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Interviews

Interview mit Chuck Ragan: „Wie kann so etwas Natürliches wie die Liebe zweier Menschen überhaupt verboten sein?“

Chuck Ragan, Sänger von Hot Water Music, veröffentlicht Ende März sein Solo-Album und mischt sich in die weltweite Homophobie-Debatte ein.

Chuck Ragan trug schon Flanell und Bart, als du das noch als Altherrenholzfällerromantik verlacht hast. Der hemdsärmelige Texaner hat mit seiner Band Hot Water Music nicht nur die Punk- und Hardcoreszene der letzten Jahrzehnte mitbestimmt, sondern auch auf Solopfaden die Welle großartiger neuer Folkmusiker mitgeprägt.

Ende März veröffentlicht er sein neues Album Till Midnight. Im Video kannst du schon mal eine Live-Version der ersten Single „Non Typical“ auschecken. Im Juni wird Chuck dann auch für ein paar Shows nach Deutschland kommen. Chuck hat sich mit uns über seine Religion, den typisch deutschen Fan und Selbstverbrennungsrituale unterhalten.

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Noisey: Letztes Jahr hat uns dein Kumpel Dave Hause erzählt, dass ihr untereinander gerne über die typisch deutschen Fragen von deutschen Musikjournalisten lustig macht.
Chuck Ragan: Worüber sollen wir reden? Haha. Ich versuche gerade mir klarzumachen, was er damit meint. Wenn David sagt, wir haben darüber geredet, dann muss das wohl so sein. Was hat er dir denn erzählt, wie so eine typische German question ist? So etwas wie: Was würdest du sagen, wenn jemand behaupten würde, du bist in deiner Musik nicht risikofreudig genug?
Hahaha. Das ist gut. Ich hab mir das aber noch nicht anhören müssen.

Dave hat mir auch vom typisch deutschen Fan erzählt.
Wir nennen das „German Honesty“. Wir alle lieben die deutsche Ehrlichkeit. Weißt du, das hält dich im Zaum. Ich mag das wirklich, weil Amerikaner eben nicht so offen und ehrlich sind. Amerikaner tendieren dazu, Kritik zuckersüß zu verpacken. Einmal kam ein deutscher Fan zu mir nach der Show und sagte mir—aber auf eine so großartig, aufrichtig, nette Art, dass ich hart anfangen musste zu lachen: „Mann, das war wirklich eine wunderbare Show. Aber, Mann, ey, du bist wirklich fett geworden.“ Das also ist es, was wir „German Honesty“ nennen.

Hatte das irgendwelche Auswirkungen auf dich? Hast du danach abgenommen?
Definitiv. Ich liebe eure Art wirklich (lacht immer noch).

Was ist dir denn sonst noch Krasses auf Tour passiert? Also außer seltsamen deutschen Fans?
Das ist aber 'ne harte Story. Schon ein paar Jahre her. Wir waren unterwegs, mussten die Nacht durchfahren, um rechtzeitig zur nächsten Show zu kommen. Wir hatten eins dieser riesigen amerikanischen Wohnmobile und fuhren damit mitten durch Texas. Wir waren in der Nähe der Kleinstadt Ozona. Ich war am Pennen in der Schlafkabine oberhalb des Fahrers. Auf einmal weckt mich mein Drummer auf, schreit dabei wie ein Irrer rum. Er schrie die ganze Zeit „Get out! Get out!“. Ich dachte, das sei alles ein Traum. Als ich meine Augen aufriss, sah ich ihn schon wegrennen. Er war in Unterwäsche. Da realisierte ich plötzlich, dass das kein Traum ist und ich wahrscheinlich möglichst schnell abhauen sollte. Als ich draußen war, sah ich, dass der gesamte Boden unseres Wohnmobils Feuer gefangen hatte. Die Flammen breiteten sich schon aus. Aber das wirklich furchteinflößende war, dass das alles an einer Tankstelle passierte. Die Tankstelle war geschlossen. Kein Mensch war da und unser Wohnmobil brennt ab. Wir also völlig überfordert, rennen wild durcheinander, fast alle nur in Unterwäsche. Zum Glück waren dort Feuerlöscher und genügend Sand und so konnten wir das Feuer löschen.

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Alter.
Das Wohnmobil war natürlich komplett am Arsch. Aber zum Glück ist keiner gestorben und die Tankstelle ist auch nicht abgebrannt.

