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Warum ihr endlich akzeptieren müsst, dass Lemmy höchstwahrscheinlich unsterblich ist

Lemmy hat mehr durchgemacht, als zehn Leben zulassen würden. Und was passiert im gleichen Atemzug mit dem letzten lebenden Rockstar? Ihm wünscht man heute den Tod an den Hals.

Dieser Artikel ist am 24. Dezember 2015, an seinem 70. Geburtstag, erschienen. Ein paar Tage später ist Lemmy verstorben.

Mr. Lemmy Kilmister musste sich viel anhören, seit Motörhead-Shows keine unausweichliche Bekehrung mehr zum Massentinnitus sind. Seit Mitte 2013 strauchelt die lauteste Band, musste teilweise ganze Touren absagen, weil Madman Lemmy sich bei einem Treppensturz die Hüfte anknackste. Ein gefundenes Fressen für alle Tratschtanten und Schwarzmaler—also uns alle. Tja, wer nichts zu erzählen hat, redet übers Wetter. Im Rock gilt das genauso, nur ist es da eben Lemmy, der aufgrund seiner Stellung als interstellare Gallionsfigur brechend harter Klanggewalten Grund genug zu sein scheint, ein ganzes Business-Buffet aus der Gerüchteküche zu bestellen.

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In Zeiten, in denen Todes-Hoax zum beliebten Massensport geworden sind, will natürlich jeder der Erste sein, der dank magischer Kraft das Abdanken des größten Rock 'n' Roll-Helden voraussehen kann—vor allem nach krankheitsbedingten Tourabsagen. Dann sind die Weissagungen besonders originell: „Nun geht er dahin“, „mach's gut und danke für alles, Lemmy“. Trittbrettfahrer leben in schnelllebiger Coolness auf, wo ein Hohlkopf dem anderen unter lautem Gelächter auf die Schultern klopft und räuspert: „Hab's ja gewusst“. Allein die Anteilnahme an diesen herzlosen Diskussionen ohne Ziel und Sinn spricht schon die Sprache der bewussten Verblendung. Das aktive Teilen der Gerüchte eine andere: Dummheit. Und jeder kennt sich dabei natürlich blendend mit dem Mythos Motörhead aus.

Das schlimmste an all der geheuchelten Rock-Ideologie: Die Generation Y hat gar keine Vorstellung mehr davon, was Rock 'n' Roll ist. Sie wissen doch gar nicht, wozu Lemmy in der Lage ist. Als der Großteil der Redenschwinger noch Quark im Schaufenster war, 1980, wollte Lemmy sein Blut zur Entgiftung austauschen. Da sagten ihm die Ärzte: „Sie haben kein menschliches Blut mehr. Und Sie können auch kein Blut spenden. Vergessen Sie's. Sie würden einen Durchschnittsmenschen töten, weil Sie so toxisch sind.“

Lemmy hat mehr durchgemacht, als zehn Leben zulassen würden. Er hat seine große Liebe an Heroin verloren, eine Überdosis Belladonna überlebt, Mandrax-Tabletten wie Chips gegessen, dreiwöchige Sauftouren mit zwei Stunden Schlaf hinter sich gebracht, hat Leute für fünf Jahre auf Acid Trips verschwinden sehen und musste nach drei Blowjobs wiederbelebt werden. Ja, da macht er keinen Hehl draus: Lemmy kam zum Rock 'n' Roll wegen der Mädchen. Ein Trieb, der die Musikwelt veränderte: Lemmy wurde Roadie von Jimi Hendrix, konnte auf Metallicas Lars Ulrich als ersten Motörhead-Fanclub-Gründer zählen, war da, bevor Iron Maiden mit der New Wave Of British Heavy Metal durchstarteten, hat versucht, Sid Vicious von den Sex Pistols das Bassspielen beizubringen, aber verzweifelt aufgegeben, hat den Fall der Metalwelt während der 90er am eigenen Leib erfahren und ist wieder auferstanden, als wäre es ein Fingerschnipp.

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Bis heute hat er mit seiner Band 22 Studioaben in 40 Jahren geschrieben. Während Motörhead konstant durch die Welt marschierten, mussten sie zusehen, wie sich das Bild des Rockstars zum bemüht freundlichen Social-Media-Experten wandelte. Bands, die alles darum geben, bloß nicht anzuecken. Keine öffentlich ausgelebten Rauschzustände mehr, keine unvorsichtigen Meinungsäußerungen, nur noch grinsende Plastikfiguren. Und was passiert im gleichen Atemzug mit dem letzten lebenden Rockstar? Ihm wünscht man heute den Tod an den Hals. Weil es das ist, was die Schlüpfer der ADHS-kranken Gegenwartskultur schön nass macht. Endlich wieder was zu erzählen haben, ist ja sonst nichts los in der grauen Vorstadt.

