Wie es ist, als Technofan am Land aufzuwachsen

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Thump

Wie es ist, als Technofan am Land aufzuwachsen

Ob du Drogen verkaufst, wollen sie wissen. Ohne diese würdest du deine "schwule Techno-Musik" doch nicht aushalten.

Ein Schaf tänzelt auf den dunkelbraunen Brettern des Bierzeltbodens umher und sieht sehr verwirrt aus—sofern man das bei einem Schaf beurteilen kann. Es ist umringt von sich im Kreis drehenden Teenager-Paaren—wohin es auch schaut, nur Lederhosen-Hintern, rosa Dirndl-Dekolletés und Strohhüte. Die augenscheinlich ziemlich betrunkenen Jugendlichen tanzen einen altertümlichen Reigen, bei dem ein mit bunten Schleifchen dekorierter Ast von Paar zu Paar weitergereicht wird: Das Betzenaustanzen. Obwohl ich seit fast 20 Jahren jedes Jahr zusehe, verstehe ich die Regeln nicht. Ich weiß lediglich, dass zwei Tanztalente gewinnen und das Schaf mit nach Hause nehmen. Um mich herum steht das komplette Bierzelt auf Bierbänken, klatscht im Takt der Blasmusik und schüttet Bier auf mich. Ich überlege, ob ich Techno mit Blasmusik kenne, der nicht aus der Feder von Ricardo Villalobos stammt und wann der nächste Bus in die Stadt fährt. Ich nippe verstohlen an meinem Jäger-Bull und versuche, mit meinen Nike Air Max und meinem Zopf nicht aufzufallen. Im Prinzip ist ein Dorffest auch so etwas wie ein Rave, nur eben mit ländlicher Bierzeltmusik statt Techno, Bier statt MDMA und mit Trachten statt Turnbeuteln. Was mich aber stört, ist die kollektive ländliche Abneigung gegen alles und jeden, der Hochdeutsch spricht, keine Lederhose besitzt und aufgeschlossen für Neues ist. Obwohl ich jedes Jahr hier bin, freut es mich, dass ich nicht mehr in diesem 3000-Seelen-Dorf wohne, in dem jeder (außer mir) jeden kennt und über alles Bescheid weiß. Ich weiß lediglich, wie es ist, als Liebhaber des „4/4, Bass und Nebel"-Prinzips, als Techno-Fan in der Provinz aufzuwachsen.

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Musik hören

Klar, wenn du auf Dorffesten eingeladen bist, mach dich auf die schlechtesten Coverversionen von Helene Fischer, Böhse Onkelz und Cora gefasst—aber ein Leben auf dem Land bringt überraschenderweise doch ein paar Vorteile mit sich: Zu Hause kannst du deine 132-bpm-Tracks so lange und so laut hören, wie du möchtest. Es spricht nichts dagegen, mit deinen Freunden im Keller zu sitzen und dir Tracks von Adam Beyer reinzuziehen, während ihr selbstgebastelte Nebelmaschinen testet. Wenn du Pech hast, wohnt aber eine alte, verbitterte Frau neben dir. Grüßt du sie oder fragst, ob ihr Sohn den Schnee beim Schippen vielleicht nicht um dein Auto verteilen könnte, versteht sie kein Wort, sie ist nahezu taub. Allerdings solltest du nach Sonnenuntergang nicht einmal daran denken, den Lautstärkeregler der alten Hi-Fi-Anlage deines Vaters auch nur einen Mikrometer über die leiseste Einstellung zu drehen—sie spürt es. Sie weiß es. Sie wird dich als Terroristen, Junkie oder Schwuchtel beschimpfen—vielleicht auch alles auf einmal—und daraufhin bei der örtlichen Polizeiinspektion anrufen. Die hat sie seit deiner Pubertät sowieso schon auf Kurzwahl.

Sex

Wirst du nicht haben. Versuch doch mal, der Blondine, deren Eltern ÖVP wählen und gegen Flüchtlinge schimpfen, zu erklären was Schranz ist. Außerdem hält dich aufgrund deiner Kleidung und deiner Frisur jeder für schwul.

Dorfjugend

Foto: Flickr / Avarty Photos / CC BY-SA 2.0

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Die Dorfjugend hasst dich, denn du hörst „schwule Techno-Musik" und trägst eine Frisur, die nicht der gängigen Wien-Tag-Und-Nacht-ATV-Norm entspringt. Schwul bist du ihrer Meinung nach ohnehin. Sie haben aber nicht viel Gelegenheit dazu, dich zu beschimpfen. Du triffst sie eigentlich nur Sonntagmorgens, wenn du aus dem Club nach Hause kommst und sie sich mit Bier und iPod-Boxen an der Bushaltestelle betrinken, bevor sie mit ihren Mofas zum Kreisliga-Fussballspiel knattern. Wenn sie von Techno sprechen, geht es um Jan Leyk, David Guetta oder die Ballermann-DJs. Ob du Drogen verkaufst, wollen sie wissen. Ohne diese würdest du deine „schwule Techno-Musik" doch nicht aushalten. Nein? Dann schleich dich, du dumme Schwuchtel, sonst gibts eins in die Fresse!

