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Was sagt man zu jemandem, der in den Heiligen Krieg ziehen will?

Herr K.s Job ist es, radikalisierte Jugendliche vom letzten Schritt abzuhalten. Wie er mit seiner Webseite gegen die salafistische Propaganda kämpft, hat er uns erklärt.

Seit Beginn der Kämpfe in Syrien 2011 haben sich mindestens 650 Islamisten aus Deutschland in das Krisengebiet aufgemacht, um für Gruppen wie den Islamischen Staat (IS) oder al-Qaida zu kämpfen, schätzt der Verfassungsschutz. Einige von ihnen kämpfen immer noch dort, andere wurden getötet (der VS geht bis jetzt von 75 gefallenen Deutschen aus), und gar nicht Wenige sind schon wieder zurückgekehrt—oft genug tief traumatisiert und verstört.

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Diese Rückkehrer sind es, die den deutschen Behörden am meisten Sorgen bereiten—vor allem, da man nie weiß, ob sie ihre gewalttätige Ideologie wirklich hinter sich gelassen haben. Um zu verhindern, dass orientierungslose Rückkehrer erneut in die salafistische Szene rutschen, setzen sie einerseits auf Polizeiarbeit, andererseits auf intensive Betreuung des Einzelnen.

Die Organisation Violence Prevention Network kümmert sich seit bald einem Jahr um Dschihadisten, radikale Islamisten, Gefährdete, Gefährder und deren Familien. Deutschlandweit ist das Modell einmalig und leistet sowohl in der Betreuung von Rückkehrern als auch in der Radikalisierungsprävention Pionierarbeit.

Jetzt haben Mitarbeiter eine Website eingerichtet, die Tränen der Dawa heißt. Darin haben sie ihre bisherigen Erfahrungen zusammengefasst, um auch im Internet Jugendliche davon abzuhalten, nach Syrien zu gehen—oder hierzulande einen Anschlag zu verüben. Sie soll ein Gegenpol zur salafistischen Propaganda sein. Wir haben mit einem der Macher (der anonym bleiben wollte) über die Website und seine Erfahrungen mit Extremisten gesprochen.

VICE: Warum wollen Sie nicht, dass man Ihren Namen nennt?
Wir wollen unsere Klienten und uns selber schützen. Wir arbeiten ja mit hochbrisanten Fällen zusammen. Wir haben IS-Rückkehrer und ehemalige Al-Qaida-Mitglieder. Wir wollen das Vertrauensverhältnis zu unseren Klienten nicht verletzen—das würden wir aber, wenn sie jetzt uns plötzlich in der Öffentlichkeit sehen. Und gleichzeitig geht es auch um unseren Schutz.

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Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?
Ich habe Islamwissenschaften und Pädagogik studiert. Und ich beschäftige mich auch seit meiner Jugend mit der islamischen Theologie, bin jahrelang auch in muslimischen Moscheen und Vereinen aktiv gewesen. Habe da Jugendabteilungen aufgebaut. Und kenne daher auch die salafistische Szene seit vielen Jahren sehr gut.

Zu unseren Vorträgen sind damals auch Salafisten gekommen, um unsere Jugendlichen abzuwerben. Und in dem Sinne ist das kein neues Phänomen für mich. Neu ist nur die Syrien-Thematik, und natürlich auch die Brutalität des IS.

Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie Ihre Arbeit normalerweise abläuft?
Unser Kerngeschäft ist im Bereich der Intervention: Also Beratung von Familien, Angehörigen, oder wir arbeiten mit direkt Gefährdeten. Dazu gehört auch die Arbeit im Gefängnis. Heute zum Beispiel hatte ich ein Beratungsgespräch, wo ich an eine Schule eingeladen wurde.

Um was ging es?
Das war eine besorgte Schule, wo ein Schüler bestimmte Aussagen getätigt hat, und wir sind dann direkt mit der Schule in Kontakt getreten und haben einen Workshop vereinbart. Wir machen in den Schulen meist Workshops. Wir vermeiden das konfrontative Gespräch, wir haben die Erfahrung gemacht, dass das zu verhärteten Fronten führt. Dann kommen wir an den Klienten gar nicht mehr heran.

Aber bei einem Workshop weiß der Klient dann gar nicht, dass wir wegen ihm da sind. Wir können dann unterschwellig einsteigen und dann innerhalb des Workshops den persönlichen Kontakt zu dem Klienten suchen.

