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Wir werden Campari immer lieben—ob mit oder ohne Käfer

2006 hat sich Campari dazu entschieden, Karmin nicht weiter zu verwenden—ein Farbstoff, der aus zerstoßenen Schildläusen gewonnen wird. Stattdessen sorgt nun ein künstlicher Farbstoff für die charakteristische rubinrote Farbe. Aber abgesehen vom zu...
Hilary Pollack
Los Angeles, US

Im Jahr 2012 beschwerte man sich in einem Artikel in der südafrikanischen Times Live darüber, dass sich Cocktailpuristen von Campari abwenden, nachdem sich die Firma 2006 dazu entschieden hatte, Karmin nicht weiter zu verwenden—ein starker Farbstoff, der aus zerstoßenen Cochenilleschildläusen gewonnen wird. Stattdessen sorgt nun ein künstlicher Farbstoff für die charakteristische rubinrote Farbe. „Puristen behaupten jetzt, dass die neue(re) Version sehr viel minderwertiger ist, ohne Körper und mit verändertem Geschmack", heißt es in der Zeitung. „Die Umstellung erfolgte vor sechs Jahren, scheint aber erst jetzt für Aufruhr in der obersten Schicht der Mixologie-Welt zu sorgen."

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Nun ja, sie lagen eindeutig falsch. Nach der zweiten jährlichen Negroni Week wurden wir mit dem Eindruck zurückgelassen, dass Camparis bittersüßer Nachgeschmack immer noch einen ganz speziellen Platz—ja fast schon einen Ehrenplatz—in den Herzen von Barkeepern, alten italienischen Männern und jungen Leuten, die für alte italienische Männer schwärmen, inne hat. Trotz der grellen Maraschino-Farbe und des starken Geschmacks, der zuerst an irgend etwas zwischen Fanta-Sirup und AA-Batterie erinnert, ist das Zeug aus der Welt der hochwertigen Cocktails nicht wegzudenken. Wenn dir ein selbsternannter Mixologe über den Weg läuft, dem Campari nichts sagt, dann steht ein Schwindler vor dir.

Bezüglich der ziemlich alleine dastehenden Behauptung der Times zwecks „kein Körper und veränderter Geschmack": Es scheint so, dass selbst unter langjährigen Liebhabern des Getränks nur Wenige das Fehlen der Käfer wirklich bemerkt haben. (Nur zur Info: Du findest Karmin—auch bekannt als Cochenille und Florentiner Lack—auch in solch unschuldigen Dingen wie Joghurt, Grapefruitsaft und Lakritze. Bis Mitte 2012 hat Starbucks Karmin auch in seinen Erdbeer-Sahne-Frappuccinos verwendet.)

Er ist ein Drink für fertige Leute, aber fertige Leute mit gutem Geschmack, wie zum Beispiel James Bond oder Anthony Bourdain.

Abgesehen vom zu Unrecht vergossenen Blut von unschuldigen Insekten (jetzt nicht mehr), war das Rezept von Campari seit der Erfindung im Jahre 1860 schon immer ein Geheimnis. Aber so viel wissen wir: Darin enthalten sind Alkohol, Früchte und Kräuter, darunter der karibische Strauch Cascarilla (auch zu finden in Wermut) und Chinottos—kleine, bittere italienische Orangen. Andere schmeckbare Zutaten sind Grapefruit und Zitronenblätter. „In England gibt es Münzen aus Kupfer", erinnert sich Carlo Guy, ein Barkeeper in der New Yorker Kneipe „Bathtub Gin", in der sich alles um Gin dreht. „Als Kind habe ich mir diese Kupfermünzen in den Mund gesteckt und schmeckte dann dieses Bittere, Trockene, irgendwie Metallische. Als würdest du an einem altem Topf lecken." Carlo liebt übrigens Campari und er beschreibt dessen Essenz folgendermaßen: „Warst du als Kind jemals so dumm und hast einfach so in eine Orange gebissen? Genau das ist es. Campari ist voller Orangenschale und -mark. Natürlich sind auch ein paar Kräuter mit drin … vielleicht eine Spur Nelke." Andere von ihm entdeckte Geschmäcker sind Salbei, Thymian, Blutorange und „Satsumas, Mandarine und so weiter." Seine Kollegen Ariel Suarez und Alex Valencia schlagen in die gleiche Kerbe und sind sich sicher, dass sie Rhabarber, Kiefer und Koriander rausschmecken. Ariel hat Gerüchte gehört, dass das Rezept nur vier Früchte und vier Kräuter beinhaltet. Es könnten aber Tausende sein und wir würden immer noch nicht dahinter kommen. Campari schmeckt einfach wie Campari.

