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Eine Jura-Professorin erklärt, wann Inhaftierte wegen Corona frei kommen sollten

Während die Türkei nach Covid-19-Toten im Knast 90.000 Gefangene freilässt, wird die Lage für deutsche Inhaftierte immer gefährlicher.
Ein Mann läuft neben einer Gefängnismauer
Symbolfoto: imago images | Olaf Döring

Während sich viele Menschen aus Schutz vor dem Coronavirus freiwillig zu Hause einschließen, sind andere ganz besonders gefährdet – gerade weil sie eingeschlossen sind. Knapp 66.000 Strafgefangene leben in deutschen Gefängnissen auf engstem Raum. Social Distancing ist dort unmöglich. Und Covid-19 ist mittlerweile auch im Strafvollzug angekommen.

In mehreren Bundesländern sind Gefängniswärter positiv auf das Virus getestet worden. Meldungen über Verdachtsfälle unter Gefangenen und Personal häufen sich. Mindestens ein Gefangener der JVA Hamburg ist nachweislich erkrankt. Ein Gefängnis in Thüringen nennt derzeit mehr als 60 Corona-Verdachtsfälle. In der sächsischen JVA Waldheim stehen laut einer Sprecherin derzeit 42 Gefangene unter Quarantäne.

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Besonders gefährlich: In Waldheim wurden auch mindestens acht Gefangene der Senioren-Station als Corona-Verdachtsfälle geführt. Und betagte Straftäter sind nicht die einzige Risikogruppe im Knast. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es den ersten Corona-Toten in einem deutschen Gefängnis gibt.


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Nachdem in der Türkei zwei Inhaftierte an Covid-19 starben, lässt das Land 90.000 Inhaftierte frei. Und Deutschland? Muss sich der Staat am Ende vor Gericht verantworten, weil er Häftlinge nicht vernünftig geschützt hat? Und welche Verantwortung trägt der Strafvollzug in Zeiten von Corona? Christine Graebsch ist Jura-Professorin, Diplom-Kriminologin und lehrt zu Strafjustiz und Strafvollzug. Außerdem leitet sie das Strafvollzugsarchiv, das Briefe von Inhaftierten sammelt. Wir haben sie gefragt, ob der Staat in der Krise seine Gefangenen freilassen muss.

Christine Graebsch

"Der Staat hat als allererstes die Aufgabe, die Gesundheit der Gefangenen zu schützen", sagt die Diplom-Kriminologin Christine Graebsch

VICE: In einem Gefängnis in Thüringen wurde der Anstaltsarzt positiv auf Corona getestet und daraufhin wurden alle rund 320 Gefangenen in ihren Zellen eingeschlossen. Was bedeutet es, wenn man die Gefangenen nun fast den gesamten Tag in ihre Zellen steckt?
Christine Graebsch: In einem Rechtsstaat sperrt der Staat Gefangene nicht aus Vergeltungsgründen ein, sondern darf das nur tun, wenn es dafür sinnvolle Gründe gibt. Die leitet man im Allgemeinen aus dem Anspruch ab, Straftäter zu resozialisieren. Dieser Gedanke wird jetzt auf unbestimmte Zeit vollständig ausgehebelt. Wir wissen ja nicht, wie lange diese Situation andauern wird. Da sehe ich das Hauptproblem.

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Es geht nicht allein darum, dass die Gefangenen jetzt dauerhaft in den Zellen eingesperrt sind. Das fängt schon dabei an, dass niemand mehr irgendetwas tun kann, um sich auf das Leben in Freiheit vorzubereiten. Der eigentliche Hauptanspruch des Strafvollzugs ist de facto die Resozialisierung.

Ich sehe natürlich nicht alles, was in den Gefängnissen abläuft, aber das, was man sieht, ist auf jeden Fall ziemlich widersprüchlich – und ein deutlicher Widerspruch zu dem, was Strafvollzug sein soll.

Haben Behörden in der aktuellen Krise eine besondere Verantwortung für Gefangene?
Der Staat hat als Allererstes die Aufgabe, die Gesundheit der Gefangenen zu schützen. Das ist aber nicht alles. Der Staat darf Menschen nur einsperren, wenn er damit dazu beiträgt, dass es später irgendwie besser wird.

Gefangene sind in medizinischer Hinsicht eine besonders gefährdete Gruppe. Viele kommen mit vielfältigen Erkrankungen ins Gefängnis oder sind drogenabhängig. Deutlich öfter als die restliche Bevölkerung sind sie mit HIV oder Hepatitis infiziert. Und typischerweise geht der Staat mit Infektionskrankheiten im Strafvollzug unangemessen um. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass es in fast keinem Gefängnis sterile Spritzen für Gefangene gibt, obwohl bekanntermaßen auch im Gefängnis viele Drogenabhängige weiter konsumieren. Da verkneift man sich Infektionsschutz mit vorgeschobenen Sicherheitsargumenten und auch mit dem eigentlich verboten Argument nach Vergeltung. Der Staat stellt sein Verständnis von Sicherheit vor Gesundheit.

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Von anderen Infektionskrankheiten weiß man, dass diese sich im Gefängnis schneller und stärker verbreiten als außerhalb. Diese Infektionskette setzt sich dann später auch außerhalb des Gefängnis fort. Wenn man im Strafvollzug jetzt nicht aufpasst, wird sich das auf die Situation außerhalb der Gefängnisse auswirken.