Damit ihr euch alle schön einreihen könnt in das Getuschel Halbstarker, hier schon mal das Grundrezept für die drei Stadien der Sensationsgeilheit im Falle von Lemmys Tode: Zuerst kommt die gespielte Traurigkeit, die natürlich nur öffentlich auf Facebook in Form vom Profilbildwechseln zum Band-Logo, dem Snaggletooth, amtlich wird. Bei Instagram muss dann dementsprechend irgendein wahlloses Promobild folgen. Alle „Star Wars“-Enthusiasten sollten sich damit ja schon blendend auskennen. Dann kommt, etwas trickreicher getarnt in den Kommentaren zu anderen Posts, die Bekenntnis, in Wahrheit Nostradamus zu sein: „Hab ich's doch gewusst!“ Am Ende dann der Kauf der Single „Ace Of Spades“, weil ganz ehrlich: Welchen Song hatten Motörhead denn noch? Damit ist was Gutes getan und es hat auch nicht so viel gekostet, puh, Glück gehabt. Ohne den obligatorischen Instagram-Post eurer aufgestockten Playliste geht das natürlich nicht, wo wir wieder beim #RIPLemmy wären—ein Teufelskreis.

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Aber jetzt mal Tacheles, du Schaf der Sekte Social-Media. Damit du vielleicht ein bisschen cooler bist als all die Mitläufer: Probier's doch mal mit Authentizität! Du magst schrammelig lauten Blues-Rock oder alte Herren in viel zu engen Hosen oder sogar beides? Dann kauf dir jetzt (!!!) eine verdammte Motörhead-Platte, den Motörhead-Vibrator, ihren Wodka, ihren Whiskey, ihr Bier, oder einfach Lemmys Autobiografie „White Line Fever“ und drück damit deinen Dank aus. Was will Lemmy mit deinen dreckigen Cents, wenn er die Würmer über seine Knochen fegen lässt? Geh so oft zur lautesten Show der Welt, wie es dein leergesoffenes Konto eben zulässt und ermögliche Lemmy eine sorgenfreie Zeit auf allen Bühnen, die er sich noch vorknöpft. Dann kann er ruhigen Gewissens das Erbe für seinen Sohnemann Paul aufstocken und schon mal das Museum für seine Weltkriegsmemorabilien vorfinanzieren.

Und nein, zur Show zu kommen und mit langen Gesichtern die Tribünen vollzupupsen, bis Lemmy plötzlich umfällt, ist genauso behämmert wie „Ace of Spades“ in der Dorfdisko zu brüllen—der Song hängt Lemmy schon seit Jahrzehnten zum Halse raus. „Wissen Sie, wir sind nach dem Album nicht zu Salzsäuren erstarrt“, schreibt Lemmy so passend in seiner Biografie. Weil das exakt die Ignoranten sehen wollen, die Lemmy den Tod mit ihren unbedachten Kommentaren herbeiwünschen. Dass er aber mit seinen dünnen Beinchen da aus eigener Kraft raufmarschiert und ein Brett von finsterschwarzem Rock 'n' Roll hinpfeffert, in einem Alter, wo die heutige MDMA-Kultur schon lebenserhaltende Maßnahmen bräuchte, bleibt wohl unbemerkt.

Lemmy wird eine enorme Stärke nachgesagt, die er unmöglich erfüllen kann. Klar ist er DIE Institution der Rockwelt, das Gesicht aller Biker und Rebellen. Aber warum gibt man sich nicht der Illusion hin, der Symbolhaftigkeit? Oma fährt ja auch nicht mehr im Hühnerstall Motorrad. Lasst den alten Mann einfach alt sein, in aller Würde. Wer wäre mit 70 nicht gebeutelt vom eigenen Körperverfall? Also ein bisschen mehr Respekt vorm Father of Loud, bitte. „Ich bin die 'Wirst du sterben?'-Fragerei so verdammt satt. Mir geht es gut. Ich gehe da raus und gebe mein Bestes. Ich habe gute Tage und schlechte Tage, aber meistens geht’s mir gut“, sprach es der Gott des Rocks höchstpersönlich. „Der Tod ist unausweichlich, stimmt's? Ich bin bereit dafür. Wenn ich gehen muss, will ich abtreten, während ich das mache, was ich am besten kann. Wenn ich morgen sterben sollte, kann ich mich nicht beklagen. Es war gut“, so Mr. Kilmister furchtlos für den [Classic Rock](http://classicrock.teamrock.com/news/2015-12-06/lemmy-i-m-sick-of-being-asked-when-i-m-gonna- die).

Also passt auf, ihr Schwätzer, Schwafler, Schnattermäuler, ihr aasfressenden Würmer aus dem dunkelsten Erdreich: Die letzte lebende Ikone im Rock 'n' Roll hat euch etwas mitzuteilen: „Für ALLE Mitglieder der Medien, die sich im neuzeitlichen Jagdsport 'Promi-Todesgerüchte-via-Internet-streuen' engagieren: Wir hoffen, ihr fühlt die Schande und Schäbigkeit eurer 'Arbeit'“, so Motörhead diesen Dezember via Facebook. Genug gesagt. Nur das Beste zu deinem 70. Geburtstag, oh ehrwürdiger Lemmy. Wir hoffen du langweilst dich nicht zu sehr, wenn du den ersten Atomkrieg überlebt hast.