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Interviews

Ein ewiges Auf und Ab: Der Siegeszug des Kurt Vile

Mit seinem sechsten Album hat es Kurt Vile auf den Mainstream-Durchbruch abgesehen. Wir haben mit ihm einen Tag lang ein Piano transportiert, um herauszufinden, ob das möglich ist.

„Ich bin besser geworden bei Interviews“, sagt Kurt Vile und nippt an seinem Bier. Doch er spricht nicht mit mir—er spricht mit seinem Bruder Paul am Telefon. Es ist spät abends unter der Woche und ich habe gerade den ganzen Tag mit dem 35-Jährigen verbracht. Jetzt trinken wir Bier—er genießt ein Guinness und ich ein Budweiser. Obwohl wir in einer trashigen Absteige in Greenpoint gelandet sind, die wahrscheinlich gegen mehrere Gesundheitsverordnungen verstößt, schmeckt das Bier besonders gut. Denn wir haben den Tag mit Schwitzen verbracht. Viel Schwitzen.

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„Ja, Mann, und ich bin jetzt schlauer geworden“, sagt Vile, zwinkert dabei und lacht anschließend—naja, er lacht nicht unbedingt, es ist mehr ein Kichern; etwas, das ich nach unserem gemeinsamen Tag bei mir unter dem Vile Smile abgespeichert habe. Das Vile Smile geht in etwa so: Es beginnt an den äußeren Rändern seines Mundes, während er irgendwie gleichzeitig ein- und ausatmet und seine Lippen bewegt, als würde er auf einem Kaugummi kauen; das Lachen kriecht heraus, bevor er zu Ende bringen kann, was auch immer er sagt. Es klingt ein wenig so, als würde er an einem Strohhalm schlürfen—und seine Schultern zucken, naja, sehr häufig. „Ich sage: ‚OK, du willst mich interviewen?‘“, fährt er am Telefon fort. „Ich muss dieses Klavier aus Rockaway Beach holen. Du kannst mir dabei helfen.“

Ach ja, das Klavier. Das ist auch Teil der Geschichte, nehme ich an, denn ungefähr sieben Stunden vor diesen Bieren hat Kurt mich an einem kleinen Piano rumkommandiert und wir haben es über einen Holzboden geschoben, den wir nicht zerkratzen wollten (keine Sorge: haben wir auch nicht).

Aber erstmal geht es um Kurt Vile, die selbsternannte Hitmaschine und musikalisches Wunderkind aus Philadelphia—ein Mann, dessen Haare bis zur Mitte seines Rückens reichen; ein Mann, dessen Musik angenehm und vertraut ist, gleichzeitig aber auch irgendwie herausfordernd; ein Mann, der in seiner Karriere schon so manches mal am Scheideweg stand. Viles Musik zeigt, dass er die Nuancen des menschlichen Daseins versteht—oder zumindest greifen kann, warum es für uns alle auf und ab geht—und das auf eine Weise, die viele Künstler heutzutage nicht einmal vorgeben. Er erschafft verwirrende Musik, die dich auf deine Schuhe starren lässt, um herauszufinden, warum du Schuhe tragen musst. „Das Leben ist endlich“, sagt er. „Es gibt all diese Belohnungen und Konsequenzen. Manchmal weißt du sie zu schätzen und manchmal hauen sie dich um. Ich denke, jeder fühlt das und es geht die ganze Zeit auf und ab“. Er wird leiser. „Vielleicht habe ich stärkere Tiefs als andere.“

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Vile hat gerade sein Opus veröffentlicht: eine Platte namens b’lieve i’m goin’ down, eine Kulmination von allem, was Kurt Vile bis zu diesem Moment definiert hat, und die von der Kritik gefeiert wird. Alle wichtigen Medien haben die Platte gelobt—auf Pitchfork wurde sie als „Best New Music“ ausgezeichnet, die New York Times hat geschrieben, dass sie voll von „bescheidenem Charme“ und „ergreifender Traurigkeit“ ist und Grantland ist mit mehreren tausenden Wörtern der Frage auf den Grund gegangen, ob ihn diese Platte „auf das nächste Level bringen“ würde. Auf Tour hat er gerade ausverkaufte Konzerte in der berühmten New Yorker Webster Hall gespielt—etwas, was er schon immer machen wollte, aber von dem er nie wirklich wusste, ob es mal so weit kommen würde. „Ich habe immer davon geträumt, dort zu spielen“, sagt er, bevor er mir eine Geschichte darüber erzählt, wie er 2007 einmal für ein Konzert von Animal Collective von Philadelphia nach New York gefahren ist. „In diesem Laden herrschte so eine Energie. Ich wollte das. Ich brauchte das.“

Mittlerweile ist er angekommen, sowohl in der Webster Hall als auch mit einer potentiellen Mainstream-Platte, und es scheint, als würde alles gut für ihn laufen. Richtig? Naja, vielleicht.

