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Menschen erzählen, warum der Lockdown eine Katastrophe für sie wäre

"Mitte 2019 war ich auf dem besten Weg, es endlich über die Armutsgrenze zu schaffen. Dann kam Corona." – Daniela, 45
Ein Mann läuft nachts durch die Gegend
Foto: Imago Images | Photocase

Deutschland steht vor dem nächsten Lockdown. Das Robert-Koch-Institut verzeichnet innerhalb eines Tages 14.964 neue Fälle.

Auch in Österreich sprechen die Zahlen für sich: 3.394 bestätigte Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden, das sind 559 Fälle mehr als am Tag zuvor.

Wer das hier liest, ist vermutlich nicht Kim Kardashian und kann daher nicht mal eben so tun, als wäre alles normal. Das bedeutet in Kardashians Fall, ihre Liebsten auf eine einsame Insel zu bringen. Was für Kardashian eine einsame Insel ist, ist für andere eine Nacht ohne Angstzustände.

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VICE hat mit fünf Personen gesprochen, die der Lockdown an ihre persönlichen Grenzen bringen würde.


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Daniela, 45, Walding bei Linz

Ich habe vier Kinder, drei davon gehen noch zur Schule. Ich bin Teilzeitangestellte und hatte vor Corona zusätzlich zwei Nebenjobs – durch den Lockdown fiel eine sehr gute Stelle als freie Dienstnehmerin weg. Der Job war nur über Kontakt möglich, ich betreute ein Pflegekind. Ich konnte dem nicht mehr nachgehen, weil mein eigenes Kind ein Risikokind ist.

Ich erhalte aufgrund meiner Teilzeitanstellung keine finanzielle Unterstützung  – einfach, weil ich nicht arbeitslos bin. Die Realität ist aber, dass viele Familien Nebenjobs brauchen, um alle Fixkosten zu decken. Diese Familien werden sich noch ein paar Monate durchkämpfen können, aber irgendwann werden auch die an ihre Belastbarkeitsgrenze stoßen.

Hinzu kommt der extreme Druck, den ich als Mutter habe. Die größte Herausforderung war, Home Office und Distance Learning mit drei Kindern hinzukriegen. Es gab nur wenig Betreuung und Unterstützung von der Schule und lediglich einen groben Wochenplan. Dabei hatten die Kinder echt viel neuen Stoff. Ich bin keine Pädagogin, neben meinen Jobs und der unbezahlten Care-Arbeit auch noch sämtliche Inhalte für die Schule aufzubereiten: Das brachte mich wirklich an meine Grenzen.

Es gab dann auch immer wieder Pädagoginnen, die uns Vorwürfe gemacht haben, weil wir Dinge nicht richtig oder rechtzeitig hinbekommen hatten. Da wurde zeitweise viel Druck ausgeübt, der mich auch sehr belastet hat. Ich wollte natürlich, dass meine Kinder alles erledigen.

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“Die Angst vor erneuter Armut triggert mich extrem.”

Während des ersten Lockdowns begannen meine Tage um sechs Uhr morgens und endeten meist nicht vor Mitternacht.

Die Angst vor erneuter Armut triggert mich extrem. Mitte 2019 war ich auf dem besten Weg, es endlich über die Armutsgrenze zu schaffen. Dann kam Corona.

Die Tatsache, dass immer mehr Menschen von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind, belastet mich unfassbar – und ich bin mit meiner Teilzeitanstellung vergleichsweise noch privilegiert. Die Angst, wieder unter die Armutsgrenze zu fallen, kostet mich viele schlaflose Nächte.

Gisela, 78, Rentnerin aus Jena in Thüringen

Ein weiterer Lockdown wäre sehr schlimm für mich. Mein Sohn lebt aufgrund seiner Behinderung seit zwei Jahren in einem betreuten Heim. Er ist 47 und ich kann mich persönlich leider nicht mehr um ihn kümmern. Ich bin Rentnerin und besuche ihn jeden Tag. Es ist jetzt schon sehr schwierig, weil ich aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen im Heim einen Termin ausmachen muss.

Im ersten Lockdown konnte ich ihn nur vom Fenster aus sehen, wir durften nicht miteinander sein. Das verstand mein Sohn wegen seiner Behinderung einfach nicht. Das noch einmal durchmachen zu müssen, wäre eine sehr große, emotionale Belastung.

Walid, 29, Selbstständiger aus Wien

Der erste Lockdown war finanziell sehr schwierig, weil mit einem Schlag fast alle meiner Jobs zum Erliegen kamen. Ich hatte die unterschiedlichsten Nebenjobs, als frischer Selbstständiger waren viele davon auf Werkvertragsbasis. Das ging von Websites aufbereiten bis zu Catering-Jobs und Foto- und Video-Aufträgen speziell für Hochzeiten. Mit dem Lockdown war ein Großteil meiner Einnahmen weg.

