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Wir brauchen keine klischeehaften Indie-Rebellen mehr

Die Welt des kommerziellen Rocks ist so abgestumpft, dass selbst Ellie Goulding rebellischer als Liam und Co. ist. Warum stehen wir trotzdem noch auf Typen mit Lederjacke und Sonnenbrille?
Emma Garland
London, GB

„Aus dem Weg, Liam, ein neues Großmaul ist in der Stadt“, stand groß auf dem Titel der NMEs vom letzten Monat (siehe unten). Der Liam, um den es hier geht, ist natürlich der wandelnde Schimpfwortgenerator Liam Gallagher—ein Mann, der so bekannt dafür ist, eine große Fresse zu haben, dass er auf dem Cover eines landesweit erscheinenden Printmagazins noch nicht mal mit vollem Namen genannt werden muss. Die Person, die hier dazu auserkoren wird, ihn als Großbritanniens irrelevantestes Sprachrohr abzulösen, ist Van McCann, Sänger von Catfish and the Bottlemen—einer nordwalisischen Indie-Rockband, die zu 90% aus Hirngrütze besteht. Musikalisch gesehen kommen Oasis und Catfish natürlich aus ganz anderen Ecken, aber Gallagher und McCann bedienen beide diesen einen bestimmten Charakterschlag, der unsere Erwartungen an die Persönlichkeit und die Ästhetik britischer Indie-Rocker nachhaltig geprägt hat.

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Der Rebell—oder „Bad Boy“ wie Van McCann sich anscheinend gerne selbst bezeichnet—ist seit Jahrzehnten einer der dominantesten Archetypen im Bereich der Musik—und der Popkultur im Allgemeinen. Von Elvis und seinem Hüftschwung in den 50ern, über die Punks der 70er, bis hin zum Britpop der 90er, als die Pöbelqualitäten von Bands fast genauso viel zählten wie ihr Rang in den Verkaufscharts. Der Rebell hat einfach immer schon eine signifikante Rolle dabei eingenommen, Rockmusik als Gegenkultur darzustellen—als eine Form des Subversiven. Wenn du an die Klischeerebellen der Musikgeschichte denkst, dann denkst du automatisch an Jarvis Cocker, der Michael Jacksons Performance bei den 1998er Brit Awards gecrasht hat, oder an Mark E. Smith, der davon überzeugt war, dass Jesus U2 eine Flasche über den Kopf ziehen würde, oder Paul Weller, der auf ein Foto von Sting rotzt—die ganzen Stimmen halt, die gegen die herrschende Konformität anschreien und dem Establishment den Mittelfinger zeigen. Oder einfach ausgedrückt: Gitarre spielende Typen mit geringer Frustrationstoleranz.

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Die Wurzeln des Rock sind tief in der amerikanischen Kultur verankert, aber es waren doch eher die britischen Musiker, die Fernseher aus Hotelzimmern geschmissen, sich durch das biedere Vorabendprogramm geflucht und die Rock’n’Roll-Klischees bedient haben, nachdem sie Teil des Mainstreams geworden waren. Es ist also auch kein großes Wunder, dass der Erfolg von Rockbands oft mit dem Image des Typus Mann (es sind ja immer Männer, nicht wahr?) einhergeht, der sich ein 300.000-Euro-Auto zulegt, nur um dann eine Line Premiumkoks von dessen Motorhaube zu ziehen und die Karre dann mit Karacho in DAS SYSTEM zu fahren. Was ich damit sagen will: Rock’n’Roll ist bis heute gleichermaßen „Einstellung“ und „Lifestyle“ wie eben auch ein Musikgenre. In manchen Fällen ist das auch vollkommen OK. Egal, ob Vietnam oder Falklandinseln, ob Reagan oder Thatcher, oder ganz generell konservative Ansichten, die einem in der persönlichen Freiheit einschränken, Rockmusik war eigentlich immer schon eine Protestform. Dementsprechend ist es auch kein Wunder, dass die Posterboys dieser Szene dafür verehrt wurden, Leute anzupissen und hier und da mal ein paar Federn fliegen zu lassen. Aber in wessen Namen versuchen die Frontmänner von heute eigentlich, die Leute anzupissen?

