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Occupy Turkey

Mehr Gasmasken als Kopftücher: Mein schönes Leben in Istanbul

Unsere VICE-Mitarbeiterin Iva lebt in Istanbul und bekommt die Proteste im Park und die Helikopter über ihrer Terrasse gerade direkt mit.

Foto: Facebook-Seite OccupyGezi

Iva lebt derzeit in Istanbul, arbeitet aber für VICE in der Schweiz. Im nachfolgenden Bericht schildert sie ihre Sicht auf die Proteste rund um #OccupyGezi.

Während ich diese Zeilen schreibe, kreist gerade ein Polizeihelikopter über dem Stadtteil Besiktas in Istanbul. Ich sehe ihn von meiner Terrasse in Gümüssuyu aus – es ist der Stadtteil, in dem seit 2 Nächten kriegsähnliche Zustände und totale Anarchie herrschen. Auf der Strasse vor mir veranstalten die Autos ein Hupkonzert, Menschen laufen massenweise Richtung Besiktas, ihre Parolen zu einem Kanon gestimmt, der sich in den letzten vier Tagen zur Stimme dieser Revolution geformt hat. Untermalt von den Sirenen und Gebetsliedern aus den Lautsprechern der Moscheen werden diese Klänge zu einem ironischen Protestlied gemischt.

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Trillerpfeifen durchzischen die Luft, den Beat schlagen unzählige Menschen an ihren Fenstern und auf ihren Terrassen mit Besteck, Töpfen und Kellen. Dazwischen immer wieder Applaus. Man hat das Gefühl, es ist eine gute Sache, die hier abgeht.

Twitpic von @savasgocebe

Tränengas hängt zwar noch irgendwo in der Luft, kratzt im Hals und beisst in den Augen, aber es ist zu weit weg, um zu stören (und ja, man gewöhnt sich beinahe daran). Besiktas befindet sich ca. 500 Meter Luftlinie von meiner Wohnung entfernt und es wird dort heute Abend garantiert wieder zu Ausschreitungen kommen. Ein Blick auf Facebook und Twitter verrät, dass vor einigen Minuten Gasbomben im Besiktas-Fussballstadion geworfen wurden—der Heiligenstätte der Hardcore-Fans mit Namen Carsi, die dank ihrem Mut, ihrer Organisation und ihrem Durchhaltewillen vom ganzen Land zu Helden erkoren werden.

Mittlerweile ist es dunkel geworden in Istanbul und der Helikopter leuchtet mit einem Scheinwerfer die Gegend ab. Er streift wie jeden Abend unser Haus, aber es zuckt keiner mehr zusammen. Ich habe meine Gasmaske aufgesetzt, um weiterhin auf der Terrasse sitzen zu können. Nach Einbruch der Dunkelheit fängt der Krieg wieder an. Unter den Strassenlaternen hängen Gaswolken, ich niesse. Wenn’s zu streng wird, reibe ich mir die Augen mit Zitronensaft ein, um das Brennen zu neutralisieren.

Foto: Meine Freundin Ceren in typischer Montur. 

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Jeden Abend sind die letzten Nachrichten auf Facebook und Twitter Hilfeschreie von Freunden, die jemandem irgendwo helfen müssen und keine Ärzte finden können. Dazwischen gestreut findet man Nachrichten über neue Arten von Tränengas, die angeblich benutzt wurden. Auch von Agent Orange ist die Rede. Bilder von leeren Behältern tauchten auf. Seit gestern wird von Gasen berichtet, die einem die Haut verbrennen.

Handyfilme zeigen Polizisten, die Gasbomben in Wohnungen schiessen, unschuldige Leute verprügeln, Leuten Gas-Dosen ins Gesicht jagen, Fotos von Verletzten Menschen kursieren überall im Internet, Gesichter mit Rissen, von der Stirn bis zum Kinn entzweit. Jeden Morgen tauchen neue Bilder und Filme vom Krieg der letzten Nacht, und immer wieder heisst es von Neuem “Wir geben nicht auf, wir machen weiter, bleib stark, Türkei!”.

Erst am Abend davor war ich selbst mit Freunden direkt im Zentrum des Gasnebels, der in den Köpfen westlicher News-Konsumenten bald schon als Synonym für den Gezi-Park (und vielleicht sogar die gesamte Türkei) stehen wird. Ich weiß noch, dass ich zu meinen Freunden sagte „Wir müssen vorsichtig sein, ich traue der Polizei hier nicht, keiner tut es.“ Als nächstes weiß ich nur noch, dass wir auf den Platz liefen, um von den lauernden Polizisten abgefangen und mit Tränengasdosen beworfen zu werden. Wir rannten die Straßen runter, während wir uns alle gegenseitig mit "Yavas Arkadaslar!"—"Langsam, Freunde!"—beruhigten, um Panik zu verhindern.

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Um mich herum zückten Leute ihre Rennie-Flaschen (dem Mittel gegen Sodbrennen, das auch extrem gut gegen Tränengas hilft, wenn man es sich einfach in alle Gesichtsöffnungen spritzt) und fingen Betroffene ab. Ärzte standen in Goggles und Kitteln da und halfen. Das Ganze wurde begleitet vom unaufhörlichen Rauschen und Surren der Tür-Buzzer rundherum—dem Geräusch der enormen Solidarität, die hier herrscht und das daher rührt, dass Menschen die Eingänge zu ihren Wohnungen für alle offen hielten, die Zuflucht suchten.

Die Solidarität in der ganzen Stadt ist enorm. Tagsüber läuft man durch die Straßen und nickt einander zu, im Wissen, dass man sich nachts irgendwo wiedersehen wird. Freunde von mir, die Restaurants führen, arbeiten seit Tagen in Doppelschichten, kochen Literweise Suppe, backen Brot oder was auch immer sie gerade beisteuern können und verteilen es unter den Leuten. Jeder hat einen zweiten Job nach Einbruch der Dunkelheit.

Foto: Facebook-Seite OccupyGezi

Als würde der Gas speiende Drache sich noch ein letztes Mal aufbäumen, bevor er sich ergab, zogen die “Ehrlosen”, wie sie hier genannt werden, kurz darauf ab und überließen den Taksim-Platz wieder den Bewohnern der Stadt. Die nächsten zwei Stunden standen wir in der Sonne und sahen zu, wie abertausende von Menschen aus drei Richtungen auf den Platz strömten und die Massen über den Park und die Straßen hinaus immer weiter wuchsen.

Dass die Angelegenheit ernst war, wusste ich allerdings schon einige Zeit länger. Und zwar seit ich gehört hatte, dass sich die Harcore-Fußball-Fans der Besiktas sowie von Fenerbahce und Galatasaray zusammentun würden, um gemeinsam zu demonstrieren. Noch nie in der Geschichte der türkischen Fußballvereine, die gerade in Bezug auf ihre Rivalitäten als die extremsten in der Welt gelten, hatte es zwischen ihnen diese Einheit gegeben.

Vor wenigen Tagen liefen sie erstmals zusammen gegen die Polizei an, gemeinsam mit den verschiedensten Randgruppen, von denen man bis vor ein paar Wochen nicht einmal im Traum gedacht hätte, sie Seite an Seite kämpfen zu sehen. Es war, keine Frage, ein schöner Tag. In den letzen Jahren hat mich selten etwas so sehr erfüllt wie dieses Erlebnis.