Meine Frau war zu dieser Zeit hochschwanger und auf Karenz – die läppischen 400 Euro, die sie vom Staat erhielt, halfen kaum. Als Alleinverdiener stand ich also unter extrem viel Druck.

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Ich wuchs in relativ armen Verhältnissen auf und ging schon als Teenager verschiedenen Nebenverdiensten nach. Irgendwie wusste ich mir immer zu helfen. Ich war nie abhängig von einer finanziellen Einnahmequelle oder von den Launen eines Vorgesetzten. Diese früh erlernte Unabhängigkeit half mir in meiner Arbeit als Selbstständiger, aber während des Lockdowns waren mir plötzlich die Hände gebunden. Ich konnte nichts tun.

Als Arbeiterkind sind Existenzängste ohnehin schon mein ständiger Begleiter. Und während einer Pandemie, als Vater in spe, war ich wirklich besorgt. Ich lief deswegen oft nachts durch die Gegend, überlegte, was ich tun kann. Ich habe zum Beispiel stundenlang Second-Hand-Webseiten durchsucht, Sachen gekauft, um sie dann teurer weiterzuverkaufen.

Der Gedanke an einen weiteren Lockdown in Österreich bereitet mir Magenweh, obwohl ich sicher bin, dass er bald passieren wird. Ich habe noch ein wenig Erspartes und in den letzten Wochen kam wieder Geld rein, aber ich weiß: Auf Dauer kann das nicht gutgehen. Wie lange soll der Lockdown anhalten? Meine größte Angst ist, dass ich nicht einschätzen kann, wie meine berufliche Situation aussieht.

Marc-André, 29, Schauspieler am Klabauter Theater in Hamburg

Ein zweiter Lockdown wäre für uns Schauspieler sehr blöd. Kommt es zu einem Lockdown, haben alle unvernünftigen Leute zu dieser Situation beigetragen.

Die Situation würde niemandem gut tun, das macht einen einfach traurig, wütend, fassungslos. Wir am Theater hoffen jeden Tag, dass wir weitermachen dürfen. Man überlebt jeden Tag mit dieser Ungewissheit; Jeden Tag könnte die Info kommen, dass das Theater geschlossen wird. Ich arbeite seit neun Jahren hier, montags bis freitags, manchmal auch sechs Tage die Woche. Für mich wäre es ganz schlimm, wenn ich nicht mehr spielen dürfte. Wenn das Theater wegfällt, falle ich in ein Loch.

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Menna, 29, Jugendarbeiterin aus Wien

Sollte es wirklich zu einem zweiten Lockdown kommen, weiß ich nicht mehr weiter. Meine Familie und ich waren vom ersten schon sehr stark betroffen – und ich spreche nicht nur von unserer Psyche. Es geht vor allem ums Existenzielle.

Mein Vater war während des Lockdowns arbeitslos, was für uns bedeutete, dass wir alle das Doppelte und Dreifache beitragen mussten – dabei war die finanzielle Lage meiner Familie auch schon vor Corona eine Belastung. Wir leben zu sechst auf 90 Quadratmetern, der erste Lockdown riss eine große finanzielle Lücken in unsere Familie.

Meine Schwestern arbeiten beide in der Kategorie “Systemerhalterinnen”, das ist zwar großartig für die Gesellschaft. Für uns kann es aber gefährlich sein, da sie täglich mit COVID-19-Patienten in Kontakt sind und mein Vater Teil der Risikogruppe ist.  Zudem steigen die Zahlen an, meine Schwestern arbeiten mittlerweile mit mehr COVID-19-Patientinnen als im März und ich muss auch noch ins Büro, wo es ständig neue bestätigte und Verdachtsfälle gibt. Als wäre das nicht genug, müssen wir ständig auf der Hut sein, weil wir alle in derselben Wohnung leben.

All diese Sorgen wirken sich auf die Psyche, die Arbeit, die Lebensqualität aus.

Ich mache mir auch große Sorgen um Kinder und Jugendliche, mit denen ich arbeite. Sie kommen aus sehr einkommensschwachen Haushalten. Ich wundere mich, wie sie schulische Leistungen erbringen sollen und wie ihre Zukunft aussehen wird, wenn ihnen jetzt schon so viele akademische und soziale Verknüpfungen fehlen.

Obwohl ich wirklich helfen möchte, sind mir aufgrund der jetzigen Maßnahmen die Hände gebunden und vieles muss online erledigt werden. Das ist einerseits kein Ersatz für zwischenmenschliche Interaktionen und andererseits fangen die Hindernisse schon da an, dass die Jugendlichen oft nicht die notwendige, technische Ausstattung zuhause haben. Im Sommer konnten wir wenigstens uns im Park treffen, aber auch das fällt mit dem Winter jetzt weg.

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