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dein sound andere ära

A Question of Time—Aufwachsen in den 80ern

In den 80ern gab es eigentlich nur zwei Musikgenres mit den dazugehörigen Jugend-/Subkulturen: Rocker und Popper.

Wenn du heute stark auf die 40 zugehst (und regelmäßig dankbar bist für diese stille Übereinkunft aller Beteiligten darüber, dass man im Musik-/Medienzirkus per Definition einfach nicht altert), hast du den wichtigsten Teil deiner Kindheit ungefähr in den 80ern verbracht. Den zwischen 5 und 15 nämlich, in dem die meisten kognitiven Weichen gestellt wurden und du unterbewusst beschlossen hast, den nennenswerten Teil deines Lebens primär von Musik, Konzerten, Bands und Platten mitbestimmen zu lassen anstatt von BWL, Fingernageldesign oder Krebszüchtung.

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Die 80er waren in dieser Hinsicht eine echt dankbare Ära – die 70er hatten Schlaghosen, die 90er Rap, und beides hat die Menschheit nicht unbedingt weit nach vorn gebracht. Falls du nicht das Glück hattest, ebenfalls im 80er-Jahrzehnt deinen Geschmack formen zu lassen, lies weiter. Falls doch, dann auch. Opa erzählt vom Krieg.

Papier

Für ein "Internet" waren die 80er um einige wenige Jahre zu frühreif. Informationen über Stars und Musiker und Möchtegerns besorgte man sich per Jugendzeitschriften: allen voran Bravo, Pop/Rocky oder Popcorn, auch den Musikexpress respektive die Sounds gab's bereits, und selbst unter dem Namen "Rolling Stone" war damals an den Kiosken und Trinkhallen schon ein Fachmagazin über Musik zu finden, bei dem du mit präpubertär-naiver Schnurz-Haltung aber eigentlich immer davon ausgingst, dass es ein teures Greisenrocker-Fanzine darstellte (hätte man uns damals erzählt, dass Mick Jagger auch 2015 noch unfallfrei über Bühnen hüpft, .. - aber das ist ein anderes Thema). Quell der Informationsfreude also vor allem Papier. Monatliche Songtextheftchen im A6-Format ("top") ergänzten das Bunte-Bilder-Angebot am Zeitschriftenstand, und stillten den Wissensdurst um Songs mit obskurem Mitgröhl-Potential (Kajagoogoos "Too Shy", gesungen von Grundschülern, die mit der englischen Sprache noch exakt nie in Berührung kamen außer eben mit Popmusik: hatte zwar etwas originelles, aber eben auch etwas zehennägelaufrollendes), sowie immer auch um deutschsprachige Übersetzungen jener Songs, die dadurch oft genug unangenehm entmystifiziert wurden (ein deutsches "Baby" ist halt semantisch doch ein Stück weit entfernt von einem englischen). Aber immerhin konntest du deinen Eltern mehr Taschengeld aus den Rippen leiern, denn du wolltest ja schließlich eine Fremdsprache lernen. Ja, Englisch war damals wirklich noch eine Fremdsprache.

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Social Media

Der große Rest war Mundpropaganda. Mixtapes (heute: Playlists) in mehr oder minder gut organisierten Tauschringen respektive Schulpausen oder gern auch per Post (heute: Bittorrent), die üblichen "kennst du schon ..?"-Freundeskreise (heute: Blogs) – und selbstverständlich fandest du automatisch all die Songs und Künstler toll, die von den Mitschüler, auf die du standest (heute: Instagram- oder Youtube-Promis), aus irgendeinem Grund schon vorher toll gefunden wurden (heute: ganz genau so). Dirty-Dancing-Soundtrack? Check. Technotronic? Check. Rick Astley? Check. Die Empfehlungsalgorithmen in den 80ern waren vielleicht langsamer, aber doch wenigstens so originell wie ein geschmacksverwirrter Mehrpersonen-Netflix-Account heutzutage. Aber unterscheiden konnten sie als Metrik nicht nur zwischen Genres und Vorlieben, sondern ganz nebenbei auch nach Qualität – davon sind wir 2015 ja wieder ein ganzes Stück entfernt.