Mehr als Glück gehabt. Wo bist du denn gerade?
In meinem Haus in Nordkalifornien. Ursprünglich bin ich aber aus Texas. Ich bin als Kind mit meiner Familie oft umgezogen, denn mein Vater war ein professioneller Golfspieler. Also musste er ständig umziehen. Wir haben in Texas, Georgia, Tennessee, Louisiana, Florida und schlussendlich Kalifornien gelebt.

Hatte das Einfluss auf deine musikalische Entwicklung?
Absolut. Das hatte einen massiven Einfluss auf mich. Ich komme aus einem konservativen Elternhaus. Dagegen habe ich natürlich rebelliert. Meine Mutter ist Entertainerin, sie ist Bauchrednerin. Seit ich laufen konnte, war ich mit ihr zusammen auf Tour, während der Schulferien. Ihre Bühne sind Kirchen und andere religiöse Einrichtungen. Sie ist nicht nur eine großartige Performerin, sie ist zudem auch schon immer DIY gewesen. Sie hat sich alles selbst aufgebaut. Von ihr habe ich ganz klar den Großteil meiner Arbeitseinstellung und Inspiration her. Sie ist eine starke Frau.

Hatte die Region, der amerikanische Süden, auch Einfluss auf deine Musik?
Ja sehr. Neben Country und Bluegrass, sind viele Familienmitglieder meiner Mutter Cajun Musiker. Mein Großvater war Akkordeonspieler. Da kommt sehr viel her.

Bist du noch religiös?
Nein bin ich nicht. Außer wir reden übers Fischen. Wenn ich religiös wäre, dann wäre Fischen meine Religion. Und der See wäre meine Kirche. Haha.

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Durch deine Kindheit hast du einen starken Folk- und Country-Einschlag. Hat dich das veranlasst, solo in diese Richtung zu gehen?
Was viele wahrscheinlich nicht wissen, ist, dass ich diese Musikrichtung nie verlassen hatte. Auch während meiner Hochphase in Punk und Hardcore, habe ich immer Folksongs geschrieben und aufgenommen. Das ist ein großer Teil meines Lebens. Akustikgitarre spielte ich auch schon lange bevor ich die erste E-Gitarre in der Hand hielt.

Wovon handelt denn dein neues Album Till Midnight?
Es ist definitiv optimistischer, positiver. Im Vergleich mit meinen früheren Alben. Es sind eine Menge Liebeslieder drauf. Als ich Till Midnight schrieb, ging es mir sehr gut mit meiner Frau und meinen Freunden und das spiegelt das Album wieder. Für mich ist Musik direkter Ausdruck meines persönlichen Lebens.

In welche Richtung geht die erste Single „Non Typical“?
Das Lied ist für meine Frau. Aber die ursprüngliche Inspiration dafür hatte ich aus Liebesbeziehungen, die untypisch sind oder als untypisch gelten und deshalb nicht gerne gesehen werden. Es gibt viele Menschen, die gerne zusammen wären, die zusammen sein müssen, weil sie sich so sehr lieben und brauchen, aber es nicht dürfen. Wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung aber hat die Gesellschaft was dagegen. Oder die Eltern. Bei Freunden von mir, aber auch in meiner Familie gab es solche Fälle. Nur weil sie schwul waren, war das ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder stellt sich dagegen: die Schule, die Kirche, Familienmitglieder, Freunde, das Militär. Daher kommt also die erste Idee des Songs. Liebe kannst du nicht aufhalten, wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind. Und da hat niemand ein Recht, irgendwem reinzureden, was geht und was nicht.

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Bist du guter Dinge, dass sich da bald vieles zum Positiven ändert in Europa und Amerika?
Das ist wie eine Schlacht. Ab und an gibt es einen kleinen Sieg, aber für mich sind das immer seltsame Momente, in denen ich mir denke: „Hey ja super, dass das endlich passiert ist. Aber es wird eigentlich auch verdammt noch mal Zeit!“ Es ist schon toll, wenn gleichgeschlechtliche Ehen endlich möglich sind. Aber es hätte eigentlich nie ein Problem sein sollen. Ich finde das schwierig, wenn sich Leute zu freudig gegenseitig auf die Schulter klopfen, wenn kleine Siege erreicht werden. Ich will wissen, wieso so etwas Natürliches wie die Liebe zweier Menschen überhaupt verboten sein kann? Diese Ungleichheit ist eine weltweite Epidemie. Aber ich glaube, die Leute werden insgesamt offener. Und das ist gut so.

