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Warum ich Straches „70 Jahre“-Sager nicht skandalös finde

Strache meinte gestern im ORF, die FPÖ könnte „das erste Mal seit 70 Jahren" stärkste Kraft in Wien werden.

Unter „Hanlons Rasiermesser" können sich die meisten nichts vorstellen. Und trotzdem ist die Lebensweisheit, die der Begriff beschreibt, relativ bekannt: „Schreibe nichts der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärt ist." Wer sich an diesen Satz hält, lebt weniger hasserfüllt, wenn auch zugegebenermaßen ein bisschen arroganter.

Dieses Bonmot stößt natürlich immer wieder an seine Grenzen. Zum Beispiel bei der FPÖ, ihren Spitzenpolitikern und Chefideologen. Ein Blick in die jüngere und nicht so jüngere Vergangenheit zeigt klar, dass viele Äußerungen der Partei einfach kalkuliert böswillig sind. Oder doppeldeutig. Oder vielleicht auch dumm und böswillig. Das schließt sich ja nicht grundsätzlich aus.

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Diese Unschärfe führt dazu, dass man gelegentlich nicht weiß, wie man mit Strache-Sagern umgehen soll. So wie gestern Abend. Kurze Rekapitulation: In einer Reaktion auf das Wahlergebnis in Oberösterreich gab Strache im ORF zu Protokoll, dass es in Wien möglich sei, dass die FPÖ „erstmals seit 70 Jahren die stärkste Kraft" werden könnte.

Auch wenn jeder weiß, dass Strache im Oktober nicht Bürgermeister wird—selbst im Fall, dass er Erster wird—schaute das auf den ersten Blick nach einem Empörungsfall wie aus dem Handbuch aus: Strache, Nazis, Provokation—alles da. Dementsprechend gingen danach auf Twitter und später auch auf Facebook die Wogen hoch. Viele regten sich auf, stellvertretend sei hier mal ein Statement von Corinna Milborn, Infochefin von Puls 4, verlinkt.

Wiener Bürgermeister 1945 war Hanns Blaschke. Illegales NSDAP Mitglied seit 1931, Teilnehmer am Juliputsch 1934, SS Mann ab 1938.
— Corinna Milborn (@corinnamilborn) 27. September 2015

Straches Sager lässt sich auf verschiedene Arten lesen, und für alle gibt es Argumente. Zum einen könnte das natürlich ein Signal Straches an den äußersten rechten Rand sein. Es wäre nicht das erste Mal. Außerdem war das offenbar kein richtiger Ausrutscher—die Formulierung nutzt Strache öfter.

Was auch ein bisschen seltsam ist: Die FPÖ gibt es seit 1955. Logischerweise müsste also Strache eine Kontinuität von der FPÖ zur Nazi-Resterampe Verband der Unabhängigen postulieren, und nachdem dieser auch erst 1949 gegründet wurde, sogar zu nicht-organisierten Kräften davor. Historisch ist dieser Bezug nicht falsch—man würde ihn allerdings nicht unbedingt von einem FPÖ-Chef im Hauptabend-Programm zwischen zwei Wahlen erwarten.

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Möglich ist aber auch noch eine andere Lesart. Ich bin mir in dem Fall recht sicher, dass der FPÖ-Chef etwas à la „das erste Mal in der 2. Republik" oder „das erste Mal in 70 Jahren Wahlen" sagen wollte. Das ist inhaltlich immer noch spektakulär, als Sager aber schon deutlich weniger.

Dafür gibt es Gründe über ein Bauchgefühl hinaus. Erstens ist die Formulierung „seit 70 Jahren" recht gängig für die Post-Zweiter-Weltkrieg-Zeit. Im April feierte Österreich den 70. Jahrestag der Gründung der Republik. Das Jahr 1945 ist eben historisch gesehen gleich drei Dinge: Krieg, die „Stunde Null" wie auch ein Wiederbeginn. Darüber hinaus war Blaschke vor 70 Jahren nicht mehr Bürgermeister—er wurde am 17. April 1945 abgesetzt. Natürlich war er damit technisch gesehen „1945" noch Bürgermeister—aber nachdem man Strache ja laufend historische Ungenauigkeiten vorwirft, lohnt es sich, da ein bisschen genauer sein.

Strache sagt oft kalkuliert Schlimmes. Oft ist er aber auch einfach ein mittelmäßiger Redner.

Der zweite Grund ist ein taktischer. Das Verhältnis zwischen Strache und den Burschenschaften ist nicht unkompliziert. Die schlagenden Burschenschaften bilden das Rückgrat der FPÖ-Kaderelite. Man sagt ihnen aber nicht nach, Strache—der kein Studium abgeschlossen hat und „nur" Mitglied einer Pennäler-Burschenschaft war—besonders zu schätzen. Man braucht sich eher gegenseitig.

Strache muss natürlich gelegentlich Signale an Rechtsaußen senden, um zu zeigen, dass er sie nicht vergisst. Aber warum jetzt? Zwei Wochen vor der Wien-Wahl? Das ergibt strategisch überhaupt keinen Sinn. Wie hier recht gut beschrieben wird, ist die FPÖ-Kernwählerschaft—auch durch die Zuspitzung auf das Duell Strache vs. Häupl—mehr oder weniger völlig ausmobilisiert. Die FPÖ wildert im Endspurt eher in bürgerlichen Kreisen herum, wie auch das staatsmännische Statement von Strache als Bundespräsident und die Nominierung von Stenzel zeigt.

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Warum sollte man das jetzt für ein „Hallo!" an den rechten Rand in der Hauptsendezeit torpedieren? Es ist schwer vorstellbar, dass Burschenschafter in Wien in dieser herbei beschworenen „historischen" Wahlsituation nicht zur Urne gehen, weil ihnen Strache nicht rechts genug ist. Das wäre aus ihrer Sicht ziemlich idiotisch. Die Strache-FPÖ wird ihre Politiker und parlamentarischen Mitarbeiter auch weiterhin aus diesen Kreisen rekrutieren, ist also ihr realistischster Weg—wenn schon nicht an die Macht, dann zumindest an die Futtertröge.

Die Erklärung ist in dem Fall glaube ich ganz einfach: Strache ist kein guter Redner. Er stammelt. Er weiß oft nur ungefähr, was er sagen will. Wenn ihm Kickl die Worte nicht diktiert, kommt er ins Schwimmen. So sehr, dass man das sogar aus schriftlichen Interviews herauslesen kann.

Die Empörung über Strache ist grundsätzlich oft richtig. Aber man sollte sich die Empörung meines Erachtens für die Momente aufsparen, in denen die FPÖ nicht nur Skandalöses sagt, sondern auch wirklich meint. Diese Anlässe gibt es ja zur Genüge. Den Sager von gestern kann man aber wohl als das behandeln, was er war—ein schlechtes Statement von einem eher mittelmäßigen Redner.

Ihr könnt Jonas auf Twitter sagen, warum er nicht Recht hat: @L4ndvogt