Menschen

Abi während Corona: Warum ich so wütend bin

Die Inzidenzen sinken. Was bleibt, ist meine Unzufriedenheit mit dem Schulsystem – und das Gefühl, etwas verloren zu haben.
Ein Klassenzimmer in dem Coronaviren schweben
Home Office: IMAGO / MiS | Viren: IMAGO / Michael Weber | IMAGO / Science Photo Library

Vor zwölf Jahren wurde ich eingeschult und ich weiß noch, wie ich vor dem Schultor stand und dachte: "Wenn es so weit ist und ich mich für die Abi-Mottotage verkleiden kann, dann, ja dann habe ich es geschafft!"

Dachte ich. Dann kam Corona und mein letztes Schuljahr wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ich bin 17 Jahre alt. Man erwartet von mir, dass ich alle Veränderungen einfach so hinnehme, denn für Corona könne ja keiner was. Will ich aber nicht. Ich bin sauer, wütend und enttäuscht - und genervt vom Schulsystem.

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Vergangenes Jahr im März war das letzte Mal alles normal. Jetzt sitze ich, positiv getestet, in meinem Kinderzimmer und frage mich, wie alles so kommen konnte. Den ersten Lockdown habe ich locker genommen, mich vielleicht sogar ein wenig gefreut, weil Schule ausfiel. Zuhause sitzen klang für mich ehrlich gesagt besser, als täglich neun Stunden die Schulbank zu drücken. Da wusste ich noch nicht, dass ich mir irgendwann wünschen würde, wieder zur Schule gehen zu dürfen.

Dass die Situation für Alle ungewiss war, ist keine Frage. Aber jetzt, ein Jahr später, kann ich reflektiert sagen, dass die Schulsituation nicht besser geworden ist.

Dieses "Digitale" ist für viele dann doch ein bisschen zu kompliziert. Lehrer, die nicht wissen, wie man das Mikro bei Zoom anmacht, waren am Anfang noch ganz witzig. Aber ein Jahr später kann ich darüber nicht mehr lachen. Es wird so deutlich, dass Bildungspolitiker und Schulen alles verpennt haben, was mit Internet und Technik zu tun hat. Schulen wirken wie ein Museum. Die Digitalisierung müsste inzwischen doch bei allen angekommen sein, aber Unterrichtsausfälle wegen lahmgelegten Schulservern begleiten mich und viele andere Schülerinnen und Schüler immer noch. Ich soll Abitur schreiben und meine Chancen sind abhängig davon, ob meine Lehrkräfte die Technik verstehen.

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Nicht mehr amüsant finde ich, wie viel digitale Unterrichtszeit verloren geht, weil das Internet hakt oder der Server überlastet ist. Es ist wirklich peinlich, wie wenig geht, weil die Verantwortlichen einfach keinen Bock hatten, sich schon vor vielen Jahren darum zu kümmern, dass Schule modern wird. 

Ich hab den Umgang mit der Technik an meiner Schule als sehr schleichenden Prozess wahrgenommen. Es wurden Computer und Tablets von der Schule gestellt, aber trotzdem weiß immer noch nicht jede Lehrkraft wie man eine Datei richtig speichert. Oft haben wir Schülerinnen dafür gesorgt, dass der Online-Unterricht richtig stattfinden kann, weil das Know-How für Digitalisierung bei Lehrkräften noch nicht umfassend gegeben ist. 

Homeschooling hat meine Struktur ehrlich gesagt zerstört. Ich habe keine physische Abgrenzung zwischen Freizeit und Schule. Das fängt damit an, dass es natürlich viel angenehmer ist, morgens einfach im Bett liegen zu bleiben und den Fernunterricht von dort auszuführen. Bei mir hat sich eine große Trägheit entwickelt. Ich fand es aber noch schwieriger ein gesundes Maß an Arbeitspensum zu finden. Meistens hab ich mich nämlich komplett überarbeitet, um bloß mein Abitur nicht zu versemmeln. Das hat mich psychisch sehr belastet und in dieser Situation hätte ich mir einfach eine stärkere emotionale Unterstützung von der Schule gewünscht.

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Oft wird vergessen, wie doll sich die Krise auf die Psyche vieler Schülerinnen und Schüler auswirkt. Offen und ehrlich gesagt: Mental geht's mir absolut nicht mehr gut. Es ist total beschissen. Denn ich sitze die meiste Zeit zu Hause und habe nicht wie die Jugendlichen in den Jahren zuvor die "Time of my life" - denn das Abi-Jahr sollte doch eigentlich aus Lernen und Feiern bestehen! Frustration beschreibt meine Gefühlslage nur unzureichend. Ich will raus, ich will was erleben und das geht nun mal nicht. Rational gesehen weiß ich, dass es Menschen gibt, die existentielle Ängste haben und dass es mir eigentlich ganz gut geht. Das bedeutet aber nicht, dass ich meine Gefühle einfach so runterschlucken kann.

Ich fühle eine Beengtheit. Kontakt zu einem Haushalt. Anstatt mit 100 Leuten zu feiern, treffe ich nur noch eine Person. Angst ist eigentlich das schlimmste Gefühl, was mich seitdem begleitet. Angst davor, zu viel zu verpassen. Angst davor, Corona nicht in den Griff zu kriegen, Angst davor, für mich wichtige Personen zu verlieren. Diese Angst brennt sich in deinen Kopf ein, wenn du 24 Stunden am Tag Zeit hast, dir Gedanken um Gott und die Welt zu machen. Vor allem wenn du erst 17 bist und denkst, dein ganzes Leben zieht an dir vorbei.

