„Cholismo"—wie Simeones Sieger-Gen Atlétis Fans beflügelte
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El Cholo

„Cholismo"—wie Simeones Sieger-Gen Atlétis Fans beflügelte

Als „El Cholo" kam, war Atlético nur vier Punkte vom Abstiegsrang entfernt. Mittlerweile sind seine Fußball-Guerillas in ganz Europa gefürchtet.

Sommer 2000. Abstieg in die zweite spanische Liga nach einer echten Chaossaison, die mit dem italienischen Trainer Claudio Ranieri begonnen hatte. Das 21. Jahrhundert begann alles andere als rosig für den großen Traditionsverein Atlético Madrid. Auch danach folgten Jahre geprägt von enttäuschten Erwartungen und einer tiefen Identitätskrise. Zwar holte man 2010 zum ersten Mal nach 48 Jahren wieder einen Europapokal. Doch nur ein Jahr später standen die als Titelmitfavorit gestarteten Rojiblancos nur wenige Punkte von der Abstiegszone entfernt. Dann übernahm „El Cholo" Simeone das Ruder. Das war im Dezember 2011. Seitdem hat der Argentinier den Haufen aus Arbeitern wie von Zauberhand in ein Siegerteam verwandelt.

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Nur dass das natürlich nichts mit Zauber zu tun hatte. Simeones Erfolg ist das Resultat von beinharter Arbeit.

Foto: Albert Gea/Reuters

Als Simeone kam, ging im Vicente Calderón nicht nur das Abstiegsgespenst um, man war auch erst kurz vorher gegen einen Zweitligisten in der Copa del Rey rausgeflogen. Die Fans hatten da schon längst alle Hoffnungen begraben und sich damit abgefunden, dass ihr Verein wohl niemals über das Mittelmaß hinauskommen würde. Atlético war als ewige Loser-Truppe verschrien. Das ging sogar so weit, dass in TV-Werbespots die Frage gestellt wurde: „Papa, warum sind wir immer noch für Atlético?"

Doch der schlechten Leistungen zum Trotz galt der Verein stets als liebenswürdig. Simeone übernahm das sinkende Schiff, verdiente sich schnell den Respekt seiner Spieler, half ihrem Selbstbewusstsein auf die Sprünge und konnte mittels eines direkten, intensiven Spiels—mit einer sattelfesten Abwehr und blitzschnellen Gegenangriffen als taktisches Kernstück—an Uralterfolge anknüpfen.

Die neue Ausrichtung des Vereins—samt einem entschlossen auftretenden Management—kam gut bei der eigenen Anhängerschaft an. Simeone schaffte es mit der Zeit, der gesamten Fanbase den Glauben und Spaß am Verein zurückzugeben. Das Estadio Vicente Calderón wurde wieder zu einem atmosphärischen Monster und einer schier uneinnehmbaren Festung.

Photo: Mariscal/EPA

Simeone überzeugte sein Team, dass sie das Zeug zu Champions haben und erinnerte gleichzeitig die Fans daran, dass Atlético mehr als nur ein Verein ist. Atlético war auch ein Statement, eine Haltung, ja fast schon eine Religion. Das Ergebnis dessen war Atléticos aktuelle Vereinsphilosophie, die im Volksmund auch Cholismo genannt wird.

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In der Vergangenheit haben die Fans der Colchoneros—„Matratzenmacher", nach einer rot-weißen Matratze, die einst zum Kassenschlager avancierte—immer wieder gezeigt, dass für sie Atlético eine echte Herzensangelegenheit ist. Das war etwas, das viele vergessen hatten und woran Simeone sie erinnerte.

Indes wächst der Verein weiter und weiter. Was auch mit seiner Geschichte zusammenhängt. Denn egal, ob man in der Vergangenheit gewonnen oder verloren hat: Die Mannschaft hat immer alles gegeben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Atlético ist unbändiger Kampfeswille.

Barças klassische Spielweise wird wohl immer mit viel Ballbesitz verbunden sein. Im Gegensatz dazu spielt Atlético „dreckiger". Kommt mehr über Körpereinsatz und Laufbereitschaft. Es mag nicht schön aussehen, aber es ist verdammt effektiv.

