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You Need to Hear This

Festival-Auslandsspionage auf dem Flow Festival in Helsinki

Was machen die Finnen besser und warum? So war das Flow Festival 2013.

In Finnland verteilen sich durchschnittlich 15 Menschen über einen Quadratkilometer. Fünf-zehn! Kein Wunder, dass diese Nation zwar den einen oder anderen brillanten Todesmutigen hervorbringt, der sich aus lauter Langeweile und Vereinsamung eine Skisprungschanze herunter stürzt, aber es noch niemals eine finnische Fußballmannschaft bis zur EM- oder WM-Endrunde geschafft hat. Eigentlich das ideale Habitat für Berlinflucht und Autismuspflege, aber da Noisey trotz allem doch noch eine Musikseite ist, besuchte ich nicht das finnische Hinterland, sondern das Flow Festival in Helsinki. Da trifft man übrigens auf kleinerer Fläche auf mindestens 20.000 Leute.

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Dabei war das alles mal viel kleiner, doch seit das seit 2004 existierende Festival vor vier Jahren auf das Gelände eines ehemaligen Kraftwerks gezogen ist, entwickelt sich der Spaß zu einem der großen und, ähem, ausstrahlenden Festivalereignisse Europas. Das erklärte mir jedenfalls eine nette Dame mittleren Alters, kaum hatte ich die Besucherschleuse durchschritten. Es stellte sich heraus, dass sie sich als Teil des Flow-Komitees um so Neugierige aus dem Ausland wie mich zu kümmern hatte. Viel interessanter aber: Sie jobbte früher als eines der Baikonur Girls im Tross der Leningrad Cowboys. Das sind Glamour-Referenzen, von denen ich mich bereitwillig einwickeln lasse. Ich erfahre weitere Fun Facts, so zum Beispiel, dass es nach dem Umzug auf das Kraftwerkgelände erstmal nicht genug Strom für sämtliche Bühnen gab—ironisch! Ich fühle mich schließlich mit ausreichend Basiswissen versorgt, um zu beginnen mit:

Tag 1

Mit Entsetzen muss ich feststellen, dass ich meine stets auf Festival-Expertise und hoch gehaltenes Berufsethos schließen lassenden Profi-Ohrstöpsel im Hotel vergessen habe. Glück im Unglück: My Bloody Valentine spielen erst morgen. Heute beginnt die Tour mit Atom TM, der sich an diesem sonnengefluteten Freitagnachmittag in einem bestuhlten Bühnenbunker verschanzt und vor sitzendem und schwitzendem Auditorium um Haltung bemühte Glitchmassaker und fröstelnden Proto-Electro aus seinen magischen Maschinen herausföhnen lässt. Charmant: Der kleine Vocoder-Kniefall vor den Sonntags-Headlinern Kraftwerk, in dem sich Timberlake auf ,Give us a fucking break‘ reimt. Die Leute quittieren die kulturkritische Chuzpe mit Johlen. Die zweite Strophe ging dann so:

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Des weiteren inszeniert sich Meister Schmidt Visual-seits als 8bit-Dylan und updated den hinlänglich bekannten Buggles-Klassiker in „Internet killed the Video-Star“. Eine hohe Latte schon mal, über die der Rest des Tages jetzt drüber muss. (7/10)

Ich halte bei Autre Ne Veut an, der sich optimal assimiliert, denn er spielt in konsequent schwarzer Montur im gleichfalls schwarzen Zelt. Die Performance—hochgradig leidend, spitz-falsettig und ultra-dramatisch, was sofort auch auf die Publikumsstimmung überschwappt. Neben mir ein Pärchen. Sie versucht ihm in greller Stimme zu Verstehen zu geben, dass sie das Dargebotene als gelungenen, ans Eingemachte gehenden Alternativentwurf zu den an der Oberfläche der Soulsoße schwimmenden Kandidaten wie Usher oder John Legend einschätzt. Sie redet wirklich sehr laut, immerhin verstehe ja sogar ich jedes Wort. Ihr Typ legt ihr nahe, doch ein paar Dezibel runterzufahren, woraufhin sie ein „Why don‘t you just tell me to shut up?!“ zischelt und wutentbrannt ein paar Reihen weiter nach vorne stampft. Nach dem für die drittgrößte Festivalbühne auf Setlänge doch etwas zu zähen Material und all dem zerbrochenen Porzellan gilt es schleunigst noch etwas Nachmittagssonne zu tanken, um wieder spitze drauf zu kommen. (6/10)

