Musik genretechnisch momentan immer mehr miteinander verschmilzt, scheint Pop etwa erwachsener zu werden und sich reiferen Themen zuzuwenden. Das, was man in der Musikindustrie wirklich spürt, ist vor allem Angst. Niemand weiß genau, warum das ganze Geschäft eigentlich funktioniert. Leute bekommen Erfolge zugeschrieben, wissen aber ganz tief in sich drin, dass eigentlich niemand eine Ahnung hat, warum ein bestimmter Song erfolgreich war. Der natürliche Impuls war es also, einfach das gleiche immer wieder und wieder zu machen, und gerade deswegen ist der Mainstreampop in der Vergangenheit auch immer so ähnlich geblieben.

Natürlich übt das Radio einen gigantischen Einfluss auf die amerikanische Popmusik aus. Würdest du das auch für Großbritannien und andere europäische Länder behaupten?
Ihr habt da drüben ein komplett anderes und teilweise staatlich finanziertes Sendernetz. Ich glaube nicht, dass ihr in gleichem Maße mit kommerzieller Musik beschallt werdet wie wir. Wenn du in den USA eine Stunde im Auto verbringst, bekommst du in dieser Zeit die gleichen fünf oder sechs Songs drei oder vier Mal vorgespielt. Du wirst wirklich gnadenlos mit den Top 10 Songs bombardiert und die Playlisten scheinen immer kürzer zu werden—mit immer mehr Wiederholungen.

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In dem Buch wird unter anderem thematisiert, dass Songwriter und Producer damit anfangen, extra Songs für diese Playlisten mit den endlosen Wiederholungsschleifen zu schreiben. Es ist also relativ egal, ob dir gefällt, was du beim ersten Mal hörst, denn nach der fünften Wiederholung wird sich die Hook in dein Gehirn gefressen haben und du wirst den Song lieben. Es ist aber auch nicht garantiert, dass das passiert. Die amerikanischen Top 5 waren vor Kurzem von vier Kanadiern und zwei Briten besetzt—bei uns herrscht vielleicht dieses unglaublich kommerzielle System, aber viele der Topkünstler, die wir hier hören, sind nicht unbedingt Amerikaner. Ich schätze, das ist der Beweis, dass es immer noch eine gewisse Kreativität und dieses Denken fernab von festgefahrenen Pfaden braucht, und das ist eher in weniger kommerziellen Umgebungen wie Großbritannien und Kanada möglich. Es klingt einfach frischer und authentischer.

Von modernen Popstars wird immer mehr erwartet, dass sie politisch Stellung beziehen. Denkst du, dass sich die Label darüber Sorgen machen?
Natürlich sind Menschen wie Nicki Minaj, die ich übrigens großartig finde, eher dazu bereit, ihre Meinung zu sagen, wenn sie Dinge wie Rassismus oder ökonomische Ungleichheit sehen. Aber bei jemandem wie Katy Perry—mit dem Image, das man für Katy Perry konstruiert hat—ist es schwer, solche Probleme zu adressieren, weil ihre All-American-Girl Persona dadurch beschädigt und weniger popfreundlicher werden würde. Rihanna ist wiederum ein interessanter Fall. Sie könnte sich wahrscheinlich viel mehr gegen Dinge aussprechen, ohne ihr Image irgendwie zu beschädigen. Sie tut es aber nicht. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie sich nicht zu sehr in die Politik einmischen will oder was es sonst ist. Ich denke, dass es ihrem Status guttun würde, wenn sie sich mehr wie Nicki Minaj zu bestimmten Themen äußern würde. Aber ich weiß nicht, ob das an den Leuten um sie herum liegt oder was sonst ist—es wäre auf jeden Fall schön, mehr von ihr in der Richtung zu hören.

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Was passiert also als nächstes?
Bei den meisten Dingen in dem Buch geht es vor allem um Macht. Ein Großteil dieser Macht befindet sich weiterhin in den Händen einiger, weniger Menschen, aber gleichzeitig gibt es diese technologischen Veränderungen, die diese Macht zu untergraben scheinen. Vieles hängt davon ab, ob die Streaming-Dienste es schaffen, das Geld wieder einzufahren, das durch das Filesharing verlorengegangen ist. Momentan sieht es noch nicht so aus, als könnte die Lücke dadurch gefüllt werden. Sobald wir aber sehen, wie sich das alles entwickelt, werden wir wahrscheinlich große Bewegungen und echte Veränderungen beobachten können. Jetzt gerade scheint sich einfach jeder an dem festzuklammern, was er noch hat, und hofft, dass es nicht verschwindet.

Eine letzte Frage: Wer ist momentan dein Lieblingspopstar?
Ich lande irgendwie wie immer wieder bei Rihanna. Aber auch bei Fetty Wap—die Leute denken vielleicht, dass er zu abseitig ist, aber dieser Typ ist ein echter Popstar. Und er ist ein echter Künstler. Von den Top 10 Songs der US-Charts 2015 war „Trap Queen“ der einzige, der vom Künstler selbst geschrieben worden war. Keine Co-Writer, einfach nur Fetty Wap als einziger Songwriter—ganz klassisch. Ich sehe ihn und die Menschen, die er inspiriert, als den wirklich interessanten Teil des zeitgenössischen Pop.

John Seabrooks Buch, The Song Machine: Inside The Hit Factory, kannst du hier kaufen.

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