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Warum im Appenzell das Gastropersonal faktisch kein Stimmrecht hat

Ich war als Zaungast bei der Landsgemeinde in Appenzell-Innerrhoden: Wie es mir als Besucher zwischen eleganten Stimmbürgern, Biertrinkern und Touristen erging.
Alle Fotos von Evan Ruetsch

Schon vom Zug aus sehe ich herausgeputzte Typen, welche die Geleise entlang in Richtung Appenzell marschieren. Wie mir ein Fahrgast erklärt, sind das die ganz Hartgesottenen, die den Weg zur Landsgemeinde zu Fuss zurücklegen—alles Dinge, die neu sind für einen Städter aus Basel, der den Kanton Appenzell Innerrhoden fast ausschliesslich aus der Käsewerbung mit Uwe Ochsenknecht kennt.

Es ist 11:00 Uhr. Vor den Wirtshäusern wird die bevorstehende Landsgemeinde tüchtig mit Quöllfrisch eingetrunken. In Schale und mit Krawatte werden die ersten Bierchen gekippt, dann geht's auf zum Landsgemeindeplatz. Die Männer tragen den Degen fest in der Hand. Früher diente dieser mal als Stimmausweis—und faktisch erfüllt er auch noch jetzt diese Funktion, wie man sieht. „Der Säbel wird geerbt—oder man bekommt ihn geschenkt, etwa zur Lehrabschlussprüfung", erklärt mir einer der Biertrinker.

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Alle Fotos von Evan Ruetsch

Behelmte Feuerwehrmänner schauen genau hin, dass nur Stimmberechtigte den Platz betreten, was keine schwierige Aufgabe ist: Schon von Weitem fällt man in der Menge als Fremder auf—also würde es wohl nicht viel nützen, wenn sich jemand mit einem Säbel aus dem Brocki daruntermischen würde. Unter den gepflegt Gekleideten sticht nur einer heraus: Ein hagerer Typ mit Velohosen mitten auf dem Platz, als sei er soeben mit dem Mountainbike zum Landsgemeindeplatz gefahren.

Um 12:00 Uhr spielt die Musikgesellschaft „Harmonie Appenzell" auf: Es herrscht eine erhabene Stimmung wie beim Einzug von Darth Vader bei Star Wars: Im Takt trottet die Kantonsregierung in wallenden schwarzen Gewändern langsam daher—darunter als Ehrengast die Bundesrätin Doris Leuthard, gefolgt von Bannerträgern.

Ich bin längst nicht der einzige Zaungast—die Landsgemeinde ist eine Touristenattraktion. Sechs Berner, Studenten und Banker, schauen mit Bierflaschen in der Hand zu. „Das ist unsere traditionelle Kulturreise", meint einer von ihnen. „Dieses Jahr wollten wir mal diese Urdemokratie sehen—einfach ein Spektakel". In den Zuschauerreihen treffe ich zudem auf den Politologen Michael Hermann. Jedes Jahr kommt er mit seinen Studenten hierher. „Die Landsgemeinde funktioniert eben gerade als Relikt und touristisches Highlight", meint er. Gespannt ist Hermann auf das Duell bei der Nachfolge um das Amt des Stadthauptmanns. Ein zugewanderter SVP-Golfplatzbesitzer tritt gegen einen alteingesessenen Parteilosen aus der Landwirtschaft an. Das sei so eine Art Kulturkampf in einem Kanton, der zwischen Tradition und einer neuen Rolle im Agglo-Dasein stehe.

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Der Landammann nimmt feierlich das „Landessigill"—ein silbernes Siegel dem 16. Jahrhundert—zur Hand. Dann aber geht's ganz zackig vorwärts, die Hände schnellen in die Höhe, die Amtsträger werden einstimmig bestätigt.

