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Ein Konzert religiösen Ausmaßes—Morrissey in Budapest

„Die Biker-Typen neben mir rutschten mit ihrem Geschrei etwa drei Oktaven nach oben als Morrissey die Bühne betrat. Einigen liefen die ersten Tränen runter.“

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Es ist keine Seltenheit, dass Fans ihre Idole mit etwas Überirdischem verbinden. Wer schon mal Konzerte aktueller (Pop)Stars besuchte, begegnete mit Sicherheit schon dem ein oder anderen Extrem-Fanatiker, der seine Seele für eine Eintrittskarte eintauschen würde. Solche Fans trifft man beispielsweise auf Morrissey-Konzerten. Obwohl Moz alles andere als ein rauf-und runter gespielter Ö3-Musiker ist und somit nicht mit einem Bekanntheitsgrad wie Lady Gaga oder Rihanna gesegnet ist, zählt seine Fanbase zu der loyalsten und intensivsten der Pop-Welt. Darunter sind Menschen, die ihn wie eine Gottfigur anhimmeln und ihre Jobs schmeißen, damit sie keine einzige Show seiner Touren verpassen. Auch mich hat Morrissey in seinen Bann gezogen. Vor allem, weil er bei einer meiner absoluten Lieblingsbands The Smiths eine unverzichtbare Rolle einnahm. Obwohl ich seine Solo-Karriere nicht mit der Faszination seiner Smiths-Zeit gleichsetzen kann, war die Show im nahe liegenden Budapest nichts anderes als ein Pflichttermin für mich. Das Ticket war mit 35 Euro spottgünstig, in Wien würde die Karte mit Sicherheit fast aufs Doppelte kommen.

Ich dachte, dass ich um etwa 16:30 einer der Ersten dort sein müsste und ein guter Platz gesichert wäre. Wie viele würden denn in winterähnlichen Verhältnissen stundenlang vorher vor dem Eingang verharren? Die Realität sah anders aus: Dort angekommen sah ich ein paar Leute vor dem Eingang in ihren Schlafsäcken liegen, mehrfach in Decken umwickelt—schließlich waren es nur ein paar Grad über null.

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Andere tranken Bier, rauchten eine Zigarette nach der anderen und erzählten sich wo und wann sie das erste und letzte Mal Moz live gesehen hatten. Im Hintergrund liefen Morrissey-Klassiker, die aus kleinen, beschissenen Lautsprechern dröhnten und langsam aufs Konzert einstimmen sollten. Waren das die Morrissey-Fans, von denen ich immer so viel gelesen habe? Die meisten unter ihnen waren Engländer, einige kamen aus Frankreich und ein Typ war aus Finnland angereist.

Ein kurzer Blick genügte um den klassischen Fan zu typisieren: Ein messy Pompadour-Look, der etwas an James Dean und Elvis erinnert (Morrisseys Markenzeichen schlechthin), eine ausgewaschene Jeansjacke mit einem riesigen, sich über den gesamten Rücken ziehenden Aufnäher, Zigarette im Mund, hautenge, schwarze Hose und gegebenenfalls eine Brille mit extra fettem Rahmen—ich war also von Pseudo-Morrisseys umgeben. Ich schaute nach etwa einer Stunde zur Hinterseite des Venues, um den Backstage-Eingang ausfindig zu machen. Das war einfach, da man sofort auf weitere Fans stieß, die mit riesigen Fotos und schwarzen Filzstiften auf seine Ankunft warteten. Ich schloss mich an. Gegen 18:00 erzählte mir eine Engländerin, dass Freunde von ihr Morrissey in der Stadt gesehen hätten und er mit einem schwarzen Mercedes unterwegs war. Meistens nehme ich solche Aussagen nicht sehr ernst, aber ein paar Minuten später kam dieser schwarze Mercedes auch wirklich an. Morrissey stieg aus, drehte sich nicht mal um und flüchtete mit einem eiskalten „Sorry“ in den Hintereingang. Die Fans waren nicht wirklich enttäuscht—sie wissen ja alle, wie er tickt.