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Wenn man einen Blick auf die Rocklandschaft von 2015 wirft und alldiejenigen ins Auge fasst, die irgendwie als „Rebell“ durchgehen würden, dann gäbe es da Alex Turner und seinen Mic Drop von 2014, Royal Blood und ihren „echte Musik“-Komplex (womit sie lediglich „mit Gitarren gespielt“ meinen) und jetzt halt Van McCan—einen Typen, zu dessen größten Errungenschaften es bislang gehört, „Sperma-Sandwiches“ an ihrem Merchstand zu verkaufen und sich semantisch kaum von Finchy aus der britischen The Office-Variante zu unterscheiden. Sie haben weniger mit Mick Jagger und Keith Richards gemein als mit Tom und Daisy Buchanan aus Der große Gatsby („Sie waren leichtfertige Menschen, Tom und Daisey—sie zerstörten Dinge und Lebewesen, und dann zogen sie sich in ihr Geld oder ihre grenzenlose Leichtfertigkeit zurück oder was immer es war, das sie zusammenhielt.“)

VICE: Punk-Rock VS. Scharia

Das Problem ist aber, dass Rockmusik in dem Moment aufgehört hatte, ein brauchbares Vehikel politischer Rebellion zu sein, als sie, um hier Viv Albertine aus der British Masters-Serie zu zitieren, lediglich zu einer halbgaren Definition für „moderne Musik“ geworden war. Rock wurde einfach vollständig von der Popkultur absorbiert und erfüllt jetzt eine kommerzielle Rolle, die sich kaum noch vom neusten Apple-Gadget und den Kardashians unterscheidet. Pete Doherty war vielleicht der letzte echte Rock-Rebell, den Großbritannien hervorgebracht hat, und sein kulturelles Erbe wurde derartig schnell von der kommerziellen Mainstreamkultur assimiliert, dass es die letzten fünf Jahre den Touristen in Camden Lock nachgeworfen wurde.

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Das, was wir jetzt vor uns sehen, ist ein Pool aus größtenteils weißen, männlichen Künstlern, die sich an den musikalischen und ästhetischen Pfaden orientieren, die die größtenteils weißen, männlichen Künstler vor ihnen schon ausgetrampelt haben. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem einige unserer Lieblingsbands als die rebellische Stimme einer Nation präsentiert werden—nimmt man dann aber die dunklen Sonnenbrillen und die Lederjacken weg, merkt man schnell, dass eigentlich niemand von ihnen wirklich was zu sagen hat.

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Alex Turner kurz vor dem „Drop“

Vielleicht war genau das aber auch schon immer Teil des ganzen Konzepts—James Dean wusste doch auch schon nicht, was er tut. In unserer Post-Internet-Kultur der immer weiter zunehmenden Globalisierung und dem sofortigen Zugang zu unzähligen Musikern, die gegen Grenzen anrennen, die tatsächlich noch existieren, kann man sich schon fragen, warum wir diesen Archetyp eigentlich noch weiter bewundern, der schon lange keinen Sinn mehr erfüllt? Genau deswegen muss dieser Archetyp auch überdacht werden—es muss doch möglich sein, moderne Musik und aktuelle Probleme zu reflektieren, gegen die es sich tatsächlich lohnt, zu rebellieren. In Großbritannien haben wir es zwar mit einer Verschärfung der Porno-Zensur und einem Premierminister zu tun, der offensichtlich das Wort „Tampon“ nicht aussprechen kann, und angesichts solcher Umstände ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Königreich wieder zurück in seine puritanische Verfassung mit einem Stock im Arsch verfällt, was aber den Großteil unseres kollektiven Rechts auf „Sex, Drugs and Rock and Roll“ angeht: Dieses wurde schon vor Jahrzehnten erkämpft. Warum bekommen Bands immer noch metaphorische Lorbeeren dafür, dass sie damit angeben, wie sehr sie sich ständig volllaufen lassen?

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VICE: In London kämpfen Aktivisten mit Beton für Obdachlose

