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Krankheit

Eine Schluckstörung kann dir ziemlich den Appetit versauen

Um die fünf Millionen Deutsche—und viele weitere auf der ganzen Welt—leiden an Dysphagie: Schluckstörungen. Der Einfluss, den die Krankheit auf das Sozialleben der Betroffenen hat, ist mindestens so schwerwiegend, wie der auf ihren Körper.

Die meisten von uns hatten irgendwann im Leben schon einmal Schwierigkeiten, besonders ekliges Essen runterzuschlucken, aber für die, die an Dysphagie—auch als Schluckstörung bekannt—leiden, wird fast jede Mahlzeit zur Tortur. Anfangs mag es vielleicht nicht gerade wie ein Todesurteil klingen. Falls es mit Mahlzeitenersatz nicht funktioniert, gibt es schließlich immer noch Magensonden, stimmt's? Aber Menschen mit einer ernsthaften Schluckstörung werden von jeder Aktivität, bei der Essen oder Getränke involviert sind, ausgeschlossen, was oftmals das Ende ihres Soziallebens bedeutet.

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„Unsere sozialen Strukturen werden uns unter den Füßen weggezogen", sagte der Betroffene Ed Steger. 2006 musste er sich wegen Krebs einer Operation an Kopf und Hals unterziehen, bei der die Muskeln, die man zum Schlucken benötigt, beschädigt wurden. Seither hat er keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Davor ging er ungefähr sechs Mal pro Monat Essen und reiste mehrere Male pro Jahr ins Ausland. Heute geht er vielleicht noch vier Mal pro Jahr ins Restaurant—und hat einen Teller voll Essen vor sich, das er rein physisch nicht aufessen kann. „Ich kann nicht in einem sozialen Umfeld essen oder Flüssigkeiten zu mir nehmen", erklärt Steger. Flüssigkeiten machen 98 Prozent seiner Ernährung aus.

Wenn man bedenkt, dass fünf Millionen Deutsche von einer Schluckstörung betroffen sind, kam dieser Krankheit bisher relativ wenig Aufmerksamkeit zu. Auch innerhalb der medizinischen Community wird die Störung oft missverstanden. Ärzte sagen den Betroffenen, es handle sich um eine „seltene Krankheit", obwohl sie verbreiteter als es beispielsweise Erdnussallergie ist. „Dass so viele im medizinischen Bereich nicht Bescheid wissen, fühlt sich nicht richtig an", sagt Steger.

Dr. Peter Belasky, der Leiter des Davis' Voice and Swallowing Center der University of California beschreibt Schluckstörungen als „eine Einschränkung, die oft schlimmer als der Tod selbst" sei.

Natürlich ist nicht jede Schluckstörung gleich schwer. Die häufigste Ursache ist der Rückfluss von Säure, der bei ansonsten gesunden Menschen vorübergehend die Schluckfähigkeit unterbinden kann. Die Störung kann jedoch auch als Folgeerscheinung von Herzinfarkten, Krebs oder anderen ernsten Krankheiten auftreten. Der Haken liegt aber darin: Wenn eine Schluckstörung das Leben eines Betroffenen beeinträchtigt, wird die Sozialisierung zu einer unsäglichen Anstrengung, wenn nicht schier unmöglich. „Die Leute vermeiden soziale Situationen und sie erzählen der Öffentlichkeit nicht von ihrer Geschichte", sagt Dr. Belasky. „Die sozialen Folgen sind verheerend."

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Das war für Karly Pickering der Fall, die seit gut einem Jahr an einer Schluckstörung leidet. „Einige meiner Freunde haben sich von mir abgewandt", sagt sie, „aber gleichzeitig wende ich mich auch von ihnen ab". Pickering war kein totaler Foodie, aber sie aß definitiv gerne—besonders Essen aus unterschiedlichen Kulturen. „Heute ist es sogar eine Qual, Flüssigkeiten zu mir zu nehmen", sagt sie. Wenn sie trinken möchte, muss sie alleine in ein Zimmer gehen, ohne dabei durch Geräusche oder anderen Personen unterbrochen zu werden. „Ich muss so ruhig wie möglich sein und mich stark darauf konzentrieren, was ich mache", erklärt Pickering.

