Hier sehen Menschen zum ersten Mal das Meer

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Popkultur

Hier sehen Menschen zum ersten Mal das Meer

„Ich war ziemlich sicher, dass die Emotion stärker ist als Worte, denn was kann man schon über das Meer sagen?"

Voir la mer, digitaler Film mit Farbe und Ton von 2011, gerahmtes Foto. Auflage 3 Stück. Mit freundlicher Genehmigung von Galerie Perrotin, Paris/New York

Bei meiner Ankunft am Musee d'art Contemporain (MAC) in Montreal herrschten schneesturmartige Wetterbedingungen. Das Museum war für Besucher geschlossen, also trat ich nach einem Klingeln beim Sicherheitspersonal durch eine diskrete Seitentür ein. Innen liefen Ausstellungstechniker geschäftig umher und bauten Ausstellungen auf. Ich deponierte meinen Koffer und meinen dicken Mantel in einem Pressebüro. Ich hatte es endlich geschafft. Ich war (trotz Nervosität) bereit, eine meiner Lieblingskünstlerinnen zu treffen, eine Frau, die ich seit Jahren bewunderte: Sophie Calle.

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Sophie Calle ist vermutlich Frankreichs berühmteste Konzeptkünstlerin. Ich habe schon immer ihre Art geliebt, Bilder und Text zur Vermittlung persönlicher Erzählungen zu verwenden. Ihre Arbeit ist meist zutiefst autobiografisch, was einige Kritiker dazu veranlasst, sie als egozentrisch zu sehen, oder wie der Kunstkritiker des New Yorker Peter Schjeldahl es formulierte: „Sie hat gewisse Vorlieben der Kunstwelt eingesetzt … um sich voranzubringen/zu verwirklichen/in sich zu schwelgen." Wenn Calles Arbeit sich eingehend mit den Leben anderer Menschen beschäftigt, dann wird sie wiederum manchmal als invasiv und ausbeuterisch beurteilt. Ihre Kunst ist in jedem Fall immer intim, obsessiv, irritierend und emotional geladen.

1978, als Calle 25 Jahre alt war, kehrte sie nach 7 Jahren des Umherreisens in Nord- und Südamerika nach Paris zurück. Sie tat sich schwer damit, sich wieder an die modische Pariser Gesellschaft zu gewöhnen, und entschloss sich nach Monaten der Zurückgezogenheit dazu, Menschen auf der Straße zu folgen—nicht, weil sie besonders an ihnen interessiert gewesen wäre, sondern einfach nur, weil es ihr Freude bereitete. „Ich musste einfach nur eine Person auswählen und ihr folgen, und auf diese Weise trieb mein Tag vor sich hin", sagte sie Another Magazine. Es lässt Calle wie eine Flaneurin klingen, doch als sie einem Mann von Paris nach Venedig folgte, bewaffnet mit einer blonden Perücke und einer Kamera, produzierte sie Suite Venitienne (1980), das sehr schnell von französischen sowie internationalen Kritikern bemerkt und gefeiert wurde.

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Calle hat im Laufe ihrer langen Karriere nie damit aufgehört, Ausschnitte aus ihrem Leben in ihre Kunst einzubauen, sie auf schöne und tragische Weise nachzustellen. Vor Kurzem filmte sie ihre Mutter Minute für Minute dabei, wie sie starb (das Werk heißt Rachel, Monique). Und doch produziert sie auch Arbeiten, in denen ihre Neugier und Furchtlosigkeit direkt auf die Leben anderer Menschen gerichtet sind.

© 2015 Sophia Calle / Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris. Mit freundlicher Genehmigung von Sophie Calle und Paula Cooper Gallery, New York

For the First and Last Time ist eine Ausstellung, die zwei von Calles neueren Projekten kombiniert. 2010 schickte man sie nach Istanbul, um Arbeiten für die Kulturhauptstadt Europas zu fertigen. Dort verfolgte Calle eine Idee, die sie seit Blind (1984) mit sich herumgetragen hatte; bei diesem Projekt interviewte sie zwei Dutzend Menschen, die blind zur Welt gekommen waren, und bat sie zu beschreiben, was Schönheit für sie bedeutete. Für The Last Image (2010) sprach sie mit Menschen, die nicht blind geboren, sondern im Laufe ihres Lebens erblindet waren, und bat sie, ihren letzten Anblick zu beschreiben. Alle Antworten wurden von Calle editiert, sodass eine ergreifende, nostalgische Stimmung entsteht.