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Meine Laune und meine Hoffnung auf bessere Zeiten sind Tag für Tag gesunken. Nicht weil ich ein Pessimist bin, sondern weil zwischen all den schlechten Nachrichten gar kein Platz mehr für gute bleibt.

Es ist mein letztes Schuljahr, große Pläne schmieden kann ich nicht. Alle großen Events, die für mich eine Art Lichtblick waren, fallen weg. Konzerte, Festivals, 18. Geburtstage, der Abistreich, mein Abiball und die Mottotage natürlich auch. Ich kann, noch nicht mal jobben, weil Läden und Restaurants ums Überleben kämpfen. Das alles löst eine Riesentrauer in mir aus, aber wer bin ich, mich zu beschweren, während Menschen an Corona ihr Leben verlieren? Im Verhältnis hört sich das ganz schön krass an. Noch bevor ich meine Volljährigkeit erreicht habe, wachsen mir graue Haare durch die ganze in mir brodelnde Wut.

Das Schlimmste ist, dass ich niemandem Schuld geben kann. Ich muss mich einfach damit abfinden. Was, wenn ich das nicht will? Niemand hat mir gesagt: "Ich verstehe dich!", denn: Anderen Menschen geht es ja schlimmer. 

Es ist nur diese Ungerechtigkeit, die mich nachts nicht schlafen lässt, denn mir ist klar: Ich kann Corona nicht rückgängig machen und dieses Jahr voller verlorener Chancen werde ich nicht zurück bekommen. Aber ich bin sauer und ich gebe den Verantwortlichen die Schuld dafür, dass es so weit gekommen ist: Die haben immer wieder versagt, mit ihren dusseligen halbherzigen Lockdowns, die nichts bringen, mit der versäumten Digitalisierung der Schulen, mit absurden Hygienevorschriften, die auf Zettel und Stift hinauslaufen und die Nachvollziehbarkeit von Ansteckungen unmöglich machen, und natürlich mit einer völlig verkackten Impf- und Teststrategie.

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Während es mir mental immer schlechter geht, rückt mein Abitur immer näher. Mein Abitur, das ich einfach nur hinter mir haben will. Ich kann nicht mehr – zwölf Jahre Schule mit einem letzten Jahr, das ich garantiert nicht vergessen werde. 

Ich fühle mich wie ein Luftballon, aus dem die Luft rausgelassen worden ist. Kraftlos und müde. Meine Enttäuschung soll gehört werden. Ich schreie so laut ich kann, denn ich halte mich an die Spielregeln, nur das Spiel finde ich einfach doof. 

Gelernt habe ich viel und zwar nicht nur für die Schule. Diese ganze Krise hat mir gezeigt, welche Probleme diese Gesellschaft hat. Solidarität ist überlebenswichtig und das haben viele noch nicht ganz durchblickt. Nicht nur auf die Pandemie bezogen, ist es absolut notwendig, solidarisch zu handeln. Wir müssen zusammenhalten, gemeinsam die Welt retten, anstatt dass jeder in eine andere Richtung läuft. Auch wenn ihr euch wie ein leerer Luftballon fühlt, wenn wir als Einheit agieren, dann können wir die Luft gerecht aufteilen und keiner muss ersticken. 

Ich könnte mich gerade auf mein so sehr gewünschtes Auslandsjahr vorbereiten, ich könnte mich für Praktika bewerben, mir Universitäten anschauen, Studentenheime - Ich könnte mein Leben planen. In ein paar Monaten bin ich volljährig, da sollte mein Leben endlich richtig anfangen. Endlich frei sein. 

Pech gehabt. Stattdessen gucke ich mir monatelang das deutsche Impfchaos in der Tagesschau an. Koordination der Logistik und Bürokratie überfordert unsere Regierung anscheinend. Vor allem ist das doch genau deren Job: Krisenmanagement. Der Impfstoff hängt wie an einer Angel vor uns, aber schnappen tun wir ihn nicht. So langsam geht es voran, aber viel zu spät. Mit jedem Tag länger Corona verliere ich die Motivation, hoffnungsvoll zu bleiben. 

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Mein Traum war "nur" wieder nachts mit meinen geliebten Freunden durch die Straßen zu tanzen, außergewöhnliche Erinnerungen zu sammeln und mich wieder hemmungslos und frei zu fühlen. Einfach jugendlich sein. 

Was mir während der Pandemie helfen würde, wäre ein "ja, es ist scheiße, aber wir schaffen das zusammen". Ich habe mich viel zu lange überhört gefühlt. Ich werde nie meinen Abiball erleben, meine Schulzeit wird ohne großartige Erlebnisse enden. Meinen Frust darüber werde ich nicht los. 

Corona ist für alle mehr als eine Last und damit wir alle irgendwann wieder feiern können, müssen wir zusammenhalten.  

Die Krise hat zu viel von uns genommen, als dass wir sie jetzt noch gewinnen lassen könnten. Also Maske über die Nase ziehen, nochmal tief einatmen und ein letztes Mal Zähne zusammenbeißen. 

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