Es ist nicht so, als würde es den Musikern von heute an Dingen fehlen, gegen die sie protestieren könnten. Der meisten britischen Großstädte—am schlimmsten ist es in London—sehen sich sozialen Säuberungen bislang ungekannten Ausmaßes ausgesetzt. Junge Menschen, die Hauptzielgruppe von Bands wie Catfish and the Bottlemen, sind drei Mal so oft von Arbeitslosigkeit bedroht wie jede andere Bevölkerungsschicht—und sollte sich das nicht bald ändern, dann will Arbeitsminister Iain Duncan Smith, dass diese damit anfangen, Müll aufzusammeln, um sich ihre Sozialleistungen auch zu verdienen. Die immer weiter eskalierende, landesweite Armut hat solche Ausmaße erreicht, dass mittlerweile mehr als eine Million Briten zum Überleben auf Lebensmittelspenden angewiesen sind—die reichsten Briten wiederum haben in den letzten zehn Jahren ihren Wohlstand verdoppelt. Ich könnte hier noch weitermachen, aber britische Musiker haben eigentlich genug, wofür es sich lohnen würde, das Maul aufzureißen, anstatt nur zu drohen, in Madonnas Handtasche zu scheißen. Leider nutzen die Meisten von ihnen lieber jede Interviewgelegenheit, um a) über Chris Martin herzuziehen, b) darauf zu bestehen, die Rettung des Rock’n’Roll zu sein, oder c) über Chris Martin herzuziehen. Wenn du jetzt aber glaubst, dass wenigstens die rebellischen Helden unserer Vergangenheit die Flagge weiter hochhalten, dann wirst du wahrscheinlich ziemlich enttäuscht sein, wenn ich dir jetzt sage, dass Roger Daltrey von The Who seine liebe Zeit dazu verwendet, das Boulevardblatt Daily Mail mit Gejammer über das moderne Großbritannien vollzuheulen, und dass die Sex Pistols mittlerweile ihre eigene Kreditkartenserie haben.

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Die Welt des kommerziellen Rocks ist so abgestumpft, dass selbst Popstars diesem ganzen Zirkus in Sachen politischen Engagements weit voraus sind. Von Charlotte Churchs Blogeintrag angefangen, in dem sie für ihr Recht argumentiert, gegen Austeritätsmaßnahmen zu protestieren und sich gegen ihre Kritiker zu wehren, die sie „Champaign Socialist“ genannt haben, über Ellie Goulding, die sich mit dem Stadtrat von Hackney angelegt hat, weil dieser vorgeschlagen hatte, Obdachlose mit einer Geldstrafe zu versehen, bis hin zu Ed Sheeran, der sich gegen die Schließung eines Musikvenues in Gildford eingesetzt hatte, sehen wir immer mehr große Popstars, die Themen ansprechen, die nicht zwingend zu ihrem Image gehören. Dem Gegenüber stehen dann solche Aussagen wie die von Faris Badwan von The Horrors, der der Meinung war, dass, „Wählen etwas für Menschen ist, die keine Vorstellungskraft haben. Es ist für eine andere Generation.“ Und schon hast du sie, die klare Grenze zwischen Musikern, die ihre privilegierte Position dazu verwenden, um auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen, und auf der anderen Seite denjenigen, denen einfach nur alles scheißegal ist, weil sie davon nicht betroffen sind. Am Wahltag schlummerten die Twitter-Accounts der Arctic Monkeys, von Jake Bugg, Kasabian, Catfish and The Bottlemen und Royal Blood alle friedlich vor sich hin, während Großbritanniens durchschnittlichste und bravste Popsängerinnen—Ellie Goulding und Paloma Faith—energisch über die Gefahren einer konservativen Regierungsbildung twitterten.

Wenn wir den Rebell als kulturelle Ikone weiter hochhalten wollen—als jemanden, dessen Gesicht uns von den Covern der letzten Bastionen des Printjournalismus anschaut, dem immer und überall Platz für seine „unerhörte“ Meinung eingeräumt wird—sollte sie dann nicht wenigstens ein klein wenig anders auftreten? Momentan sind sie jedenfalls in etwa so rebellisch wie Sam Smith und Ed Sheeran. Das wäre an sich auch gar kein Problem, würden sie nicht so tun, als wären sie die totale Antithese von allem, wofür Ed Sheeran und Sam Smith angeblich stehen. Das Image, das von Rockmusik in Großbritannien gezeichnet wird, ist so dominant geworden, dass selbst Mumford & Sons ihren Look geändert haben, um sich besser dieser Umgebung anzupassen. Die Lederjacken, die schwarzen Skinny-Jeans, die Wuschelhaare, der nie enden wollende Fluss an Beleidigungen, der zur großen Freude der Medien in einer Art Wettrennen um den Das-großkotzigste-Arschloch-des-Jahres-Award von sich gegeben wird: Das alles wurde zu einer Art Szene-Uniform—einem Anzug, den sich Rockbands überziehen, um genau das zu tun, was alle von ihnen erwarten.

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