Die Geschichte der Entstehung von b’lieve i’m goin’ down unterscheidet sich nicht groß von der der vorherigen Vile-Veröffentlichungen. Aber der Druck bei dieser Platte ist größer als jemals zuvor. Vor fünf Jahren wäre die Vorstellung, dass Vile Indierock im Mainstream repräsentieren könnte, eine ziemlich abwegige gewesen—seine frühen Platten waren teilweise fast unhörbar, da er so stur darauf beharrte, dass sie möglichst roh klingen, als wären es Demoaufnahmen. Aber mit seinen letzten beiden Alben Smoke Ring for My Halo und Wakin’ on a Pretty Daze und jetzt natürlich mit b’lieve i’m goin’ down hat Vile das wieder gerade gerückt und präsentiert sich in einem Sound, der genauso anspruchsvoll wie hörerfreundlich ist. Hör dir nur den einerseits eingängigen aber dennoch an einen Fieberwachtraum erinnernden Song „Pretty Pimpin“ an.

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„Mit jeder Platte klappt es ein bisschen besser bei mir“, sagt Vile. „Ich bin froh, dass ich diesen Song habe, denn ich brauchte einen Kracher, der hoffentlich viel im Radio gespielt wird.“

Über die Platte wurde gesagt, dass sie düsterer als seine übrigen ist—hauptsächlich, weil er sie spät nachts aufgenommen hat—, für meine Ohren klingt sie aber wie etwas, das reifer und irgendwie auch besserwisserischer ist. Viles Musik baut auf Gegenüberstellungen auf—und ist das nicht auch das Menschlichste aller Gefühle? „Sometimes I talk too much but I gotta get it out“, singt er bei „Wheelhouse“, „but I don’t wanna talk, I only wanna listen.” Vile betont wie alle postmodernen Schreiber die Monotonie, der wir mit unserer täglichen Existenz ausgesetzt sind, zwischen Hochgefühl und Todeswunsch hin und her schwankend, je nachdem mit welchem Fuß wir zuerst aufgestanden sind (auch wenn es der gleiche war wie gestern). Er erzählt mir, dass er Material für mehr als zwei Platten hat. „Ich habe extra viel aufgenommen, weil ich will, dass diese Platte richtig einschlägt.“

Viles Wurzeln hängen außerdem mit denen einer weiteren erfolgreichen Rock’n’Roll-Geschichte der jüngeren Zeit zusammen (dies zu schreiben, fühlt sich in der derzeitigen Ära der Musik komisch an): The War on Drugs, eine Band, die durch ihr 2014er Album Lost in the Dream großen Erfolg hatte. Der Hauptsongwriter und Frontmann der Band Adam Granduciel ist ein ehemaliges Mitglied von Viles Band The Violators und er und Vile haben einen Großteil ihrer 20er zusammen verbracht, sich selbst in Häusern, Bars und Studios in Philly eingeschlossen, aufgenommen, Musik gemacht und waren kreativ. Das war die Zeit, in der Vile sich eingebildet gab, sich als „Hitmaschine“ bezeichnete und behauptete, der beste Gitarrist der Stadt zu sein. 2011, nachdem Granduciels Band erste Erfolge hatte, haben sich die Wege der beiden getrennt, da sie sich auf ihre eigenen Projekte konzentrieren wollten. Laut Vile—der mir dies in unseren Interviews einige Male selber gesagt und sich auch gegenüber anderen Publikationen in den letzten Jahren dazu geäußert hat—gibt es kein böses Blut. Das ist klar. Die zwei sind immer noch Freunde und er spricht sehr anerkennend über Granduciels Erfolg („Er datet sogar jemand Berühmtes!“). Es scheint, als wäre zwei Freunden, die das Potential des jeweils anderen erkannt haben, sich zu einem gewissen Teil darüber klar geworden. Du kannst nicht anders, als dich für jemanden zu freuen, der dir wichtig ist, richtig?