Wie Michael Hermann vermutet hat, wird's erst bei der Wahl des Landeshauptmanns einigermassen spannend. Die Namen der Kandidaten werden hineingerufen—auch derjenige eines Grossrats, der sich eigentlich nicht aufstellen lassen wollte. Beim zweiten Wahlgang wird's aber deutlich, so dass auch hier (wie fast immer) die erhobenen Hände nicht nachgezählt werden müssen: Der landwirtschaftliche Berater Stefan Müller gewinnt gegen den Golfplatzbesitzer Ruedi Eberle. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe mit Touristen aus Ländern wie Kasachstan, Panama und Jordanien schaut dem Prozedere erstaunt zu. „Es ist zwar langweilig, da ich kein Deutsch verstehe—doch dass die Leute da einfach reinschreien können, fasziniert mich", meint etwa Gergö aus Ungarn.

Nun, es war schon viel von den „bewaffneten" Herren die Rede, doch was ist eigentlich mit den Frauen, die hier erst seit 1990 mitmachen können? 25 Jahre danach ist der Frauenanteil bei der Landsgemeinde beachtlich, doch die Männer geben den Ton an, zum Beispiel bei den Wortmeldungen auf dem Podium. Natürlich bleibt auch der Säbel eine Männerdomäne.

Es ist erstaunlich, manchmal schon fast beunruhigend, wie einig sich die Leute sind: Die Wahlen und auch die ersten Sachgeschäft gehen im Schnellzugtempo und nahezu einstimmig über die Bühne. Bei der Einzelinitiative „Wohnen für alle" des Appenzeller SP-Präsidenten hebt sich zumindest die eine oder andere Hand, auch wenn von vornherein klar war, dass diese keine Chance hat. Für leichte Aufregung sorgt schliesslich das geplante Hallenbad: Ein Kredit von 9,5 Millionen Franken wird zurückgewiesen—der Betrag war doch höher als vorher angenommen. Während der ganzen Angelegenheit stehen die StimmbürgerInnen in der prallen Sonne. Schon müssen sich Sanitäter durch die Menge kämpfen: Eine Frau ist umgekippt. Immer wieder wird Wasser verteilt.

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Ich frage mich, was denn eigentlich diejenigen Appenzeller machen können, die am Sonntag malochen müssen. Die Kellnerin im Wirtshaus Taube sagt dazu: „Wer im Gastgewerbe arbeitet, weiss, dass er nicht abstimmen kann". Während drinnen die Leute ihre Siedwurst häuten und Käsehörnli schaufeln, hängen an der Bar drei Österreicher mit Cowboyhüten rum.

Ein Countrysänger namens Juke West soll nach der Landsgemeinde seinen Auftritt haben. Zudem treffe ich auf einen Einstein-Imitator aus dem Schwarzbubenland: Der kauzige Geselle mit schlohweissen Haaren und einer markanten Sonnenbrille ist so etwas wie ein Stammgast an der Landsgemeinde. „Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs habe ich immer wieder Russen an die Landsgemeinde geholt, um ihnen etwas über Demokratie zu zeigen", erzählt er. Schräge Vögel trifft man auch später: Die Musikgesellschaft spielt nochmals auf und wird von einer Frau verfolgt, die hinter ihnen rumtänzelt, als würde sie den Bären aus dem Appenzeller Wappen imitieren. Dabei fuchtelt sie mit einem Hotelprospekt herum. Mit dieser Freakshow zieht sie gleich mehrmals durchs Dorf—der Brüller des Tages für die Zuschauer.

Somit wird die Landsgemeinde zum Volksfest: Im Dorfzentrum nippen die Stimmbürger am Bier, in den Strassen gibt's Säbel, so weit das Auge reicht—auch hier sind Frauen mit von der Partie, doch in den Strassen dominieren die Männer. Im „Rössli Appenzell" wird sogar getanzt und gesungen—wohlgemerkt zu Ländler mit Hackbrett. Obschon als Exote erkennbar, sind die Leute überaus freundlich. Der Besuch aus der Stadt wird humorvoll aufgenommen: „Aus Basel—dort stinkt's, so wegen der Chemie und so?" oder „Dort fliesst dann unser Quöllwasser durch". Die Zecherei ist aber längst nicht vorbei: Man macht noch bis in die frühen Morgenstunden durch. „Heute ist Landsgemeinde, morgen Narrengemeinde", sagt ein Einheimischer und meint damit den blauen Montag der Party-Stimmbürger.

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