© 2015 Sophie Calle / Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris. Mit freundlicher Genehmigung von Sophie Calle und Paula Cooper Gallery, New York

Während ihrer Arbeit an diesem Projekt stolperte Calle über einen Zeitungsartikel, in dem es um eine Einwohnergruppe von Istanbul ging, die aus dem türkischen Binnenland kam und noch nie das Meer gesehen hatte. Istanbul ist eine Stadt, die vom Wasser beherrscht ist, und die meisten Menschen dort leben nur etwa 25 Kilometer davon entfernt. Somit weckte der Artikel sofort Calles Aufmerksamkeit, und sie beschloss, einige dieser Menschen ausfindig zu machen und ihre Reaktionen zu filmen, als sie das Meer zum ersten Mal sahen. Das Ergebnis ist ein Projekt namens Voir la mer.

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Die Ausstellung zeigt 14 Kurzfilme auf Großbildschirmen. Wir stehen hinter den Männern und Frauen und werden mit ihnen zusammen zum ersten Mal Zeugen des Meeres, während ihre rührenden, emotionalen Reaktionen in ihren Schulterhaltung und ihren subtilen Bewegungen erkennbar sind. Alle Teilnehmer erhielten die Anweisung, so lange sie wollten aufs Meer zu sehen und sich dann zur Kamera umzudrehen. Manche haben Tränen in den Augen, andere strahlen. „Wenn ein alter Mann oder eine alte Frau noch nie das Meer gesehen hat", sagt Calle, „dann haftet dem Ganzen eine gewisse Dramatik an."

Porträt von Sophie Calle von Sophie Butcher für VICE

Während ich diesen Menschen zusah, wie sie aufs Meer blickten, lief Calle plötzlich direkt an mir vorbei, in 50er-Jahre-Schmetterlingbrille und einem großen Mantel. Sie hatte selbstsicher geföhntes Haar und sah umwerfend französisch aus. Sie unterhielt sich mit einem Techniker darüber, wie die Dinge liefen, und erklärte mir, nachdem ich mich vorgestellt und einen festen Händedruck von ihr bekommen hatte, es gäbe noch viel zu tun. Sie mussten alle Bildschirme ersetzen, mehr Rahmen aufhängen und kleinen Details den letzten Schliff verpassen. Sie überwachte seit drei Tagen den Aufbau der Ausstellung, was nur ein weiterer Beweis dafür ist, wie akribisch sie auf die Präsentation ihrer Arbeit achtet.

Calle hat den Ruf, sie sei schwierig zu interviewen, da sie sich manchmal geweigert hat, Fragen zu beantworten, die sie irrelevant, zu allgemein oder langweilig fand. 2009 schrieb sie: „Ich hätte Geheimagentin werden sollen: Wenn ich geheim genug wäre, dann würde mich niemand fragen, welche Musik ich höre, welche Bücher ich lese oder was der Sinn und Zweck der Kunst ist. Ich beantworte nicht gerne Fragen." Ich hatte mich auf das Schlimmste vorbereitet, und so war ich positiv überrascht von der Aufmerksamkeit, mit der sie sich unserer Unterhaltung widmete.

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Voir la mer, 2011. © Sophie Calle, Adagp, Paris, 2014 mit freundlicher Genehmigung von Galerie Perrottin, Paula Cooper Gallery

VICE: Der letzte Wunsch Ihrer Mutter Monique vor ihrem Tod war es, noch einmal das Meer zu sehen.
Ja, und das tat sie auch.

Hat das etwas damit zu tun, dass sie Menschen zum ersten Mal das Meer zeigen?
Nein, nichts. Sie wollte New York sehen und das Meer. Wir konnten nicht nach New York, aber wir sind ans Meer gefahren.

Voir la mer, 2011. © Sophie Calle / Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris. Mit freundlicher Genehmigung von Sophie Calle und Paula Cooper Gallery, New York

Hatten Sie irgendwelche Erwartungen? Was wäre gewesen, wenn die Türken in Ihrem Projekt nicht auf das Meer reagiert hätten?
Nun ja, ich war auch nicht sicher, dass es funktionieren würde. Ich glaubte daran, aber ich war nicht sicher. Es ist das erste Mal, dass ich keine Wörter verwende—meine Erfahrung mit Türkisch ist, dass es keine direkte Entsprechung gibt und vieles in der Übersetzung verloren geht. Ich war ziemlich sicher, dass die Emotion stärker ist als Worte, denn was kann man schon über das Meer sagen? Das Meer ist überwältigend? Das Meer ist mehr, als ich erwartet hatte? Seine Unermesslichkeit? Ich befürchtete, der Kommentar würde banal wirken verglichen mit dem, was die Augen ausdrücken.

Sie konzentrieren sich auf Details, Augenblicke im Leben—ich habe gelesen, dass es ein Projekt gab, das sie letztendlich nicht gemacht haben, in dem sie Paare fragen wollten, wo sie einander kennengelernt hätten, und dann an diesen Ort gehen—genau am dem Tag zu der Uhrzeit, und zu warten.
Das habe ich nur einmal getan. Vielleicht tue ich es eines Tages noch einmal. Ich hielt es für eine gute Idee, doch ich habe es nicht gemacht.