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Wie kommen Sie sonst an Ihre Klienten ran? Ich vermute mal, dass salafistische Gruppen was dagegen haben, wenn NGO-Mitarbeiter an ihre Leute rangehen?
Bildungseinrichtungen oder andere Institutionen kontaktieren uns, oder zum Beispiel auch Jugendvollzugsanstalten. Die sehen Verhaltensänderungen, Veränderungen in den Denkmustern. Aber auch besorgte Eltern. Es kann auch sein, dass sich Klienten persönlich bei uns melden, aber das ist ein Ausnahmefall.

Haben Sie schonmal jemanden von einer Gewalttat abgehalten?
Dass jetzt jemand einen konkreten Anschlag machen wollte und wir haben es unterbunden: nein. Aber wir hatten natürlich Fälle, wo Klienten ausreisen wollten—und wo wir dann interveniert haben und letztendlich dann schaffen konnten, dass die dann nicht ausgereist sind.

Wie macht man das, wenn das so akut ist?
Das Allerwichtigste ist die Authentizität und das Vertrauensverhältnis. Der Träger des Projekts hat von Anfang an großen Wert draufgelegt, dass wir praktizierende Muslime sind, dass wir eine muslimische Identität haben. Daher haben wir einen einen besonderen Zugang zu diesen Klienten. In der Regel gibt es ja zumindest vordergründig eine religiöse Motivation, in den Dschihad auszureisen. Und diese religiöse Motivation muss durch eine religiös-theologische Gegennarrative unterbunden werden.

Sven Lau und seine Brüder. Foto aus unserem Interview mit Lau.

Wie funktioniert das?
Wie erklären zum Beispiel, dass der Salafismus historisch gesehen eigentlich eine Randgruppierung, eine Sekte, ist. Dass die herrschende muslimische Meinung dagegen ist. Und dass es da viele, viele andere Meinungen gibt, die der Klient nicht kennt.

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Aber Wissen ist nicht alles. Wir haben da so eine pädagogische Faustregel: Bindung kommt vor Bildung. Wir müssen erstmal den Zugang herstellen, erstmal das Vertrauen gewinnen. Und wenn uns das gelingt, dann kann man sozusagen Bildung vermitteln und die Klienten verunsichern—weil die dann in der Regel sagen: Das kannten wir gar nicht. Woher sollen sie es denn auch kennen? Sie waren ja nur in der salafistischen Szene drinnen und haben die andern muslimischen Meinungen ja nie kennenlernen können.

Das heißt, Sie öffnen ihnen sozusagen die Augen.
Ja. Selbst die Intellektuellen unter den Salafisten haben ja ein sehr gutes Wissen über den Koran und die Sunna, aber nicht diese methodologische und diese holistische Perspektive, das in den gesamten Kontext einzubetten.

Das heißt dann ganz konkret, dass wir über den Salafismus reden, über diverse Strömungen im Islam, wie sich z.B. der Salafismus entwickelt hat. Was für Rechtsformen gibt es im Islam, was für Auslegungsmuster? Wir geben dann bestimmte Inputs durch die Koran und Hadith-Wissenschaften.

Die meisten Salafisten verstehen nicht, dass man den Koran nicht einfach so wörtlich auslegen kann. Das ist kein Roman. Wir geben immer wieder als Beispiel das Bürgerliche Gesetzbuch oder das Strafgesetzbuch. Da gehst du auch zum Anwalt, um diesen Text zu verstehen. Es ist nicht so einfach, wie die Salafisten das immer darstellen, so schwarz und weiß, und ich kann das einfach mal so ableiten. Wenn wir das ein bisschen zeigen, haben wir immer wieder so Aha- und Wow-Effekte.

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Damit verunsichern wir unsere Klienten, so nennen wir das. Wir haben ja nicht den Anspruch zu überzeugen. Überzeugen führt zu Lagerkämpfen. Aber wenn wir schon so eine leichte Verunsicherung reinbringen und einen Reflexionsprozess starten können, dann ist das für uns schon ein Riesenerfolg.

Das versuchen Sie jetzt mit ihrer Webseite Tränen der Dawa auch im Internet.
Radikalisierung findet auch sehr stark im Internet statt. Und die Ursache ist in der Regel, weil Jugendliche, die auf Identitäts- und Sinnsuche sind, keine Plattform und keinen Raum finden, um über ihre eigene persönliche kulturelle oder religiöse Identität zu reflektieren.

Ein Jugendlicher kann das oft im Elternhaus überhaupt nicht, weil er keine muslimische Familie hat, oder weil er keine Geborgenheit in der Familie findet. Oder die Eltern sind nicht sehr religiös, dann hat er auf Grund dessen keine religiöse Sozialisation.

Und wenn wir uns die Moscheen anschauen: Häufig sind die Imame in den Moscheen nicht der deutschen Sprache mächtig und sind nicht in Deutschland sozialisiert. Der Jugendliche findet auch dort keine Antworten auf seine Fragen. Auch in der Schule kommen die Themen zu kurz.