Doch für langes Faulenzen bleibt keine Zeit, denn es reitet bereits Kendrick Lamar auf einer Basswelle Richtung Center of the Hauptbühne. Die Causa live-Lamar wurde auf dieser Seite hier und hier bereits durchgekaut, der Flow-Auftritt liefert leider keinerlei Indizien dafür, dass sich Kendricks Big Band in den letzten Wochen um etwas mehr Tightness befleißigt hat. Jeder holpert so vor sich hin und der Soundmann muss im Niedrigfrequenzbereich schlichtweg taub sein. Anders ist der Bassbrei nicht zu erklären, gegen den Lamars kleine, von Back-up-Gnaden entsagte Stimme kaum etwas auszurichten vermag. Vielleicht beim nächsten Mal doch lieber nur mit dem kleinen DJ-Besteck. (4/10)

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Es ist beim Flow wie auf jedem guten Festival: man hat die Qual der Wahl.

Apropos Besteck—ich hab Hunger. Ausgerüstet mit einem Abendsnack nähere ich mich Cat Power. Diese setzt ihren öffentlichen Auto-Exorzismus der laufenden Tour also auch auf den Festivalbühnen fort. Auch mit gutem Willen kann man ihren Kampf um den Song in manchen Momenten einfach nicht richtig gut finden, man ist zu sehr mit der Hoffnung beschäftigt, sie möge im nächsten Moment nicht aus ihrem eigenen Lied herausfallen. Aber sie schlingert und schwitzt und beißt sich durch, bis ans Ende. Ihr Set fühlt sich ein bisschen wie finnische Sauna an—währenddessen ist es die Hölle, aber die Effekte sind dann doch sehr heilsam. Für Chan Marshall selbst und auch für die, die ihr wirklich zuhören. Und außerdem: „Metal Hearts“ wird erst in dieser desolaten Kondition, getrieben von der zermürbend durch laufenden Double-Bassdrum, als blinder Tanz am Abgrund, zu dem Song, der es immer sein sollte. Allein dafür führte an ihrer Bühne heute kein Weg vorbei. (<3 10)<="" b="">

Anschließend entert Alicia Keys die Hauptbühne, mit Hütchen und Bustierchen und Pagenköpfchen. Deutet „Empire State of Mind“ an. Süß und so, aber nicht das, was man jetzt gebrauchen kann. Ich lasse Maya Jane Coles gegen den nachhallenden Power-Blues antreten. Sie spielt ein überraschungsfreies, aber natürlich effektivst bouncendes, von UK-House gefärbtem Peaktime-Bumms ausgehendes Set, das sich immer wieder in konkrete Rave-Spitzen hochscheppert. (6/10)

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Ich fühle mich eingestellt für den heimlichen Headliner des Abends: Moderat. Sie spielen hier eine der ersten Shows mit neuem Material. Und sie spielen dieses Zeug runter als hätten sie schon Monate mit der Bühnen-Optimierung ihrer auf Platte ja so in sich versunken wirkenden Tunes verbracht. In dieser Halle öffnen sie sich plötzlich für den großen Ekstase-Boost. Apparat-Sascha agiert im Schattenriss so zerzaust wie der Beethoven des IDM, singt elfengleich und bedient auch mal die E-Gitarre, Szary berlinert gelegentliche Ansagen zusammen und Gernot verlegt sich aufs stille Brettern. Zwischendurch auch mal Interaktion zum Kippentausch. Hinter den Dreien flackern Visuals mit 3D-Effekt (ohne Brille!), die insbesondere beim synchron laufenden „Bad Kingdom“ Clip für hunderte offene finnische Münder sorgen. In ebenjene floss im Tagesverlauf auch jede Menge Alkohol und entsprechend kippt die Stimmung so langsam ins Hooligan-hafte. Macht aber nichts, dieser kultiviert pumpende Gefühlsabriss legt sich wie Balsam auch über die finnische Säuferseele. Definitiv der Höhepunkt des Tages. (9/10)

Tag 2

Im Backyard schüttelt Jimi Tenor erstmal good vibes aus dem lachsfarbenen Sacko-Ärmel. Zu seinen Querflöten-Soli werden von seinem Soulsister-Sidekick elementare Parolen der Völkerverständigung wie „no more pain, no more suffering, no more anger“ in den finnischen Nachmittagshimmel entsandt. Ich fühl mich ganz hippiemäßig.

