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Wie freiwillige Helfer aus der ganzen Welt die Flüchtlingskrise auf Lesbos verändert haben

Wir sind auf die griechische Insel gereist, um mit den vielen Menschen zu reden, die sich aufgrund der schrecklichen Bilder in den Nachrichten aufgemacht haben, um irgendwie zu helfen.
Foto bereitgestellt von Nicola Zolin

Eine kleine Gruppe Freiwilliger hat Position auf einer windgepeitschten, felsigen Anhöhe hoch oben über der Nordküste der griechischen Insel Lesbos bezogen und beobachtet mit Ferngläsern ein Schlauchboot, das ein paar Kilometer in der Ferne auf den Wellen schwimmt. Die Freiwilligen tragen alle Warnwesten mit der Aufschrift „A Drop in the Ocean"—der Name einer Nichtregierungsorganisation, die sich im August nach einem Facebook-Aufruf gründete und der Freiwillige aus der ganzen Welt angehören, die die aus der Türkei ankommenden Flüchtlingsboote registrieren und deren Ankunft helfend unterstützen.

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Ein Schiff der türkischen Küstenwache rückt ins Blickfeld und nähert sich der Nussschale, verdeckt sie kurz, fährt dann wieder weg und geht in der Nähe vor Anker. Es stellt sich die Frage, wie viel die von der EU bereitgestellten Milliarden Euro der Türkei wirklich dabei helfen, die Grenzen für Flüchtlinge dicht zu machen, aber zumindest sind die Leute an Bord des Schlauchboots jetzt guter Dinge.

Unten am Strand macht sich Joaquin Acedo bereit und blickt aufs Meer. Der 33-Jährige gehört zu einer kleinen Gruppe an ausgebildeten Rettungsschwimmern aus Barcelona, die nach Lesbos gereist sind, um Flüchtlinge zu retten.

Die Mitglieder von Proactiva Open Arms arbeiten unentgeltlich und werden auf der Insel als Helden gefeiert, denn sie haben schon unzählige Leben gerettet. Plötzlich rauscht Joaquins Funkgerät. Er hört der Nachricht konzentriert zu und entspannt sich dann wieder.

„Jedem an Bord geht es gut. Sie werden jetzt von Greenpeace an Land gezogen", meint er. „Der Motor läuft, das Wetter ist gut, es regnet nicht. Alles OK!"

Die NGO A Drop in the Ocean überwacht das Meer und achtet auf ankommende Flüchtlinge. Foto: bereitgestellt von Nicola Zolin

Und so kommt es auch: Das Schlauchboot wird sanft an den Strand von Skala Sikaminias geführt, wo die durchnässten Passagiere von einem Haufen griechischer Anarchisten mit einem Lächeln und einem laut gerufenen „Khosh amadid" (Farsi für „Willkommen") begrüßt werden. Hauptsächlich besteht die Flüchtlingsgruppe aus Afghanen und innerhalb von zehn Minuten nach der Ankunft haben sie schon Essen, neue Kleidung und Tee erhalten. Viele Griechen haben bereits in Athen ausgeholfen und während der Sommermonate viele Flüchtlinge und andere obdachlose Menschen aufgenommen. Jetzt sind sie auf den Inseln aktiv.

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Die ägäische Insel Lesbos war einst vor allem als Geburtsort des Ouzos und der antiken Dichterin Sappho bekannt, aber 2015 ist sie dann zum Symbol für Europas Flüchtlingskrise geworden, da dort ein Großteil der Menschen ankommt, die den Kriegen in Syrien, dem Irak und Afghanistan entfliehen wollen.

Schätzungen zufolge sind dieses Jahr mehr als 460.000 Flüchtlinge aus Lesbos angekommen und von dort aus weitergereist. Deren oftmals beschädigten, orangen Schwimmwesten sind zu einem ikonischen Symbol für den Flüchtlingsexodus nach Europa geworden, das sich auch in das kollektive Gedächtnis der Insel mit 90.000 Einwohnern eingebrannt hat. Ein Großteil der Bevölkerung hat dabei selbst Vorfahren, die in den 20er Jahren aus der Türkei gekommen sind.

