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Wir haben eine Expertin gefragt, warum Menschen zum Runterkommen gerne traurige Musik hören

Sie erklärt, dass bei einer Musiktherapie zur Behandlung von Depressionen die Patienten "mit trauriger Musik beginnen und sich dann nach und nach positiveren Klängen annähern."
Foto: Bob Foster

Das Leben an sich ist ein einziger Shitstorm. Jedes Mal, wenn bei dem ganzen Scheiß ein kleiner Schimmer Hoffnung und Glückseligkeit durch die dicke, graubraune Brühe des Alltags bricht, wird dieser nur von noch mehr Scheiße verdeckt. Also, ich rede hier von vielen, vielen Schichten Scheiße. Würde man die Erde in zwei Hälften teilen, dann würde unter dem Matsch, dem Schlick und dem ganzen Magma ein gigantischer Haufen rotierender Scheiße zum Vorschein kommen.

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Es ist dann schon etwas verwunderlich, dass etwas, das von Natur aus doch eigentlich etwas Wunderschönes ist, wie Musik, von Menschen dazu genutzt wird, um sich noch tiefer in den unendlichen Leidenssumpf zu stürzen, den das irdische Dasein für uns alle darstellt.

Wenn ich zum Beispiel gerade ein besonders schwerwiegendes psychisches Trauma durchlebt habe – sagen wir ein Beziehungsende, mein Haustier ist gestorben (R.I.P. Schnuffel) oder eigentlich jedes beliebige Wochenende – dann suche ich meinen Trost in Liedern, die so deprimierend sind, als wären sie direkt aus den salzigen Tränen von Morrissey höchstpersönlich erschaffen worden – würde er auf einem gottverlassenen Autobahnparkplatz hocken, es regnen, er seine Butterbrote vergessen haben und seine Steuererklärung überfällig sein.

Ich weiß wirklich nicht, warum ich ständig solche Sachen hören möchte, wenn es mir dreckig geht. Ich habe mich schon mehrmals über diese vermeintliche Unvereinbarkeit von der Sehnsucht nach trauriger Musik gewundert, die einen überkommt, wenn man stimmungstechnisch eh schon ganz unten angekommen ist. Als vernünftig funktionierende Organismen sollten wir doch eigentlich immer versuchen wollen, jeglichen Schaden – ob jetzt psychisch oder nicht – zu reparieren, indem wir mit positiven Dingen dagegen halten. Wenn ich sauer bin, versuche ich doch auch, mich zu beruhigen. Wenn ich Angst habe, versuche ich doch auch, mir wieder Sicherheit zu schaffen. Warum wollen wir also, wenn wir deprimiert sind, dieses Gefühl sogar noch verstärken, es beinahe genießen, regelrecht darin baden? Was hat es nur auf sich mit diesen tieftraurigen Ambient-Playlists, wenn wir gerade von einem Trip runterkommen oder uns frisch getrennt haben, dass wir sie auf eine fast schon unheimliche Art genießen?

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Foto: Bob Foster

Um ein bisschen mehr darüber zu erfahren, warum zur Hölle wir jeden Montag Aphex Twins "Rhubarb" in Dauerschleife hören, habe ich mich mit Dr. Jonna Vuoskoski unterhalten, einer postdoktoralen Forschungsmitarbeiterin an der Fakultät für Musik der Oxford University. Ihre Dissertation hat sie über die Rolle von Emotionen geschrieben, die durch das Hören Musik ausgelöst werden. Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass sie sich bestens mit Aphex Twins Selected Ambient Works auskennt.

Jonna zufolge gibt es eine ganze Reihe verschiedener Gründe und Strategien, die wir beim Hören betrüblicher Musik an den Tag legen. Zuallererst kann dir traurige Musik dabei helfen, dich durch deine negativen Gefühle zu arbeiten. Das ist ein Prozess, der Emotionsregulation genannt wird. Emotionsregulation, so erzählt sie mir, kommt vor, weil "Menschen vielleicht nicht wissen, warum sie bestimmte Musik hören wollen. Sie wissen einfach nur, dass sie es wollen. und sobald sie es tun, beginnen sie, ihren Gefühlszustand zu analysieren, und die Musik hilft ihnen dann dabei, zu verstehen, was sie gerade durchmachen." Die ganzen Jahre Travis in der Dauerschleife haben dir also ernsthaft dabei geholfen, zu verarbeiten, warum es immer auf dich geregnet. (Sorry.)

Zweitens: Empathie. Kennst du das, wenn du dich den kompletten Montagabend mit R&B Anthems: The Collection in einem dunklen Raum eingeschlossen hast und am Ende denkst, dass K-Cie und Jojo zu dir sprechen? Also wortwörtlich zu dir sprechen? Nun, wie es scheint, verwenden wir traurige Musik nicht nur, um mitzufühlen, sondern auch um den Eindruck zu bekommen, dass dieses Mitfühlen erwidert wird. Wenn Menschen Lyrics hören, die mit ihren eigenen Gefühlen in Beziehung stehen, dann fühlen sie sich, als hätte der Sänger "die gleiche Sachen durchgemacht, wie wir, und dementsprechend fühlt man sich weniger mit seiner Erfahrung allein und findet in der Musik Trost.“