Jetzt ist die Frage: Wen soll er denn fragen? Wir wissen: Er fragt den Imam Google. Und stößt dann ganz schnell auf Seiten wie von Denis Cuspert, guckt YouTube-Videos. Das Internet wird im islamischen Bereich von den Salafisten überflutet mit Propaganda-Sachen.

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Wie sind Sie auf den Namen gekommen?
Dawa ist ein sehr sehr zentraler Begriff in der salafistischen Szene. Dawa heißt ja die Missionierung, oder Aufruf zum Islam. Das wird bei manchen Interpretationsauslegungen, insbesondere bei den Salafisten, als einer der Glaubenspfeiler gesehen. Der Aufruf zur Religion, also die Dawa-Mission wird sogar als Dschihad gesehen.

Wir haben unsere Site Tränen der Dawa genannt, weil jeder auf Grund dieser Dawa, dieses Aufruf zum Islam, weint. Es weinen Familien, weil ihre Kinder ausreisen. Die Kinder weinen, weil sie die Ungerechtigkeiten im Nahen Osten sehen. Dann weinen zum Beispiel die Syrer, die auf Grund dieses Bürgerkrieges flüchten müssen. Es weinen Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Es weinen auch Leute wie wir, die zum Beispiel sehen, dass so viele Jugendliche nach Syrien ausreisen und so in jungem Alter ihr Leben aufs Spiel setzen.

Deswegen haben wir uns gesagt: Tränen. Und Dawa, weil wir hoffen, dass der Jugendliche erstmal denkt, das ist eine Seite, die die Innenperspektive einnimmt, möglicherweise sogar eine salafistische Seite. Die sollen dann neugierig werden und dann wenn sie dann die Geschichte lesen, sollen sie ihr kritisches Bewusstsein schärfen.

Wenn ihr wissen wollt, warum die Salafisten diesen Koffer angebetet haben, müsst ihr diesen Artikel lesen: Die chaotischste Demo Deutschlands. Foto: Philipp Rühr

Die Webseite erzählt die Geschichte von zwei Muslimen, David und Toufik. Beide sind religiös, aber David rutscht schnell in die salafistische Szene ab und reist schließlich nach Syrien. Warum haben Sie das so, als Erzählung, gemacht?
Unsere Methodik im Umgang mit den Klienten ist oft die Biografiearbeit. Wir machen das auch in den Gefängnissen so, dass wir mit den Biografien der Klienten arbeiten. Wir haben festgestellt, dass das Problem nicht immer ein religiöses oder theologisches ist.

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Die religiöse Schicht ist dünn. Wir haben in der Regel viele soziale Probleme die sich hinter diesem Vorgang verstecken. Wir gucken dann in die Biografie und sehen meistens Brüche darin. Was zum Beispiel interessant ist: Bei 95 Prozent unserer Fälle fehlt die Vaterfigur. Entweder sind es Scheidungskinder, oder der Vater ist geistig oder körperlich abwesend.

Was haben Sie noch über die Menschen gelernt, die anfällig für Salafismus sind?
Man kann es natürlich nicht verallgemeinern und sagen, das sind doch alles nur junge Menschen, die soziale Probleme haben. Aber man muss schon sagen: Die Mehrheit der Fälle sind so.

In der Regel sind es ja junge Männer, die auch in ihrer Vergangenheit ein Gewaltproblem gehabt hatten. Diese Gewalt wird dann mit in die neue, islamische Identität hereingetragen. Der Unterschied ist jetzt aber: Vorher war die Gewalt nicht heilig, jetzt ist sie plötzlich heilig geworden. Und wenn Gewalt heilig wird, legitimiert sie Ungerechtigkeiten, Straftaten—und das ist dann gefährlich. Und das heißt, dass auch die Gewaltaufarbeitung an sich im Fokus liegen sollte. Deswegen setzen wir mit diesem Anti-Gewalt und Kompetenz-Training in den Gefängnissen an.

Schauen Sie sich zum Beispiel auch die Videos der Salafisten an, auch die in Frankfurt. Da gibt es den Bilal Gümüs, der eine Führungspersönlichkeit in den Lies!-Aktionen gewesen ist. Wie der von Pierre Vogel auf einer seiner Veranstaltungen vorgestellt wird. Er kommt da mit seinem Haftentlassungsschein, wie man den auch immer nennt, hält den vor der Bühne so hoch und protzt damit, dass er, keine Ahnung, viermal im Gefängnis war und ein ehemaliger Straftäter ist.