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Obwohl viele Leute Campari on the rocks trinken, ist seine natürliche Umgebung doch ein Negroni—der klassische gerührte Cocktail, zu gleichen Teilen aus Gin, Campari und Wermut bestehend. Der Negroni ist fast hundert Jahre alt, war ein Favorit von Orson Welles und nahm in Tennesse Williams Film Der römische Frühling der Mrs. Stone eine auffällige Rolle ein. Wie die meisten Mischungen aus drei Arten Alkohol ist der Negroni kein schwacher Drink oder geeignet für den gelegentlichen Trinker, der sich mit seinem Kumpel in einer Sportsbar trifft. Er ist ein Drink für fertige Leute, aber fertige Leute mit gutem Geschmack, wie zum Beispiel James Bond oder Anthony Bourdain. Und genau so wie der Negroni Campari braucht, braucht Campari den Negroni.

„Ohne jetzt Campari schlecht machen zu wollen, aber ich glaube nicht, dass sie so einen Erfolg hätten, wenn es den Negroni nicht gäbe", flüstert Carlo. Seine Beschreibung der Symbiose des Negronis ist gleichzeitig poetisch und mathematisch. „Das ist wirklich wichtig. Würde der Campari schmecken wie wenn du in eine Orange beisst, dann würde sich das nicht verkaufen, denn in eine Orange beissen ist ekelhaft. Aber Campari und der Negroni—das klingt jetzt irgendwie sexuell—sind wie eine Geschichte in deinem Mund", erzählt er mir. „Als erstes kommt die süße Zitrone daher, fast wie eine kandierte Orange. Der mittlere Teil der Geschichte ist dann mehr von den Kräutern geprägt, erdig. Und dann ganz am Ende kommt die Explosion des … bitteren Geschmacks. Hell und bitter."

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Es fällt schwer, Bitterkeit als eine wünschenswerte Eigenschaft von Essen und Trinken anzusehen. Nur wenige halten ‚bitter' für ein angenehmes Adjektiv. Seine Doppeldeutigkeit enthält auch etwas Fieses und Feindseligkeit. Aber genau dieses Fiese ist das, was so besonders ist und das Getränk mit quasi allem mischbar macht. Wir wollen bittere Drinks aus genau dem gleichen Grund trinken, aus dem die Leute in Das Schicksal ist ein mieser Verräter verliebte Teenager an Krebs sterben sehen wollen. Jeder von uns hat was Fieses in sich.

Carlo hat sogar einen noch eindeutigeren Gedankengang zu dem Getränk. „Das klingt vielleicht wie überheblicher Bullshit, aber ich bin besessen von Campari. Für mich ist er sehr, sehr romantisch. Er hat eine lange Geschichte, kommt aus Italien und ist ein Aperitif—ein verdammt guter noch dazu. Aber ich hörte mir immer „Buona Sera" von Louis Prima an. In diesem geht es um ein Pärchen und sie spazieren durch die Hügel von Napoli, alles ist wunderschön. Der Gentleman liebt seine Freundin ohne Zweifel und deshalb halten sie bei einem Juwelier an, schauen ins Schaufenster und er sagt dann, dass er nicht genug Geld für einen Ring hat und deshalb vorerst nur ‚Ich liebe dich' zu ihr sagt … Dann gehe ich auf meinen Balkon, die Sonne scheint und ich bereite mir einen Negroni oder Campari on the rocks zu. Ich sitze auf meinem Stuhl, überblicke die Stadt und in meinem Kopf spielt dieses Lied. Und ich stelle mir vor, wie ich einen weißen Anzug trage. Ich rauche eine Zigarette, eine Marlboro Red, und schaue genau dann auf, wenn eine hübsche Frau in das Restaurant kommt. Solche Gedanken verursacht das Getränk bei mir. So romantisch, so italienisch, ein Anfang und ein Ende."

„Du wirst sehen, dass ihn einige Arschlöcher pur trinken", sagt Carlo und grinst, wobei diese Bezeichnung wohl eher nett gemeint ist.

Selbst zwischen anderen hochprozentigen klassischen Cocktails wie Old Fashioneds und Manhattans sticht der Negroni noch als etwas Besonderes hervor. Die Barkeeper im Bathtub Gin behaupten, dass jeder pro Nacht ungefähr 20 Stück zubereitet. Wenn Freunde oder Kollegen aus anderen Cocktailbars anwesend sind, dann sogar 40. Es scheint so, als sei der Cocktail wie ein Passwort für die, die das Drinks-Mischen ernst nehmen. „Du wirst sehen, dass ihn einige Arschlöcher pur trinken", sagt Carlo und grinst, wobei diese Bezeichnung wohl eher nett gemeint ist. „Ich habe gemerkt, dass viele Barkeeper Campari nur pur trinken, um zu zeigen, dass sie wissen, was sie da trinken. Aber die Leute trinken den Campari in Cocktails nicht für den Anfang der Geschichte, sondern für das Ende. Für das bittere Ende. Für die Geschichte."

Alex zuckt mit den Schultern, wenn es um die Käfer geht, die für das Getränk verarbeitet wurden. „Denk doch mal drüber nach: Bei einigen Schnäpsen befindet sich eine Schlange, ein Skorpion oder ein Wurm in der Flasche und die Leute streiten sich dann darüber, wer das Tier trinken darf. Wo ist da der Unterschied?"

Oberstes Foto: Geoff Peters | Flickr | CC BY 2.0