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Der spannendste Aspekt, warum wir in nasskalten und windigen Nächten so gerne den Klängen von The Cure lauschen, besteht in der Wirkung, die die Musik auf unseren Körper hat. Ganz offensichtlich ist Niedergeschlagenheit nämlich nicht bloß eine psychischer Zustand, sondern auch ein physischer, der von vielen chemischen, neurologischen und hormonellen Veränderungen in deinem Körper einhergeht. Laut Dr. Vuoskoska hören die Leute manchmal traurige Musik, weil sie dadurch "vorübergehend ihre Emotionen anhand von Musik stärken und intensivieren wollen, um sie durch diese Intensvierung letztendlich abzubauen.“

Foto: Screenshot Trainspotting

Das geschieht, weil beim Hören deprimierender Klänge tröstende Hormone wie Prolaktin freigesetzt werden (wichtig für sexuelle Bestätigung), genau so wie Oxytocin (wichtig für soziale Bindung) und vor allem unsere aller liebster Neurotransmitter: Dopamin (wichtig für Spaß). Denn auch wenn du das Gefühl hast, dich bloß in einer profanen Phase depressiven Selbstmitleids zu befinden, wenn du dich mitten in einem zweistündigen Chill-Step Mix befindest, ist die ganze Geschichte doch um einiges komplexer. Zur gleichen Zeit treten nämlich andere Gefühle ein, wie "Friedfertigkeit, Entspannung und Rührung oder Ehrfurcht“, wodurch der Körper den Eindruck hat, es würde etwas Positives passieren. Das wiederum führt dazu, dass Dopamin freigegeben wird, obwohl wir uns eigentlich unglaublich beschissen fühlen. Diese Dopaminfreigabe könnte erklären, warum traurige Musik gerade nach einem dieser ausufernden Wochenende, an denen man alle seine Serotoninreserven aufgebraucht hat, helfen kann.

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Darum ergibt es von einem evolutionären Standpunkt aus durchaus auch Sinn, sich in schwermütiger Musik zu vergraben. Wie auch die Todesfälle von Prominenten in der jüngeren Vergangenheit gezeigt haben, können Trauerzustände Menschen enger zusammenbringen. Dr. Jonna erklärte mir auch, dass ihre Forschung gezeigt habe, dass Menschen, denen traurige Musik gefällt, sehr wahrscheinlich zwei wichtige, sozial bindende Persönlichkeitsmerkmale aufweisen: Empathie und eine Wertschätzung des Schönen. "Physiologisch fühlen wir die Effekte des Oxytocin, wenn wir empathisch sind, und die des Dopamins, wenn wir uns an etwas Schönem erfreuen“, sagt sie. Das würde erklären, warum alle so gerne YouTube-Tributes posten, wenn irgendein beliebiger Popstar gestorben ist. Wir alle wollen nur an diesem großen, von Empathie durchtränkten, die Schönheit wertschätzenden Liebestreffen teilhaben, das gemeinsame Trauer offensichtlich darstellt.

Ich verstand aber immer noch nicht, warum fröhlichere Musik nicht unsere erste Wahl ist, um uns aus dem tiefen Tal des Schwermuts wieder nach oben zu führen. Wenn überhaupt, dann wird eigentlich fast noch alles schlimmer, wenn man selber beschissene Laune hat und einen fröhlichen Track hört. Ist dir das auch schon mal passiert, dass nach mehreren Stunden gemeinsamen vor sich hinvegitierens auf der Afterhour plötzlich jemand auf die Idee kam, Happy Hardcore aufzulegen? Wolltest du diesem jemand da nicht auch am liebsten die verdammte Fresse einschlagen? Nun, auch dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung! Und nein, es liegt nicht daran, dass der Happy Hardcore vom Teufel persönlich in die Welt gesetzt wurde. Dr. Vuoskoski sagt, dass Menschen nur Musik hören würden, die zu ihrer eigenen Stimmungslage passt. Musik zu hören, die gerade nicht dem eigenen Temperament entspricht, kann einen zu starken Kontrast darstellen und dem Hörer ist es dadurch nicht möglich, irgendeine Art von Bezug dazu aufzubauen.

Foto via Flickr | Mike Renlund | CC BY 2.0

Sie erklärt, dass bei einer Musiktherapie zur Behandlung von Depressionen die Patienten "mit trauriger Musik beginnen und sich dann nach und nach positiveren Klängen annähern. Auf diese Art leitet man seinen eigenen emotionalen Zustand mit der Hilfe von Musik, anstatt sich direkt auf fröhliche Musik zu stürzen, die etwas sperrig sein kann und auf keinen Widerhall im Subjekt stößt.“ Es ist also ein bisschen so, wie wenn man nach einem Monat Pause wieder ins Fitnessstudio geht und sich schon fast beim Anziehen der Sportklamotten einen Bruch holt: Wenn du ohne Zwischenstufe von traurig zu fröhlich springst, könntest du dir einen emotionalen Bruch epischen Ausmaßes zuziehen.

Tja, wie es ausschaut, gibt es einen Haufen guter Gründe, die komplette Chilled Ibiza: Sunset Mix Serie aufzulegen, wenn du mal wieder hoffnungslos verkatert bist. Es hilft dir nicht nur dabei, mit deinen Mitmenschen anzubändeln – was, wie wir ja alle wissen, total abgefahren und cool ist – sondern hilft dir auch dabei, deine negativen Emotionen zu regulieren, und gleicht dann noch über Dopamin und Oxytocin das ganze Serotonin aus, das du über das Wochenende verschleudert hast. Wenn es je einen Grund gebraucht hat, um sich eingehender mit dem Werk von Zero 7 zu beschäftigen, ja, was willst du mehr? So, wenn du mich mal bitte entschuldigen würdest, ich habe hier noch ein Morphine Boxset, das durchgehört werden will.

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