Wie ihre Schluckstörung entstand, bleibt ein Rätsel. Es begann mit etwas, das sich wie Halsscherzen anfühlte. Die Schmerzen wurde sie aber nicht mehr los und schließlich bereiteten sie ihr Schwierigkeiten beim Essen. Anfangs versuchte sie, in Gesellschaft zu essen, aber sie musste oft verschwinden, weil ihr Essen im Hals stecken blieb. Pickering sagt: „Es war wirklich beängstigend und erschütternd für mich." Mittlerweile ist ihre Familie ihr einziges soziales Umfeld.

Chris McKenna vermeidet ebenfalls, in der Öffentlichkeit zu essen, weil er sich Gedanken darüber macht, was die Leute von ihm denken. „Man möchte nicht das Gefühl haben, dass die Leute über einen sprechen", erklärt er. Vor fünf Jahren wurde er gewürgt und verlor dabei seine Stimme. Einige Wochen später konnte er keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Die Ärzte dachten, er hätte eine Mandelentzündung. „Meine Mutter machte es mir schwer", erinnert er sich. „Sie verstand einfach nicht, wieso ich das Essen immer wieder ausspuckte."

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Um nicht jeder Person in einem Restaurant ihre Krankheit erklären zu müssen, ziehen sich Betroffene entweder zurück, oder entwickeln Methoden, um das Normalsein vorzutäuschen. Steger bestellt mittlerweile ein Gericht im Restaurant, auch wenn er es nicht Essen kann. Er sagt, die Leute in seiner Gesellschaft fühlen sich wohler und so frage auch der Kellner nicht immer nach, ob er denn wirklich nichts bestellen wolle.

Einer von Dr. Belaskys Patientinnen bestellt im Restaurant oft Essen, kaut es und spuckt es dann in eine Serviette. „Am Ende jeder Mahlzeit hatte sie eine Handtasche voller vorgekautem Essen", sagt er.

Wenn normales Essen also keine Option ist, wie nehmen dann Leute mit einer Schluckstörung Nahrung zu sich? Laut Steger ist er beim Einkaufen im Supermarkt so schnell wie noch nie—in unter zehn Minuten ist er wieder aus dem Geschäft raus. Jedes Mal kauft er das Gleiche: ein Nahrungsersatz-Getränk, Milch und Cappuccino in 0,25-Liter-Flaschen. Sich zum Essen zu zwingen, ist für ihn das Schwierigste. „Ich habe keinen Appetit", sagt Steger. „Essen bereitet mir keine Freude."

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Eds typische Ausbeute im Supermarkt. Foto von Ed Steger.

Als praktizierender Arzt in Kalifornien kann Dr. Belasky seinen Patienten Marihuana verschreiben, damit ihr Appetit angeregt wird. Dabei könnte es sich um die einzige realistische Option handeln, die die Nahrungsaufnahme der Patienten aufregender gestalten könnte.

In Japan sind Lebensmittel speziell für Menschen mit einer Schluckstörung ein größeres Geschäft. Aufgrund der hohen Zahl an Herzinfarkten gibt es eine verhältnismäßig ähnlich hohe Zahl an Dysphagie-Kranken. Gelee mit dem Geschmack bestimmter Lebensmittel soll das sonst so monotone Essen abwechslungsreicher gestalten. „Es gibt Gelees in der Form und mit dem Geschmack von Sushi, Edamame, Misosuppe, Grünem Tee, … alles, was man sich vorstellen kann", sagt Dr. Belasky.

Eins lassen sich die Leute aber nicht nehmen: die Hoffnung, irgendwann wieder einmal normal essen zu können. Wenn die Symptome aber besonders heftig sind, ist das nicht immer der Fall. Für die anderen sind es die zahlreichen Stunden Physiotherapie wert, um einfach nur ein Glas Wasser trinken zu können.

„Was wir alle als selbstverständlich ansehen und innerhalb von einigen Millisekunden passiert, ist einer der komplexesten Abläufe in unserem Körper", sagt Dr. Belasky.