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Die humanitäre Hilfe, die man auf Lesbos zu sehen bekommt, hat sich im Vergleich zum Sommer deutlich gesteigert, als die erschöpften Ankömmlinge nur von ein paar wenigen örtlichen Freiwilligen und gutwilligen Touristen empfangen und zum Hafen von Mytilini gefahren wurden. Vielen stand jedoch erst noch ein 60-Kilometer-Marsch durch die Berge bevor. Nachdem die Krise auf der Insel dann ein paar Monate später allerdings in den Fokus der Welt gerückt war, haben sich auf dem ganzen Globus viele lose Helfergruppen und internationale NGOs gegründet, deren Mitglieder sich nun auf Lesbos tummeln und Unterstützung liefern.

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Für die Inselbewohner war es nicht immer einfach, mit dem Strom an Flüchtlingen zurechtzukommen. In einer Bar in Mytilini treffe ich einen örtlichen IT-Techniker, der mir von seinen anfänglichen Vorbehalten bezüglich der ganzen Situation erzählt: „Während des Sommers dachte ich, dass wir die Stadt verloren hätten. Wir konnten hier nichtmehr herkommen, weil so viele Migranten zugegen waren. Dann habe ich es jedoch mit eigenen Augen gesehen, wie sie in ihren Booten ankommen, und auch von ihren Qualen gehört. Danach habe ich angefangen, ihnen zu helfen. Ich bin dorthin gefahren und habe ihnen Lebensmittel sowie Wasser gebracht. Meine Vorfahren stammen aus der türkischen Stadt Ayvalık—die Flüchtlingsgeschichte geht niemals zu Ende."

Neue Flüchtlinge kommen auf Lesbos an—2015 waren es laut Schätzungen insgesamt 460.000. Foto: bereitgestellt von Nicola Zolin

Niemand will, dass sich das wiederholt, was am 28. Oktober passiert ist. Allein die Erwähnung dieses Datums sorgt für leere Blicke und betretenes Schweigen. Jeder auf Lesbos erinnert sich noch an den „Tag des Todes", als selbst schwere Stürme die Menschenschieber nicht davon abgebracht haben, marode Fischerboote mit mehr als 200 Passagieren loszuschicken, die dann ein paar Hundert Meter vor der Küste zerschellten. Innerhalb von 24 Stunden sind mindestens 15 Menschen—darunter 10 Kinder—ums Leben gekommen.

Freiwillige, Rettungsschwimmer und Journalisten, die damals dabei waren, wirken immer noch traumatisiert, wenn sie sich an die Versuche erinnern, ein Kind nach dem anderen wiederzubeleben und sie dann doch wegsterben zu sehen. Die Leichenhalle und der Friedhof von Mytilini wissen seitdem nicht mehr wohin mit den Toten. Man schätzt, dass dieses Jahr ungefähr 600 Menschen im ägäischen Meer gestorben sind—den Zahlen der United Nations Refugee Agency zufolge sind im kompletten Mittelmeer mindestens 3625 Personen umgekommen.

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Flüchtlinge aus dem Nahen Osten (und dabei vor allem aus Palästina), die auf Lesbos ankommen, sind vielleicht überrascht, wenn sie bemerken, dass einige der freiwilligen Helfer auch ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Davidsstern tragen—seit September ist nämlich auch die israelische humanitäre NGO IsraAid an den Stränden aktiv. Der israelische Notarzt Salil spricht kurz mit uns, während er sich auf einem Felsen ausruht, nachdem eine weitere Reihe an Booten in der Nähe des Flughafens von Mytilini angekommen war.

„Den meisten fällt gar nicht auf, dass wir aus Israel kommen", meint er. „Die Hälfte unseres Teams besteht aus Palästinensern und die Flüchtlinge sind einfach nur froh, wenn sie jemanden Arabisch sprechen hören. Als das erste Boot ankam, hatte ich echt Schiss. Darauf befanden sich auch vier bewusstlose Passagiere. Bei den Booten mit Kindern hat man am meisten Angst. Ich befinde mich zwar nur eine Stunde von meiner Heimat entfernt, aber hier fühlt es sich trotzdem an wie in einer anderen Welt."

Die Koexistenz von Journalisten und Freiwilligen auf der Insel läuft jedoch nicht immer ganz harmonisch ab. Am 4. Dezember wurde der AFP-Fotojournalist Aris Messinis angeblich von einer Gruppe Rettungsschwimmer zusammengeschlagen, als er die ankommenden Flüchtlinge dokumentieren wollte. Es ist oft zu beobachten, wie überfürsorgliche Helfer die Sicht der Fotografen blockieren und es zum Streit kommt.

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„Die sind doch nur hier, weil sie die Bilder gesehen haben", murmelt ein Fotograf.