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Der Himmel lässt dann auch gleich die Sonne durch, als Woods die Bühne betreten. Sie spielen in einem kleinen Amphitheater, stets in der Angst performend, von einem überdimensionalen Golfball erschlagen zu werden. Ihr Auftritt kommt natürlich trotzdem gewohnt lässig rüber und projiziert mühelos über das surreal modernistische Ambiente den eigenen immer wieder willenlos machenden Psych-Folk-Fiebertraum. Das geht schon wieder alles super los. (8/10)

Keine Ahnung, ob es nur an mir liegt, aber es scheint eine besondere Erwartungsgeilheit hinsichtlich des My Bloody Valentine-Gigs in der Luft zu liegen. Als ich mich einfach mal irgendwo hinsetze, wird die Band um mich herum expertenhaft diskutiert. Und nur kurze Zeit später kreuzt ein Typ in bunten Socken meinen Weg, der gestikulierend seiner Begleitung, die die Band nicht kennt (SIE KENNT DIE BAND NICHT!!!), die Entstehungsgeschichte von Loveless näher bringt. Inkl. vokaler Soundnachbildung und Luftgitarrensoli. Es werden auch überall Schildchen aufgehängt, um die Vorfreude noch ein wenig aufzupeitschen (oder um sich vor Regressforderungen zu schützen).

Der Auftritt findet dann tatsächlich auch statt, ohne jedoch ein Jahrhundertereignis zu werden. Ich zähle 18 Saiteninstrumente auf der Bühne und mindestens genau so viele Verstärker. So laut ist es dann irgendwie gar nicht, oder ich bin wegen der Frequenzgewitter sämtlicher Swans- und Manowar-Konzerte meines Lebens hörakustisch schon total abgestumpft, keine Ahnung. Das richtige Wort für die heutige Klangleistung der Shoegaze-Titanen ist vermutlich: amtlich. Die Songs vernebeln reizend in ihren eigenen Feedbackschichten, Kevin Shields gibt sich brummbärig. Bilinda Butchers hält mit Engelscharme dagegen. Also an sich alles so wie man es sich wünscht—Noise-Renitenz, aus der ein Feuerball ewiger Liebe seine Flammen züngeln lässt, und trotzdem hätte man sich den einen oder anderen Adrenalinschub mehr erhofft. Eine Wucht natürlich das große Finale mit „You Made Me Realise“ inklusive extra-langem Staubsaugerpart, für das am Mischpult nochmal ein, zwei dB drauf gelegt werden. (7/10)

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Die My Bloody Valentine Show aus Genre-typischer Perspektive.

Kaum hat sich die letzte Reverbschwingung gelegt, tritt auch schon Nick Cave auf die Hauptbühne. Um es gleich vorweg zu nehmen: Er wird nicht davon herunter fallen, obwohl er immer wieder in halsbrecherische Kapriolen am Bühnenrand verfällt, auf den Absperrgittern herumbalanciert, sich in die zu Dutzenden ihm entgegen gestreckten Jüngerarme fallen lässt, die dazu gehörigen Hände an sein Herz drückt, über kleine tückische Bühnenbau-Abgründe hüpft—und das alles im Taumel der Altersekstase. Nicht dass wir uns falsch verstehen, obwohl die Band mittlerweile aus bildschön gealterten Greisen besteht (hier besonders herauszuheben: Teufelsgeiger, Faltenacker und Rauschebart Warren Ellis), liegt kein Rheumasalbenaroma über der Arena, hat dieser Tanz absolut nichts Steifes und nichts Betagtes an sich. Im Gegenteil, Nick Cave, so verflixt adrett den Mut zum Helge Schneider in seinen Klamotten ausstellend - er sportet Satinanzug mit Bootcut-Bein und weit aufgeknöpftes Nylonhemd mit Monsterkragen - scheint sich gerade erst in die Klimax seiner Coolness aufzuschwingen. Sie spielen das Beste vom immer noch wachsenden neuen Album und fast alle Klassiker, die man sich wünscht. Es geht von Stecknadel-still bis zum großen elysischen Rauschen. Es ist ein messianischer, ein triumphaler Auftritt. Nick Cave ist King, der Abend kennt seinen Meister. (10/10)

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Tag 3

Was, Flow, soll denn jetzt noch kommen? Erstmal kommen jede Menge Kids aufs Festivalgelände, denn heute ist Familientag.

Musikalische Früherziehung. Er hier hat den Spaß seines Lebens.