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Was motiviert Sie, an Ihren Projekten zu arbeiten?
Die Wand, Kunst zu produzieren, Bücher, verschiedene Beschäftigungen … es ist meine Art des Lebendig-Seins. Es ist auch meine Arbeit. Ich mag das Leben, das es mir ermöglicht. Reisen. All das hält mich motiviert. Freude, Emotion, Geld.

Ich habe gehört, Sie wollten gar keine Künstlerin werden, als Sie jünger waren.
Es war nicht so, dass ich nicht Künstlerin werden wollte, es kam mir nur nicht in den Sinn.

Doch heute …
Doch heute bin ich 62 und es ist das komplette Gegenteil; ich kann mir gar nicht vorstellen, keine Künstlerin zu sein. Wenn ich heute die Straße entlanggehe, denn denke ich: „Wie kann ich das verwenden?" Ich höre einen Satz, ich nehme ihn auf, und ich denke, wie kann das zu einer Idee werden? Ich bin mir der Situationen bewusst, ich denke darüber nach, wie ich sie verwenden oder transformieren kann. Gestern verbrachte ich 12 Stunden im Krankenhaus von Montreal. Ich habe ein kleines Gesundheitsproblem. In diesen 12 Stunden gab es 2 oder 3 Stunden, in denen ich Angst hatte, 2 oder 3 Stunden, in denen ich mich langweilte, weil es so eine lange Zeit war, und 2 oder 3, in denen ich mich fragte: „Was kann ich hiermit anfangen?"

Werden Sie jemals wieder nach New York ziehen?
Ich habe mich ein wenig in Paris verliebt. New York war viel belebter, und es war in meinem Alter gut, dort wegzuziehen, sich nicht schützen zu müssen. Aber jetzt bin ich ein wenig fauler, ich spreche gern Französisch, schreibe Französisch, und werde müde, wenn ich nur Englisch rede. Vielleicht ist das ein trauriger Grund, aber mein Alter ist auch ein Grund. Ich mag mein Haus in Paris und die Sprache macht sehr viel für mich aus. Ich verstehe die Tonalität des Französischen, die Aussprache, aber auf Englisch habe ich einfach nicht diese Geschwindigkeit. Ich verstehe nicht die Akzente und die Subtilitäten, und Sprache ist ein Teil dessen, was mir im Leben Freude macht. Das ist das Problem damit, wenn man im Ausland lebt.

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Wenn man über New York sagt, es sei „früher besser" gewesen, ist ein bisschen „ vieux con"—wie sagt man das? „Alter Idiot". Ich hasse es, wenn Leute das sagen. Doch gleichzeitig bin ich wirklich der Meinung, dass New York früher besser war. Vielleicht weil ich jetzt zu alt bin, um es zu kapieren, ich weiß es nicht. Aber ich fand es früher besser.

Empfinden Sie es jemals als Einschränkung, Arbeiten in Galerien auszustellen?
Jedes Mal, wenn ich ein Projekt mache, dann produziere ich ein Buch, um das Projekt zugänglicher zu machen. Es ist eine einfache Lösung, und es bereitet eine andere Art Freude als die Wand. Das Buch ist natürlicher, die Wand ist komplexer, sie erfordert mehr Nachdenken. Eigentlich fällt mir das Buch sehr leicht. Ich liebe es, Bücher zu fabrizieren; die Wand ist viel mehr ein Kampf. Sie sind zwei sehr verschiedene Arten der Freude.

Innenräume können als ein Spiegel der Persönlichkeit fungieren. Sie haben viele ausgestopfte Tiere zu Hause, richtig?
Ich habe viele ausgestopfte Tiere in meinem Haus, mehr als Hundert. Ich fühle mich deswegen kein bisschen morbide. Im Gegenteil fühle ich mich lebhaft, doch ich sammle viele Gegenstände, die mit dem Tod zu tun haben—Bilder von Friedhöfen, ausgestopfte Tiere … Es gibt da eine Anziehung. Ich bin nicht katholisch, aber ich gehe gern an der Kirche vorbei.

Sophie zeigte mir dann ein Foto einer ausgestopften Giraffe, mit einem Schwarzweißbild ihres jüngeren Selbst, das eine Spielzeuggiraffe hält. „Das bin ich, und das ist Monique; sie ist nach meiner Mutter benannt", sagt sie.

Die Giraffe, aus Sophie Calles Serie Les Autobiographies, 2012

Das Fehlen einer Mutter, das Fehlen des Lebens, das Fehlen des Augenlichts, das Fehlen der Liebe. Egal wie alt sie ist, Sophie Calle stellt schonungslos alles in Frage und—ob in den Seiten eines Buchs oder an den Wänden einer Galerie—präsentiert es uns, mit Bedacht und Schönheit.

Danke an MAC, Paula Cooper Gallery, Actes Sud und Siglio Press. Sophie Calles Bücher Voir la Mer und Blind gibt es hier.