Yoris, ein Arzt aus den Niederlanden, sieht dabei zu, wie eine Truppe Freiwilliger um eben angekommene Flüchtlinge herumwuselt. „Ich bin jetzt nicht der Typ Mensch, der andere Leute umarmt", sagt er. „Ich gehe professionell vor und will einfach nur meinen Job erledigen. Ich finde es zwar gut, dass so viele freiwillige Helfer hier sind, aber es fehlt an Koordination."

Die Zustände im Flüchtlingslager von Moria haben sich jedoch schon um Längen gebessert. Dort werden die Ankömmlinge registriert und warten dann auf ihre Weiterreise nach Athen. Normalerweise halten sie sich nicht länger als 48 Stunden auf Lesbos auf. Noch bis Anfang Dezember waren Hunderte Flüchtlinge auf schmutzige und abgenutzte Zelte verteilt, die sich direkt neben Abwasserkanälen befanden. Außerdem ging es für die Menschen oft erst nach Wochen weiter. Heute erinnert die Szenerie jedoch eher an eine Art surreales Festival: Lagerfeuer prägen das Bild, die Akkorde von Johnny-Cash-Liedern erfüllen die Luft und Entertainer beschäftigen sich mit den Kindern.

Foto: bereitgestellt von Nicola Zolin

„Unser Ziel ist es, dass sie sich für ein paar Momente wie die Kinder fühlen können, die sie eigentlich sind. Psychologisch gesehen hilft es ihnen viel, endlich mal wieder zu lachen", erklärt Ulfuz, eine schwedisch-iranische Schauspielerin sowie Mitglied der NGO Clowns Without Borders, gegenüber VICE News. „Die Eltern können sich gleichzeitig auch mal etwas entspannen und werden daran erinnert, mit ihren Kindern zu spielen. Ich habe gestern zum ersten Mal gesehen, wie ein Boot am Strand ankam … Ich darf da jedoch nicht zu sehr darüber nachdenken, weil ich das hier sonst nicht mehr machen könnte."

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Für den afghanischen Flüchtling Noorullah war die Überquerung des Meers jedoch nicht einmal der traumatischste Abschnitt seiner Reise. Beim Warten auf die Registrierungsunterlagen erinnert er sich lebhaft an die tagelange Wanderung durch die pakistanische Berggegend Belutschistan, den Spießrutenlauf mit Schiebern und bewaffneten Kidnappern sowie die Umgehung von schießwütigen Soldaten an der Grenze zum Iran.

„Der erste Eindruck hier zählt—als wir ankamen, reichten uns Frauen direkt Wasser, ein britischer Journalist hieß uns in Griechenland willkommen und die UN-Flüchtlingshilfe transportierte uns in Bussen hierher", erzählt er. „Das war der schönste Teil."

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Einige können ihre traumatische Überfahrt weglachen. Auf der anderen Seite des Lagers hat sich unter den Scheinwerfen und dem Stacheldrahtzaun des Registrierungscenters eine Gruppe kurdischer Journalisten aus dem Irak zusammengefunden. Aral Kakl, ein Produzent von Sky News Arabic, und seine Frau Shevin mussten von dort fliehen, nachdem der Familie gegenüber direkte Todesdrohungen ausgesprochen worden waren.

„Sie ist von Syrien in den Irak geflüchtet. Wir haben uns kennengelernt und jetzt sind wir beide Flüchtlinge. Das hier stellt sowas wie unsere Flitterwochen dar!", meint Kakl. „Unsere Flitterwochen sind die Flucht in die Freiheit. Als wir uns auf einem der ‚Todesboote' befanden, dachte ich, dass wir nach fünf Minuten sinken würden. Ich habe dann nur noch meine Frau umarmt—sie weinte und wir fürchteten um unser Leben. Ich sagte zu ihr, dass sie ihre Augen schließen und sich vorstellen sollte, wir würden tanzen."

„Es ist schon ziemlich schwer zu glauben, dass das hier alles wirklich passiert. Wenn ich meiner Familie und meinen Freunden davon erzähle, wie es mir geht und was ich mache, dann fühlt es sich fast so an, als würde ich das Ganze nur erfinden. Eines Tages haben wir am Strand zum Beispiel einfach so eine Leiche gefunden, die noch ihre Schwimmweste trug … Ich meine, wann passiert so etwas denn schon einem normalen Menschen? Diese Person hatte keine andere Wahl, als zusammen mit 70 anderen Personen in irgendein heruntergekommenes Boot zu steigen. Warum gibt es für diese Menschen noch keine sichere Reisemöglichkeit?"