Photo: Andrea Comas/Reuters

Ein rotweißes „Ballett" wie ihr schwerreicher Stadtrivale werden und wollen sie bei Atlético nie sein: Sie sind lieber echte Fußball-Guerillas. Mit jedem Spiel wurde das Cholismo-Phänomen bekannter. Mittlerweile hat die ganze Welt von Simeones Atlético Madrid gehört. Ihre Spielweise mag zwar nichts für Fußballästheten sein, dafür aber jagt sie ihren Gegnern Furcht und Respekt ein.

El Cholo ist bekannt dafür, ein Macher zu sein. Es ist ihm völlig gleich, ob die Leute ihn mögen oder nicht. Sein Ziel heißt Siege. Und dafür ist ihm fast jedes Mittel recht. In nur drei Jahren ist Simeone zweimal ins Champions-League-Finale eingezogen. Weder Pep Guardiola noch Luis Enrique konnten ihn stoppen. Insgesamt hat Atlético unter seiner Ägide fünf Wettbewerbe gewonnen: die spanische Meisterschaft, die Europa League, die Copa del Rey und den europäischen sowie den spanischen Supercup. Das macht einen Titel pro Jahr.

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El Cholo ist Stratege, Psychologe und Spitzenmotivator in einem. Er hat gezeigt, was Arbeitsmoral wirklich bedeutet. Er hat gezeigt, dass er es versteht, ein Team, das für konstant enttäuschende Leistungen bekannt war, auf die Erfolgsspur zurückzuführen. Er hat den Fans Stolz sowie den Glauben an ihren Verein zurückgegeben. Die Zeiten, in denen der Montag auf Arbeit für Atleti-Fans zum Spießrutenlauf aus dummen Sprüchen wurde, sind Geschichte. Er hat den Verein an seine glorreiche Vergangenheit zurückgeführt.

Vor Simeones Ankunft hat Atlético 14 furchtbar lange Jahre regelmäßig gegen Real Madrid den Kürzeren gezogen. Heute stehen sie auf einer Ebene. Seit ihrem letzten Champions-League-Finale vor zwei Jahren haben sie nur einmal gegen den Lokalrivalen verloren. Am Samstag kommt es zum erneuten Aufeinandertreffen im wichtigsten Spiel im europäischen Vereinsfußball.

Foto: Susana Vera

Spieler benutzen Atlético schon lange nicht mehr nur als Karrieresprungbrett, um zu besseren Vereinen wechseln zu können. Stattdessen wollen viele gar nicht mehr weg. Wenn La Grande Inter Helenio Herrera hatte, Barça Johan Cruyff und Nottingham Forest Brian Clough, dann hat Atlético ohne Zweifel seinen Diego Simeone. Solange er da ist, werden die besten Spieler mit und für ihn arbeiten wollen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Atlético in den kommenden Jahren einige große Namen verpflichten wird. Es ist auch schwierig, einen besseren Arbeitgeber und Vorgesetzten als Simeone zu finden. Er liebt die Mannschaft, die er trainiert. Und aus dieser Liebe heraus steckt er Körper und Seele in die Entwicklung des Vereins. Das kann man nicht kaufen.

Ob Improvisation oder Planung, ob Niederlage oder Sieg, ob alles oder nichts, Simeone ist der Ausgangspunkt für alles, was bei Atlético passiert. Er ist ohne Zweifel der einfallsreichste Trainer in der Geschichte seines Vereins. Seine Stimme ist wie ein Gesetz für Spieler, Verantwortliche und Fans. Er hat ihnen ihren Stolz zurückgegeben, den Verein wiederbelebt und allen Beteiligten klargemacht hat, dass man sich von den anderen Vereinen in Spanien (und darüber hinaus) grundlegend unterscheidet.

Jubelnde Atlético-Spieler: ein gewöhnliches Bild unter Diego Siemone. Foto: Marcelo del Pozo/Reuters

Anfangs überzeugte er seine Mannschaft, den Verein und die Fans, dass sie wie echte Underdogs zu kämpfen hätten, um erfolgreich zu sein. Dann überzeugte er sie, dass Herzblut Geld schlagen könne. Und schließlich folgten sie seiner Einladung, in großen Dimensionen zu denken, was—gepaart mit harter Arbeit und dem Glauben an sich selbst—zu der konstant erfolgreichen Mannschaft führte, die wir aktuell bewundern können.

Ein Sieg gegen Real am Samstag wäre nur die logische Krönung.