Rundfunk

Der Erlöser in jeder Hinsicht kam, als die ersten Mitschüler Kabelfernsehanschluss bekamen – und damit auch MTV, einen Sender, der damals praktisch rund um die Uhr Musikvideos zeigte. Zuvor war man auf Musicbox (später: Tele5), Ronnys Pop-Show, Formel Eins, Peter Illmans Treff oder – obacht! – die ZDF-Hitparade angewiesen, wollte man Einblicke in so etwas wie "Charts" haben, teilweise sogar in welche mit Mitabstimmungsrecht. MTV aber? Plötzlich war die Welt bei dir zu Hause angekommen und erste nerdige Tendenzen machten sich bemerkbar (mit Notizblock vor dem Fernseher sitzen und/oder im Freundeskreis mit auswendiggelernt-nachgeplappertem Spezialwissen prahlen, das mangels Smartphones oder Google meist auch einfach nur beeindruckt hingenommen wurde).

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Namen wie Kristiane Backer, Paul King, Vanessa Warwick und Ray Cokes lösten Al Munteanu, Susanne Reimann, Stefanie Tücking und Jochen Bendel in der Wahrnehmung ab – oder ergänzten sie immerhin überdeutlich. Und vielleicht lag's an den funkelnden Augen der MTV-VJs, dass du denen direkt mehr Kompetenz in Musikfragen zutrautest als dem relativ gesichtslosen Dr.-Sommer-Fachblatt mit seinen popkulturellen Füllberichten, – aber fortan hattest du eben Verbündete. Im Fernseher drin. Und die waren genau so wahnsinnig wie du es gerade werden wolltest.

Einkaufen

Dein gesamtes Taschengeld und mühsam dazuverdienter Extraquatsch (Drogenhandel war in jenem Alter eher unüblich, man beschränkte sich auf Baby- oder Hundesitting – sowie darauf, mit enormer logistischer Komplexität Gratiszeitungen unbemerkt in weit entlegene Altpapiercontainer zu bringen, anstatt sie weisungsgemäß in die dafür vorgesehenen Briefkästen zu verteilen, mit leider identischem Zeit- und Kraftaufwand) – der ganze Reichtum also wollte in Tonträger investiert werden, und zwar nicht immer nur in BASF-Leercassetten mit 2x45min Kapazität pro Seite, sondern in sogenannte Originale. Vinyl, Kassetten, manchmal auch CDs. Wenn das ein wenig persönlicher ablaufen sollte als über Kataloge von Disc-Center (A5, kleingedruckt, der Klassiker für Freundeskreis-Sammelbestellungen – das Ausfüllen und Abschicken einer solchen Bestellzetteltabelle gehört zu den durch das Internet vermutlich unwiderbringlich verlorenengegangenen Kulturtechniken der damaligen Zeit!) oder Groover's Paradise (limitierte 4fach-Picture-7"-Sets mit einem obskuren Bandinterview, das auf einem US-Collegeradio lief, signiert und eingepackt in einen bestickten Fan-Schal? lieferbar!), dann .. .. gab's World Of Music. Eine Mischung aus klassischem Plattenladen, Elektronikgroßmarkt und Shazam in Menschengestalt, traf man dort manchmal auf Mitarbeiter, die per Vorsummung einen Song nicht nur identifizieren, sondern auch aus ominösen und schwerstominösen Quellen (und zu entsprechenden Preisen) nachbestellen konnten. Außerdem die vermutlich einzigen Ladengeschäfte, die damals nicht nur "High Life – Chart Hits"-Compilations, sondern ein Regalfach nebenan auch Iron-Maiden-Shape-Singles und alle Alben von Modern Talking führten, dir Konzertkarten anboten und Autogrammstunden mit Künstlern veranstalteten. Abgesehen davon besaßen sie "Abhörinseln". Allein das Wort schon! Wolltest du deine Zeit und dein Geld nicht ganz so wahnwitzig aus dem Fenster werfen, fanden sich in jeder nennenswerten Stadt aber auch die Idealisten unter den Plattenläden: einen halben Nachmittag lang in 30-40 Platten reinhören, alle super finden, keine davon kaufen, sich statt dessen vom Fachpersonal den Kram auf Tapes kopieren lassen und am nächsten Tag abholen? Früher war vielleicht nicht alles besser, aber schon 'ne Menge geiler. Komisch und schade nur, dass diese Läden nie lang überlebt haben.