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Aber an diesem Spätsommerabend Anfang September—vielleicht liegt es an den drei oder vier Bier, die wir schneller als gewöhnlich runtergestürzt haben—merkt man schnell, dass … dort etwas ist, wenn Vile über Granduciel und seinen Erfolg mit The War on Drugs als Indiegröße spricht (in derselben Woche, in der Vile in der ausverkauften Webster Hall spielt, spielt Granduciels Band in der doppelt so großen Radio City Music Hall). Ich würde es nicht Neid nennen, denn das ist es eindeutig nicht. Es ist eher eine Art Sehnsucht. „Ich habe mich so sehr gefreut für [The War on Drugs], aber es hat meine Psyche durcheinandergebracht. Ich war immer eine Art Arbeiter-Typ; ich musste meine Nische finden. Ich kannte meinen Weg einfach nicht, weil es so ein eigensinniges Lo-Fi-Psychedelic-Ding war. Ich denke, meine Psyche ist nicht bereit dafür, so großen Erfolg zu haben. Und das muss ich auch nicht. Die Dinge können so schnell groß werden. Eines Tages würde ich gerne in einem Stadion spielen—und vielleicht habe ich eines Tages alles zusammen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es vor tausenden Leuten vermasseln muss; das ist Teil des Charmes.“

Der Tag fing damit an, dass wir vom Rockaway Beach mit dem sogenannten „KV Van“ nach Greenpoint fuhren und ein Piano auf der Ladefläche festzurrten, das wir davor eine Stunde lang mühsam herumgewuchtet hatten. Der Van, in dem Vile früher getourt ist, ist mit jedem erdenklichen Klischee eines Musikers gefüllt—Kassetten, CDs, CD-Rs, leere Plastiktüten, ein paar alte Converse-Schuhe, Effektgeräte. Es riecht wie in einem Plattenladen, aber in einem, der sich auf gebrauchte Platten spezialisiert hat, mit einem alten Typen als Besitzer, der wahrscheinlich kein Geld verdient. Um dieser Alternative-Rock-Fantasie noch mehr Leben zu verleihen, gibt es noch einen Stapel Bücher auf dem Rücksitz. Welches Buch liegt oben? Michael Azerrads legendäre 80er-Rock-Geschichte Our Band Could Be Your Life.

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Vile sitzt am Steuer und trägt Shorts (bzw. eher abgeschnittene Jeans)—ein seltener Anblick. Er trägt ein blaues Trucker-Cap und knallrote Strümpfe. Keine Sonnenbrille. Zwischen ein paar Bissen seines mitgebrachten Mittagessens, bestehend aus Kartoffelsalat und einem Sandwich, erzählt er von den Aufnahmen zu b’lieve i’m goin down mit Produzent Rob Schnapf in Los Angeles. Schnapf ist für seine Arbeit mit Alternative-Größen wie Beck, Elliott Smith und anderen berühmt. „Ich habe die ganze Nacht durch aufgenommen, stundenlang, bis es perfekt war“, sagt er. „Ich will immer etwas beweisen. Ich treibe mich immer an. Dabei fühle ich mich so übermütig, gerechtfertigter Weise, aber dann sitzt du ewig an einer Platte und du bist dir nicht mehr sicher und zweifelst selbst.“

Wir machen Witze über vermeintliche Sellouts und wie es heute überhaupt noch möglich ist, Geld zu verdienen. Er erzählt die Geschichte eines namenlosen Kollegen, der eine Menge Geld dafür bekommen hat, dass seine Musik in einem Werbespot läuft. Ich habe unfairerweise angenommen, dass Vile jemand ist, der die Idee des kommerziellen Amerikas ablehnt, weil er aus der Ferne heraus betrachtet, wie einer der Typen aussieht, die auf das System scheißen. Es stellt sich allerdings heraus, dass er durchaus jemand ist, der absolut nichts dagegen hätte, Geld von diesem System zu nehmen. Hofft Vile, dass seine Platte ihn reich macht? Will Vile überhaupt reich sein?

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„Ich mag die Vorstellung, Geld zu haben. Ich habe kein großes Haus, aber ich möchte eins. Vielleicht besorge ich mir eins, wenn ich mich danach fühle!“ Er lacht und ahmt dann die Stimme eines Sprechers aus einem Werbespot nach: „Coca Cola ist wirklich schlecht für dich, aber es ist lecker und es ist mir egal!“

Er benutzt sein iPhone als Navi und ist ein wirklich guter Fahrer (etwas, das er später noch mehr beweisen wird, als er dieses Monster eines Vans in einer dicht besiedelten Gegend Brooklyns einparkt). Der Soundtrack zu unserer Fahrt ist Groupers neuestes Album Ruins, eine schrecklich melancholische Wahl für einen sonnigen Nachmittag. Das ist ihm egal. Er „liebt es, verdammt nochmal“.

Ich frage nach dem Klavier, in der Annahme, dass dahinter irgendeine besondere oder sogar mythische Geschichte steckt—wegen der er nach New York fahren und mich mitnehmen muss, um ihm beim Schleppen zu helfen.