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Und dann sagt er aber: Ja, der Islam hat mich davon befreit, ich hab mich jetzt geändert. Das sehen wir auch teilweise bei Pierre Vogel selbst, der sagt ja: Ich war Boxer, ich war in schlechten Kreisen, aber habe mich jetzt eben geändert. Fakt ist, dass die Gewaltenergie immer schon da gewesen ist. Und das hat sehr, sehr stark mit der Lebensgeschichte und der Biografie zu tun. Wenn das nicht aufgearbeitet wird, kann dies in die neue Identität mit hineingetragen werden.

Pierre Vogel (auf der chaotischsten Demo Deutschlands). Foto: Philipp Rühr

Sind Konvertiten Ihrer Erfahrung nach am gefährdetsten—und am gefährlichsten?
Auf jeden Fall. Die Hälfte sind deutsche Kinder, die aus einem deutschen Elternhaus stammen.

Beobachten Sie in der salafistischen Szene irgendwelche neuen Entwicklungen?
Wenn ich das mit den Jahren davor vergleiche, gibt es eine steigende Professionalität der Salafisten. Dass sie ihre Propagandavideos besser machen. Ihre Publikationen zum Beispiel qualitativer drucken. Natürlich hängt das auch sehr stark damit zusammen, dass auch Saudi Arabien da gut reinsteckt.

Aber auch Pierre Vogel zum Beispiel: Wenn Sie sich mal seine älteren Predigten anhören und die jetzigen Predigten. Ich denke, dass der sehr gute rechtliche Unterweisung bekommen hat. Er weiß ganz genau, was er in der Öffentlichkeit sagen darf und was er nicht sagen darf.

Sind die Golfstaaten eigentlich Ihre heimlichen Gegner, die die Salafisten ausrüsten und ausstatten—währen Sie mit den Budgets arbeiten müssen, die Ihnen der deutsche Staat zur Verfügung stellt?
Das ist eine sehr interessante Frage. Um ehrlich zu sein, habe ich mir bisher gar nicht so viele Gedanken darüber gemacht, wer in dem Sinne mein Gegner ist. Das Problem ist einfach: Den Gegner kann man ja nicht personifizieren. Es gibt ja zu viele Akteure, die da mitwirken. So dass da dann auch solche Jugendlichen radikalisiert werden. Aber ich muss wirklich sagen, es macht mich wirklich wütend. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich da die Familien sehe, die vor mir weinen …

Was macht Sie wütend?
Mich macht es wütend, dass einige aus dieser Szene zum Beispiel soviel Propaganda machen und Rattenfänger sind, aber selber nicht den Mut haben, zum Beispiel in der Öffentlichkeit zu sagen: Ja, ich bin ehrlich, ich sympathisiere mit dem IS.

Und es macht mich auch wütend, dass die Salafisten keine klare Position in der Öffentlichkeit beziehen und sagen, entweder wir sind dafür oder wir sind dagegen, sondern immer so hinterrücks, hinter der Tür.

Und wütend macht mich auch, dass so eine schöne Religion so instrumentalisiert wird. Der Islam ist auch meine Religion. Und ich hab ihn ganz anders kennengelernt.

Wie reagiert die salafistische Szene auf Ihre Aktivitäten?
Das hat sich in der Szene rumgesprochen, dass wir jetzt diese Arbeit machen und ein Aussteigerprogramm anbieten. Wir werden jetzt als Heuchler angesehen. Also, wir sind die Verräter, die jetzt mit den Ungläubigen zusammenarbeiten, und das sei ja nicht muslimisch.

Das macht die Arbeit bestimmt nicht leichter, oder?
Das stimmt, aber wir haben uns damit abgefunden. Das ist ja auch in der rechtsextremistischen Szene so. Ehrlich gesagt: Mir und meinen Kollegen macht das keine Angst. Wenn ich zum Beispiel höre, dass Kollegen bei der Polizei oder bestimmte Beamte eine Sicherheitszulage bekommen … Wir haben keine Sicherheitszulage. Wir arbeiten aber mit sehr gefährlichen Persönlichkeiten zusammen.

Haben Sie wirklich nie Angst?
Ich mache das aus reinster, auch religiöser, Überzeugung. Ich und meine Kollegen sind praktizierende Muslime, und mein Prophet sagt mir: Wer den Menschen dienlich ist, der ist ein guter Mensch.

Wir tragen dazu bei, dass Menschenleben gerettet werden, und das ist meine Motivation. Bisher klammere ich ehrlich gesagt diesen Gedanken, mir könnte was passieren, auch aus. Und falls mir was passieren sollte, denke ich dann auch … wenn mir was passieren sollte, Gott bewahre, aber ist das dann eben mein Schicksal.