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Vor dem Eingang hatte sich bereits viel getan—zwei Stunden vor Einlass wurde die Schlange deutlich größer. Abgesehen von den klassischen Pseudo-Morrisseys sah ich Leute aller möglichen Altersklassen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Männeranteil ein wenig größer war. Ich hörte wie ein Typ erzählte, dass er es auf die Bühne schaffen will, um in Morrisseys Arme zu fallen. Angeblich soll Moz jeden mit einer Berührung segnen, der es hinter die Abzäunung schafft. Für mich war es unterhaltsam erwachsenen Männern zuzuhören, wie sie gegenseitig Teenie-Fantasien austauschen. Das ist unter Morrissey-Fans nichts Ungewöhnliches: Es kam schon öfters vor, dass Moz auf der Bühne schon Schmus-Attacken erdulden musste. Die Obsession seiner Fans geht bekanntlich über sexuelle Zuneigungen hinaus. Viele Fans sind so sehr von Morrissey fasziniert, dass sie sich nicht anders als mit Umarmungen und Küssen ausdrücken können, falls sie ihn zu Gesicht bekommen.

Ich schaffte es schließlich in die dritte Reihe, eingequetscht zwischen riesigen Kerlen, die in jeder Biker-Gang als Mitglied durchgehen würden. Im Dunst verschwitzter Typen wartete ich weitere eineinhalb Stunden—die Zeit vertreibte man uns mit einer riesigen Leiwand, auf die Videos von den Ramones, New York Dolls und anderen Musiklegenden projiziert wurden. Um 21:30 war es dann endlich so weit: Morrissey. Die Biker-Typen neben mir rutschten mit ihrem Geschrei etwa drei Oktaven nach oben als er die Bühne betrat. Einigen liefen die ersten Tränen runter. Jedes Mal, als Morrissey den Fans nur ein wenig näher kam, streckten ihm alle—ja, auch inklusive mir— die Hände entgegen und hofften auf Hautkontakt. Irgendwie kam es mir so vor, als wäre eine Berührung das einzige Ziel der Besucher gewesen. Viele ließen sich von der Menge nach vorne und hinter die Absperrung tragen, um so nah wie möglich an ihn ranzukommen. Ein Typ schaffte es tatsächlich an den Bodyguards vorbei und gab Morrissey einen fetten Kuss auf die Wange. Die Securitys hatten es nicht leicht—schließlich mussten sie 30-jährige Teenager im Auge behalten.

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Moz machte alles richtig: Er spielte seine Hits, sang hervorragend und gab besonders viel Lob ans Publikum zurück. Für gewöhnlich normalisieren sich die Euphorie-Schübe der Fans im Laufe der Show—von dem war bei diesem Konzert keinesfalls die Rede. Teilweise war das nervig. Bei echt schönen Nummern wie „Every Day Is Like Sunday“ verdarb das Geplärre von besoffenen Engländern die Stimmung—aber so etwas muss man in den vorderen Reihen aushalten können. Alte The Smiths-Nummern kamen unter den Fans am besten an. Eine von ihnen war „The Queen Is Dead“, ebenfalls ein Klassiker und der perfekte Abschluss einer fast zweistündigen Show. Danach zog er sein verschwitztes Hemd aus und schmiss es in die Menge, was so etwas wie ein apokalyptisches Erdbeben auslöste. Wer es schlussendlich mit nach Hause nahm weiß ich leider nicht. Wahrscheinlich kämpft man heute noch drum. Ich versuchte zum Schluss nochmal mein Glück vor dem Backstage-Bereich, aber als Morrissey rauskam winkte er nur und stieg sofort wieder ins Auto. Einem Fan neben mir hatte allein das fast einen Herzinfakt verpasst.

Morrissey performt im Alter von 56 Jahren nach wie vor großartig und spielte 22 Nummern ohne Unterbrechung runter. Trotz des genialen Konzerts, machte ich mir ein paar Gedanken als ich zurück nach Wien fuhr. Um ehrlich zu sein, haben mich die Fans an diesem Abend ein wenig eingeschüchtert. Kann ich mich eigentlich als Fan bezeichnen, wenn sogar mir so vieles ziemlich merkwürdig vorkam, was während des Konzerts passierte? Irgendwie habe ich mich unter den Hardcore-Lookalikes fehl am Platz gefühlt—ich würde nicht auf die Idee kommen, mein Fantum derartig unter Beweis zu stellen. Ich habe das Gefühl, dass diese Anhänger sich mit fast nichts anderem außer mit Morrissey beschäftigen. Aber das kann ich nicht—dazu habe ich andere Musik viel zu gerne, was mir vermutlich einen objektiveren Blick verschafft. Zugegeben, vielleicht blieb meine Begeisterung ein wenig auf der Strecke, als ich in Morrissey naiver Weise meine The Smiths-Befriedigung suchte und sie nicht völlig erfüllt wurde. Aber das macht nichts, schließlich habe ich mich dadurch mit seinem Solo-Werk befasst und sehe mich nach wie vor als Fan—auch ohne Pompadour-Frisur.

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