„Äh, nicht wirklich“, sagt er. „Es ist von 1910 oder so. Ich mag, wie es klingt. Und wenn ich einmal etwas im Kopf habe, dann brauch ich es. Ich bin einfach so, was etwas merkwürdig ist.“

Vielleicht wird b’lieve i’m going down tatsächlich Viles Moment. Zurück in der Bar frage ich ihn, ob er denkt, dass die Platte erfolgreich sein wird.

„Ich hoffe, dass sie Erfolgt hat“, sagt er und wieder ist das dieses Vile Smile, das gleichermaßen verlegen und charmant ist. Wenn du seine Musik hörst, würdest du denken, dass Vile die Art von Mensch ist, die nicht gerne viel redet—jemand, der einfach immer den Blickkontakt vermeidet und nach einer Ausrede sucht, sich aus einer Unterhaltung zu befreien: ein introvertierter Typ. Aber es ist genau das Gegenteil. Vile ist herzlich und gastfreundlich, stellt einem genauso viele Fragen wie man ihm. (Nach ein paar weiteren Bieren fängt er an, mich über die Mechanismen des Musikjournalismus zu befragen; ich versichere ihm, dass er daran nicht wirklich interessiert ist.) „Weißt du, ich denke, dass sie ein bisschen Erfolg haben wird. Das weiß ich. Es liegt definitiv… ein Gefühl in der Luft“, sagt er, bevor er leiser wird. Ich setze zu einer weiteren Frage an und er stoppt mich, da er seinen Gedanken zu Ende bringen will. „Ich will es nicht zu sehr heraufbeschwören.“

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Ich kaufe ihm das nicht ab und lasse ihn das auch wissen, indem ich andeute, dass es offensichtlich ist, dass er sauer sein wird, wenn sich die Platte nicht gut verkauft, und er sich nicht darum sorgen müsse, in diesem Interview bescheiden zu sein.

„OK, also gut. Wenn jeder Song so klingen würde wie ‚Pretty Pimpin‘, das sage ich dir, dann würde sie einschlagen—es sein denn, die Welt ist irgendwie manipuliert“, sagt er, bevor er sich nach vorne lehnt und direkt über dem Diktiergerät und gegenüber den drei anderen Leuten auf der anderen Seite der Bar verkündet: „Wenn sie nicht erfolgreich ist, dann bin ich angepisst! Angepisst!“ Er nimmt siegesgewiss einen Schluck von seinem Bier und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Mit Ende 20, hatte ich eine kurze Zeit die Sorge, dass ich es nicht schaffen würde, aber sieh mich jetzt an.“ Er lacht. „Wie habe ich es da durch geschafft? Ich weiß es nicht. Ich habe ein paar meiner besten Sachen überhaupt geschrieben.“

Irgendwann behaupte ich, dass seine Musik jede Stimmung verstärkt. Wenn du fröhlich bist, wird sie dich ausgelassen machen. Wenn du traurig bist, wird sie dich deprimieren. Er macht eine bedächtige Pause und sieht auf, bevor er antwortet: „Ich habe vorher noch nie gehört, dass jemand das so beschreibt.“ Dann sagt er etwas, das er mir an diesem Tag bereits öfter gesagt hat: „Mann, es ist ein ständiges Auf und Ab mit mir.“

Er fährt fort: „Diese [Platte] wird ebenso eine Projektion meines inneren Selbst und meines inneren Monologs sein. Sie basiert viel auf Melancholie—aber das passiert nur, wenn ich Musik schreibe. Ich sage nicht, dass es eine düstere Zeit war. Liebe ist intensiv und Trauer ist intensiv. Meine Lieblingslieder sind die, die so schön sind, dass du sie unglaublich liebst und immer ein bisschen weinen willst. An bestimmten Tagen kann jeder Song so klingen.“

Vile hört auf zu reden und sieht mich an, streicht sich sein lockiges Haar mit beiden Händen aus den Augen und seinem Gesicht. An diesem Punkt, nach einem Tag voller Klavier schleppen und zu viel schwitzen und darüber nachdenken, was seine Arbeit bedeutet, kann ich nicht anders, als auch zu wollen, dass diese Platte verdammt nochmal einschlägt. Kurt Vile ist, in vielerlei Hinsicht, jede Person, die ich jemals kannte, die sich den Arsch aufgerissen hat, um es zu schaffen.

Inwiefern genau? Ich denke, das bleibt abzuwarten.

„Ich fühle mich gerade gut“, sagt er und zeigt ein letztes Mal seinen Vile Smile. „Ich bin auch ein bisschen betrunken. Ich habe Spaß. Das muss der Alkohol sein!“

Eric Sundermann ist leitender Redakteur bei Noisey-US. Folgt ihm bei Twitter. Jessica Lehrman ist Fotografin aus Brooklyn. Folgt ihr bei Instagram.

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