Kurzzeitig hat es den Anschein, einer der kleinen Scheißer hätte sich auf die Bühne des Black Tent gemogelt, aber das ist bei genauerer Betrachtung tatsächlich Angel Haze, dieser streetsmarte Dreikäsehoch, der interessanterweise in letzter Minute auf das Line-up gebucht wurde, nachdem Erzrivalin Azealia Banks ihren Auftritt absagte. Haze gibt eine halbe Stunde Vollgas. Schlurft im präzisen doubletime-flow durch das Publikum, überlässt ihre auf den Punkt agierende Rhythmussektion immer wieder sich selbst und widmet sich der Fanbindung bis über die Zeltschwelle hinaus:

Da kann man ohne weiteres jede Menge Props geben. Und Kendrick Lamar kann hier noch was lernen. (7/10)

Da ich mich jetzt ohnehin nur noch im Cripwalk über das Gelände bewege, trifft es sich gut, dass direkt im Anschluss Public Enemy die Hauptbühne entern und beginnen, sämtliche Live-Show-Register zu ziehen. Das ganze hat mit einer Rap-Show im klassischen Sinn nichts mehr zu tun, es wird vielmehr die Aufnahme der Crew in die Rock‘n‘Roll Hall of Fame verargumentiert—und zwar mit allem, was dazu gehört. Sie lassen ihr S1W-Söldnerballett aufmarschieren, sie feuern einen Hit nach dem anderen raus, Flavor Flav bounct Flummi-haft über die Bühne, bis hinein ins Publikum, entreißt seiner perfekt eingespielten Band immer wieder die Instrumente, beginnt den Bass zu zupfen und am Drumkit durchzudrehen. Dann DJ-Pause, in der DJ Lord mit „7 Nation Army“ eröffnet und anschließend „Smells Like Teen Spirit“ in mikroskopisch kleine Teile zercuttet und in beinahe Lichtgeschwindigkeit in Breakcore-Geballer ausarten lässt. So altbacken der Public Enemy-Sound vor allem dann klingt, wenn er durch die Crossover-Hölle geht, sie stecken die meisten Nachgewachsenen auf der Bühne immer noch mit links in die Tasche. (8/10)

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Die leicht versetzt spielenden Godspeed You! Black Emperor darf man wohl mit Recht das Kontrastprogramm nennen. Das Gravitätszentrum ihres Sounds verlangt die absolute Aufmerksamkeit und bremst das Grundtempo dieser Veranstaltung auf die Geschwindigkeit der Erdrotation. Kann man sich darauf einlassen, erlebt man eines der besten Konzerte des Tages. Kann man es nicht, geht man wohl besser weiter zu Haim. (Ich war nicht bei Haim). (7/10)

Versuche, mich danach unter der Disclosure-Hitdusche wieder auf Festivalspaß zu trimmen, aber keine Chance, das Zelt ist voll. Bewege mich also dorthin, wo gleich die DNS für sämtliche Disclosures dieser Welt rekapituliert wird—zu Kraftwerk, die tatsächlich nicht nur mit ihren Taschenrechnern angereist sind, sondern mit einem ganzen 3D-Kino.

Was hat der Typ in der Mitte für ein Problem?

Im Verlauf der Show, in der natürlich kein Bug zu finden ist, in der sogar „Radioactivity“ auf Fukushima updated wird, in der einem die Binärcodes bis an den Brillenrand fliegen, man bei „Wir sind die Roboter“ meint, vom Projektions-Ralf Hütter gleich eine geklatscht zu kriegen und man im VW Käfer in gemäßigtem Tempo über die Autobahn zuckelt, werde ich ein bisschen sentimental und beneide die Zeugen der guten alten Zeit, in der man noch all diese naiv-romantischen retro-futuristischen Flausen haben konnte. Es wurde ja bekanntlich alles viel schlimmer. Kraftwerk sind hier und heute ihr eigenes Museum, die Märchenonkel, die mit den alten Schinken immer noch einen veritablen Rave starten können, deren Songs von Gestern das Heute nicht haben kommen sehen und es trotzdem besser reflektieren als vieles, was sich in den entsprechenden Genres der Gegenwart herumtreibt. Und sie sind der würdige letzte Akt eines überaus gelungenen Festivals. (9/10)

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„Good night und auf Wiedersehen“ hört man Hütter ganz am Schluss. Dem kann man sich nur anschließen. Bis zum nächsten Mal, Flow.

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