Bist du politisch?
Naja, ich muss es wohl sein, wie alle anderen auch. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten nie darüber nachdenken oder damit zu tun haben müssen. Wie wundervoll wäre so eine Welt! Wenn wir uns keine Sorgen um Politik machen müssten. Leider ist es nicht so. Also auch keine Politik in deiner Musik.
Ich bin da sehr vorsichtig. Für mich ist Politik das, was uns auseinandertreibt. Musik aber bringt uns zusammen. So schwarz-weiß möchte ich das sehen. Natürlich brauchen wir Politik, um eine Gemeinschaft aufzubauen, um rauszufinden, ob wir mit unseren Nachbarn zusammenleben können. Aber wenn wir uns nur auf unsere politischen Meinungen versteifen, dann wird es schwierig, offen füreinander zu bleiben. Deshalb finde ich es schwierig, Musik mit politischen Inhalten zu machen. Andererseits kannst du natürlich fragen, ob es nicht verantwortungslos ist, Musik nicht für politische Inhalte zu nutzen. Aber jetzt stelle ich die Fragen, haha.

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Kein Problem. Die Politik schwingt demnach bei dir im Hintergrund mit.

Ja so kannst du das sagen. Politik hat mich immer angetrieben. Musik ist meine Möglichkeit, mich damit auseinanderzusetzen, was mich bewegt. Wenn mich etwas sauer macht, wenn mal irgendwas total rückständig ist, dann hat das natürlich Einfluss auf meine Musik. Denn es wird in einem Song enden. Aber was ich auf gar keinen Fall möchte, ist, den Leuten meine politischen Ansichten direkt aufzudrücken und zu sagen: „So hast du zu leben!“ Musik soll uns eben zusammenbringen.

Spürst du das als Musiker, der seit Jahrzehnten tourt?
Das spürst du auf der Bühne, aber auch im Publikum. Ich nenne das The Cycle. Immer wenn wir ein Konzert besuchen, dann sind wir vielleicht „nur“ Zuschauer, aber ich betrachte das als ein Ganzes, das notwendig zusammengehört. Das ist eine unsichtbare treibende Kraft, die eine starke Energie aussendet, zwischen Band und Publikum. Als ich Jugendlicher war, hat genau dieses Gefühl, das ich bei Konzerten hatte, mein Leben verändert. Ich versuche das heute meinen Fans zurückzugeben. Und wenn ich selbst im Publikum stehe, versuche ich der Band das zurückzugeben, was sie in ihrer Musik uns Zuhörern gibt.

Du warst vermutlich auf vielen Punk- und Hardcorekonzerten früher?
Klar. Das war großartig. Die Sorte, die entweder ganz umsonst sind oder du einfach dein Kleingeld oder eine Dose Bier in 'ne Box wirfst.

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Was hältst du von Ticketpreisen à la Rolling Stones, die gerne mal 500 Euro aufwärts verlangen?
Schwierig. Aber die Leute übersehen auch, wie teuer so eine Riesenproduktion ist. Das sind keine Konzerte mehr mit einem einfach Van, in dem die dann mal eben alle schlafen. Sobald du richtig groß wirst, zahlst du einen Haufen Steuern und Gebühren, die ganze Security, WC-Anlagen, Parkplätze—denk allein mal an die ganze Flotte an Menschen und Material, die solche großen Bands mit sich führen müssen.

Hattest du irgendeinen seltsamen Job, bevor du dich von deiner Musik finanzieren konntest?
Ich hatte so viele seltsame Jobs. Einer der verrücktesten war aber für ein Bauunternehmen, das Müllverwertungsanlagen baute. Wir hatten richtig große, schwere Geräte, Trucks und Bagger. Und einfach einen Haufen Müll. Alles war voll mit Ölflecken und anderen giftigen Abfällen. Der Job war schmutzig und gefährlich. Und unser Boss war irre. Er hat von uns verlangt, die eindeutigen Hinweise auf Umweltverschmutzung irgendwie verschwinden zu lassen, als die Umweltbehörde sich angemeldet hatte. Wir hatten keine Wahl, wir mussten es tun. Ich hatte ein richtig beschissenes Gewissen deswegen.

Kann ich verstehen. Ich würde noch gerne von dir wissen, welches deiner Lieder aus deiner Solokarriere dein Lieblingslied ist?
Für mich ist das eine sehr schwierige Frage. Denn ich nehme sie alle sehr ernst und bin ihnen allen sehr verbunden. Sonst hätte ich sie nicht geschrieben. Aber, da du mich fragst, das Lied, das mir unmittelbar einfällt ist „Symmetry“. Der Song ist immer noch relevant, wahr und extrem wichtig für mich. Zum Glück. Und ich hoffe, dass das mein ganzes Leben lang so bleibt. „Symmetry“ habe ich für meine Frau geschrieben.

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