Sex

Männer können auch miteinander schlafen, ohne schwul zu sein – eine Professorin erklärt warum

Genderforscherin Jane Ward will Sex unter Männern entstigmatisieren.
Zwei Männer sitzen Rücken an Rücken, symbolisch für sexuelle Spannung unter Männern
Foto: Imago/westend61

Ein Mann beugt sich zu einem anderen Mann vor, schaut ihm tief in die Augen, küsst ihn. Eine Frau beugt sich zu einer anderen Frau vor, schaut ihr tief in die Augen, küsst sie.

Zwei Szenen, in denen sich zwei Menschen nahekommen. Dennoch werden diese Szenen unterschiedlich aufgefasst. In unserer Gesellschaft ist es akzeptiert, dass sich heterosexuelle Frauen küssen und anfassen – zum Spaß, zum Ausprobieren, einfach so, ohne gleich lesbisch zu sein. Katy Perry kissed a girl. She liked it.

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Bei Männern sieht das anders aus. Männer werden, was Sex mit dem eigenen Geschlecht angeht, stigmatisiert. Es gilt als unmännlich, wenn ein Mann passiv beim Sex ist, anal penetriert wird. Das Eindringenlassen gilt als typisch weiblich.

Die Amerikanerin Jane Ward ist Psychologin und Professorin an der University of California Riverside. Sie hat das Buch Nicht schwul: Die homosexuelle Zutat zur Erschaffung des 'normalen' Mannes geschrieben, das sich mit den Stigmata der männlichen Sexualität auseinandersetzt. Die Message: Die Sexualität von heterosexuellen Männern ist genauso flexibel wie die von heterosexuellen Frauen. Und: Heterosexuelle Männer haben wieder (!) vermehrt Sex mit anderen heterosexuellen Männern – ohne schwul zu sein.


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"Heterosexuelle Männer hatten lange mit einem homophoben Kontext zu kämpfen, der sie fürchten ließ, dass sie als schwul gelten, wenn sie andere Männer anfassen", erklärt Ward. Der Grund dafür liege unter anderem in der Wissenschaft. "Im 20. Jahrhundert glaubten Forscher, dass die Sexualität von Männern sehr starr sei." Die Sexualität von Frauen hingegen galt mehr oder weniger schon immer als fluid. Nun weiß man dank neuer Studien, dass das für die Sexualität beider Geschlechtern gilt.

Denn angefasst haben Männer sich immer, nur hieß das in den vergangenen Jahren eher "Bromance". "Menschen haben lange versucht, diesen Fakt zu ignorieren. Sie haben Ausreden oder falsche Erklärungen gesucht, wieso sich zwei Männer anfassen." Unter Bros hieße es dann eben, dass sie nur "spielen" oder "Spaß machen", sich "schikanieren", wenn eigentlich sexuelle Spannung entsteht. Hauptsache keiner denkt, du bist schwul. In der heterosexuellen Welt der Männer gibt es also unzählige Wege, sich gegenseitig zu berühren und so zu tun, als ginge es dabei nicht um Sex. Dabei geht es oft genau darum: Sex.

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Wie konnte das passieren? Laut Ward ist die Lust zwischen zwei Männern in unserer Gesellschaft so sehr stigmatisiert worden, siehe Paragraph 175, dass sie verdrängt wurde. Dabei gibt es genug Beispiele, in denen heterosexuelle Männer miteinander Sex haben oder hatten – nur unter falschem Vorwand, um nicht als schwul zu gelten.

Jane Ward wurde erstmals im College auf dieses Phänomen aufmerksam. In amerikanischen Studentenverbindungen sei es üblich, dass Männer sich zur Aufnahme in diese Studentenclubs entblößen müssen, sich gegenseitig berühren und zum Teil auch Sex miteinander haben. Aufgenommen werden wollen genau diese Studenten laut Ward aber, um auf Partys zu kommen, auf denen sie Frauen kennenlernen können. Also erst mit einem Verbindungsbruder schlafen, um dann mit Frauen zu schlafen? Bros before hoes.

Und es sind nicht nur Studenten. Auch Soldaten. "Ich habe in einem Fall die US-Botschaft in Kabul untersucht, wo sich Wachen auf Partys gegenseitig penetrierten." Auch in der Navy gebe es Aufnahmerituale, bei denen Männer Sex miteinander haben, sagt Ward.

Weitere Beispiele fand Ward in einem ebenfalls sehr hetero-maskulin dominierten Club: den Hell’s Angels. "Viele Gründer waren im Zweiten Weltkrieg und hatten in Übersee sexuellen Kontakt mit Männern." Zwar war das Bild, welches die Biker damals schon prägten, schon immer sehr heterosexuell – sie hatten viel Sex mit Frauen, fuhren diese auf ihren Motorrädern durch die Gegend. Aber sie küssten auch Männer – mit Zunge. Nach dem Krieg zum Beispiel. "Das war damals sehr schockierend. Manche sagen, sie erlaubten anderen Männern auch, ihnen Blowjobs zu geben." Die Hell’s Angels wollten schockieren und die Normen brechen – und es funktionierte, so Ward: "Die Menschen waren verwirrt, weil da diese tätowierten Männer mit Bart und ihrer gewalttätigen Gang waren, die Frauen verführten. Aber sie nutzen auch Homosexualität als Spektakel."

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Das Konzept von Hetero- und Homosexualität gibt es als solches sowieso noch gar nicht lange, sondern erst seit etwa 150 Jahren. Im Antiken Griechenland und dem Alten Rom wurde es zelebriert, Sex mit dem gleichen Geschlecht zu haben. "Es gibt anthropologische Beweise, dass Menschen zwar damals verheiratet waren, ihre romantischen und sexuellen Bedürfnisse aber auch außerhalb der Ehe befriedigt haben – oft mit dem gleichen Geschlecht,” sagt Ward. Heute unterscheidet man zwischen Männern, die Männer lieben, und Männern, die Frauen lieben. Eines der Resultate: Homophobie. Denn es gibt, neben nicht-binären Menschen und Transpersonen, eine weitere, sehr simple Möglichkeit: Männer, die mit Männern schlafen. Dasselbe gilt selbstverständlich für Frauen.

Wer jetzt glaubt, Jane Ward schreibe über schwule Männer, die geheimen Sex mit anderen Männern haben und sich nicht outen wollen, liegt damit falsch. Sie schreibt über alle Männer.

Jane Ward denkt, dass es mehr Akzeptanz für die freie Entfaltung der eigenen Identität braucht. Nicht jeder Mann, der einmal Sex mit einem anderen Mann hatte, sei gleich schwul oder bisexuell. Ein heterosexueller Mann kann also sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern sammeln, ohne seine sexuelle Identität in Frage stellen zu müssen. Dasselbe gilt für schwule Männer, die Sex mit Frauen ausprobieren. Das ist Fluidität. Dafür müssen jedoch gesellschaftliche Regeln aufgebrochen werden – und genau das passiert jetzt.

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