Ist es da nicht sinnvoll, dass Gefängnisse sich jetzt abschotten und beispielsweise Besuche verbieten?
Das ist überhaupt keine sinnvolle Maßnahme, weil man gar nicht weiß, wie lang das dauern wird. Es sieht nicht danach aus, dass wir hier nur von einer kurzen Phase reden. Gefangene werden irgendwann entlassen, ohne sich vorher auf das Leben draußen vorbereiten zu können.

Außerdem führt das zu ganz erheblichem Unmut unter Gefangenen. Alle negativen Wirkungen des Strafvollzugs werden jetzt dadurch verschärft, dass man nur noch in Verwahrungskategorien denkt. Der Strafvollzug ist immer sehr schnell darin, alles zu streichen, was aus seiner Sicht als "Vergünstigung" daherkommt. Darum geht es bei diesen Dingen wie Besuchen oder Ausgängen aber ja nicht, sondern sie gehören zum Konzept von Strafvollzug.

Als der erste bestätigte Corona-Fall in einer sächsischen Strafanstalt bekannt wurde, legten am selben Tag zwei Gefangene der Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen ein Feuer in ihrer Zelle. Drohen Deutschland ähnliche Gefängnisaufstände und Ausschreitungen wie in Italien oder Brasilien?
Ich bin natürlich keine Hellseherin, aber ich denke eher nicht. Die Gefängniskultur in Deutschland ist eine andere. Aber wie man sieht, führt so eine Situation zu Verzweiflung. Und Verzweiflung wirkt sich unterschiedlich aus, etwa wenn Gefangene wie in diesem Fall Gewalt gegen sich selbst richten. Das kann bei so einer Brandstiftung schnell auch für andere gefährlich werden.

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Wir haben beim Strafvollzugsarchiv einige Briefe von Gefangenen erhalten, die ihre aktuelle Situation schildern. Fast alle schreiben, dass es nicht stimme, dass sie jetzt mehr telefonieren dürfen. In der Öffentlichkeit wird derzeit dargestellt, dass Besuche eingeschränkt wurden und es stattdessen Alternativangebote gebe. Aber da sagen alle, die uns dazu schreiben, dass es nicht stimmt. Das wird nicht ausgeglichen. Das wäre ja das absolute Minimum, dass man das, was man streicht, mit anderen Sachen ausgleicht. Aber dafür fehlen vielerorts ohnehin Strukturen und Personal. Und jetzt ist das alles noch viel schwerer.

In einem sächsischen Gefängnis gab es nun acht Corona-Verdachtsfälle auf der Senioren-Station. Was passiert, wenn der Staat sich für Corona-Tote in Haft verantworten muss? Können Angehörige den Staat verklagen, weil er Risikogruppen im Gefängnis nicht ausreichend geschützt hat?
Das ist denkbar. Ich kann aber nicht sagen, was dabei herauskommen wird. Einen vergleichbaren Fall hat es bisher nicht gegeben. Möglich wären Strafanzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung oder zivilrechtliche Klagen, um Amtshaftungsansprüche geltend zu machen. Wie ein solches Verfahren ausgehen würde, weiß aber aktuell kein Mensch. Es ist eine vollkommen neue juristische Situation.

Ist es denkbar, dass Gefangene entlassen werden müssen oder ihre Haftaussetzung erstreiten können, etwa weil sie zur Risikogruppe zählen?
Es gibt verschiedene Vorschriften, die es erlauben, Gefangene zu entlassen. Die sind aber nicht direkt auf diesen Fall zugeschnitten. Man kann auch eine Haftunterbrechung beantragen. Das heißt, die Haft würde zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt. Die Behörden könnten das natürlich machen. Einige Bundesländer haben die Vollstreckung einiger Strafen erst einmal aufgeschoben und einige Gefangene bereits entlassen.

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Auch Gefangene können klagen. Gerichte brauchen aber sehr lange, um Entscheidungen zu treffen. Selbst bei einem Eilantrag wartet man oft monatelang auf eine Entscheidung. Da kann man sich natürlich fragen, ob ein effektiver Rechtsschutz noch gegeben ist. Deswegen müssten die Behörden die besondere Situation jetzt zum Anlass nehmen, um zu handeln.

Also sollte der Staat Gefangene in der aktuellen Situation freilassen?
Meine Hauptempfehlung lautet, die Zahl der Gefangenen ganz drastisch zu senken. Damit hat man in den verbleibenden Fällen ganz andere Möglichkeiten zu reagieren, wenn es zu Infektionen kommt.

Der Gedanke von Strafe als Vergeltung ist in der Rechtstheorie nicht mehr relevant. Vor allem anderen dient Strafvollzug der Resozialisierung. Durch sie soll auch die Sicherheit der Allgemeinheit erreicht werden. Statt für die Entlassung nur darauf zu schauen, wie viel Strafzeit sie haben, sollte man weitere Personen entlassen, bei denen die Resozialisierung draußen besser gelingen kann. Wenn Gefängnisse das unter den gegebenen Umständen nicht mehr leisten können, kann man die Menschen auch entlassen.

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