Drogen

Foto: Imago

Es gibt hier nichts außer Gras. Also fang an zu kiffen und höre dir Sets von Ben Klock an, während du dir vorstellst, wie es wohl im Berghain so ist. Gestalte deine komplette Freizeit mit Kiffen, auf dem Dorf kannst du unter der Woche eh nichts anderes machen. Aber sei vorsichtig, so schön es auch sein kann, mit einem Freund im angrenzenden Wald zu sitzen, oft schaut der Besitzer der Hütte, die ihr belagert, vorbei. Er weiß zwar nicht, was Cannabis ist, aber du wirst verdammte Paranoia schieben. Er wird euch ausgiebig mustern und etwas über „Gummistiefel", „noch nie richtig gearbeitet" und „Seid ihr Schwuchteln?" vor sich hinmurmeln, bevor er akzeptiert, dass ihr eure „komische Vase" nicht liegen lasst und auch den anderen Müll wieder mitnehmt. Am Wochenende gestaltet sich der Drogenkonsum schwierig: Niemand will der nüchterne Fahrer sein, der drei zähneknirschende Sonnenbrillenträger mit nervösen Zuckungen im Auto sitzen hat—und Augen, die röter sind als die arabische Abendsonne. Um im Club Drogen zu kaufen, kennst du dich zu schlecht aus. Du erkennst den Partydealer auch dann nicht, wenn er vor dir steht und dich fragt, ob du Lust hast, heute Nacht Spaß zu haben.

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Transport

Falls du die Öffentlichen benutzen willst: Viel Spaß. Kannst du dir vorstellen, an einem Ort zu leben, an dem es keine U-Bahn oder Straßenbahn gibt? Ein Ort, an dem nur zwei Busse stündlich fahren, Montag bis Freitag? Diese Busse sind deine einzige Möglichkeit, zum nächstgelegenen Bahnhof in einem anderen Dorf zu kommen. Versuche, dir deine Route und die tausend Umstiege perfekt einzuprägen oder schreibe sie auf. Jongliere mit der ÖBB-App und Google Maps. Aufgrund der weiten Entfernung musst die Reise zu einem Zeitpunkt antreten, zu dem auch die jetzt noch betrunkeneren Dorfjugendlichen in die Großraumdisko fahren. Auch wenn sie dir eine „kleine Schwuchtel-Abreibung" anbieten, gib ihnen nichts von deinen kümmerlichen Grasresten ab. Falls du auf dem Heimweg im Zug merkst, dass du deine vorsorglich eingeplanten zehn Euro Taxigeld im Club versoffen hast, versuche genug Energiereserven zu aktivieren und laufe die vier Kilometer nach Hause. Wenn du noch betrunken genug bist, ist dir auch nicht so kalt. Oder du wärmst dich zwischendurch an der Heizung der Raiffeisenbank auf, das einzige Gebäude, das du um diese Uhrzeit betreten kannst.

Clubs

Na gut, da du nicht in der Nähe einer Großstadt wohnst, kannst du wahrscheinlich nur zwischen zwei oder drei guten Clubs wählen. Das Beste dabei: Alle Technofans aus einem Umkreis von etwa 30 Kilometern kommen hier zum Feiern her. Natürlich verbindet es ungemein, wenn andere Menschen genauso oft als verdammte Schwuchtel beschimpft wurden und man dann tatsächlich auch noch dieselbe Musik hört. Niemand kennt diese Clubs mit Platz für gerade mal 150 Leute und die Veranstalter möchten keinen Gewinn erzielen, sondern einfach nur Techno hören. Du bezahlst höchstens fünf Euro für den Einlass, jeder teilt fröhlich sein Gras, denn auch in den anderen Dörfern gibt es keine Aufputschmittel oder andere Chemikalien. Deine Provinzszene ist mehr Underground als jeder Berliner Club, also nicht angesagt-underground, sondern eher verschwindend-klein-underground. Wenn du das dritte oder vierte Mal kommst, kennst du eh schon so viele Leute, dass du auf der Gästeliste stehst. Während dem WarmUp-Set des DJs freundest du dich mit dem Barkeeper an, der dir hin und wieder einen ausgibt und dich als WarmUp-DJ für die nächste Party vorschlägt. Hier ist die Welt noch in Ordnung.

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