Genres & Bands

In den 80ern gab es eigentlich nur zwei Musikgenres mit den dazugehörigen Jugend-/Subkulturen: Rocker und Popper. Wer dir etwas anderes erzählt, hat keine Ahnung, oder romantisiert ganz gehörig in der Gegend herum. Jede andere Randgruppe ließ sich entweder der einen oder anderen Gruppe unterordnen: bei den langhaarigen Lederjackenfans ("Rockern") fühlten sich Anhänger von New Model Army, Whitesnake, die Scorpions und Kreator gleichermaßen zu Hause, bei den gel-haarigen Diesel-Jeans-Trägern ("Poppern") landete alles mit Synthies im weitesten Sinn: von a-ha über Depeche Mode bis New Order, aber auch Guru Josh (ein Typ, der damals so etwas darstellte wie Paul Kalkbrenner heute), Juliane Werding, Taylor Dane, Sandra, Anne Clark oder die Erste Allgemeine Verunsicherung. Selbst HipHop hieß eigentlich Breakdance und war, richtig, irgendwie Pop.

(Die dritte Gruppe und die regelbestätigende Ausnahme gewissermaßen stellten U2 dar, deren Joshua Tree je nach Stimmung und Kontext ausgepackt und dann entweder direkt nach Rod Stewart auf der Mittelstufenparty gespielt wurde oder vor Angelic Upstarts am Lagerfeuer. Es war eben auch nicht alles schön unter Helmut Kohl.) Nein, viel mehr Diversifikation existierte nicht. Subkulturen bildeten sich noch nicht innerhalb der Jugendkultur, sondern erst mal gegenüber dem heraus, was heute "Normcore" heißt – Metaller, Goths, Punks? Alles Rocker. Electro, Synthpop, Techno, Gabba? Popper. Es war alles sehr übersichtlich. Deshalb kannte man auch nicht gerade viel, das als ubedingt uncool galt: Michael Jackson und Die Ärzte wurden genauso wenig geächtet wie Herbert Grönemeyer, Rickrolling lag noch in weiter Ferne, Nik Kershaw und Nick Kamen musste man nicht unbedingt auseinanderhalten können – The Smiths, The Jam, The Clash, The Mission und The Stranglers konnten gleichberechtigt nebeneinander im Regal stehen und keiner wunderte sich. (Das sollte man sich heutzutage mal mit Black Keys, Black Kids, Black Lips, Black Sabbath, Black Flag und Black Föös trauen.) Aber der Songtext von Grauzones "Eisbär" beispielsweise passt ja auch heute noch auf das Versmaß von 90% aller jemals geschriebenen Songs – wieso sich also das Leben mit Ausdifferenzierung unnötig schwer machen? Nach dem zweiten Glas schmeckt jeder Rotwein. Und wenn du Mädchen bzw. Jungs beeindrucken wolltest, dann eben nicht mit besonders speziellem oder krassem Geschmack, sondern mit viel davon. Außer, sie standen auf Joachim Witt. Absolut niemand stand auf Joachim Witt. (Auch das gilt als grobe Faustregel ja übrigens noch bis ins Jahr 2015 und vermutlich auch weit darüber hinaus.)

Bis spätestens Anfang der 90er musstest du dir auf diese Art allerdings mindestens einen Musikgeschmack, wenn nicht sogar einen kompletten Lebensentwurf gebastelt haben – denn dann wurde alles furchtbar, die Bloodhound Gang wurde bekannter, Mariah Carey galt als Star, und Blümchen und Rammstein trugen abwechselnd dazu bei, dass du tragisch bemitleidend auf deine später geborenen Geschwister schauen konntest. Die 80er waren ein ziemlich tolles Jahrzehnt, um mit Musik aufzuwachsen. Bedank' dich also beim nächsten Muttertag doch einfach mal für das gute Timing deiner Eltern, falls sie in dieser Hinsicht alles richtig gemacht haben.