Interview: Wie aus einer Bundestagskandidatin eine Linksextremistin wurde
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Kommunisten

Interview: Wie aus einer Bundestagskandidatin eine Linksextremistin wurde

Hannah Bruns will all jenen Linken ein Gesicht geben, die den "Staat stürzen" wollen.

Hätte die Linke bei der Bundestagswahl 9,9 Prozent statt 9,2 Prozent geholt, Hannah Bruns säße heute im Bundestag. Auf dem Foto, das Bruns am Wochenende veröffentlichte, steht sie allerdings nicht neben Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi oder Dietmar Bartsch. Stattdessen halten drei Unbekannte in schwarzen Jacken eine rote Fahne mit Hammer und Sichel hoch. Hannah Bruns ist aus der Linkspartei aus- und in die "revolutionäre Bewegung" eingetreten. Die Linksextremistin will den Staat stürzen.

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Die 24-jährige Bochumerin war auf Platz 13 der Landesliste von Nordrhein-Westfalen. Sie wäre die erste Nachrückerin gewesen, wäre ein anderer Linker aus dem Verband zurückgetreten. Jetzt dürfte sich erstmal der Verfassungsschutz für sie interessieren.

VICE hat sie erzählt, wie sie den Glauben an die Linkspartei verloren hat und nun eine kommunistische Partei aufbauen will.

VICE: Du bist am Wochenende aus der Linkspartei ausgetreten und forderst jetzt die "Rekonstitution der KPD" in Deutschland. Was für Reaktionen hast du bekommen?
Hannah Bruns: Gerade junge Leute aus der Linkspartei haben mir geschrieben, dass sie den Schritt mutig fanden und mich verstehen. Die haben ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht. Andere bedauern meinen Austritt. Hochrangige Mitglieder haben sich nicht bei mir gemeldet.

Wo hat dich die Linkspartei enttäuscht?
Die Partei ist verkommen. Beispiel Thüringen. Die Regierung unter der Führung der Linkspartei hat über 600 Leute pro Jahr abgeschoben und hat eine Abschiebequote, die höher ist als die vieler CDU-Länder. Zur selben Zeit sagt die Bundestagsfraktion, man wolle niemanden nach Afghanistan abschieben.

Bei dir in Nordrhein-Westfalen war Sahra Wagenknecht Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl, Sevim Dağdelen ist die linke Bundestagsabgeordnete für Bochum. Beides keine Realos. Haben sie dich auch enttäuscht?
Wenn die Linkspartei in einem Bundesland die Chance hat, mitzuregieren, dann sagt weder der linke noch der rechte Flügel der Partei ehrlich: "Gerade macht es keinen Sinn, die Linke zu wählen, wählt was Anderes oder gar nicht!" Die Berliner, die durch Mietsteigerungen aus ihren Bezirken vertrieben werden, haben nichts davon gehabt, dass sie die Linkspartei gewählt haben.

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Als du 2012 in die Linkspartei eingetreten bist, hast du in deiner Erklärung geschrieben, du wolltest "rein ins Proletariat", "zu den Volksmassen". Wer ist denn heute für dich das Proletariat?
Alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen und kein Eigentum an Produktionsmitteln haben. Dazu gehören sehr, sehr viele Menschen in Deutschland. Jemand, der 3.500 Euro netto im Monat verdient, geht natürlich eher nicht für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straße – anders als jemand, der nur 800 Euro bekommt. Ich konzentriere mich auf die Abgefucktesten von ihnen.

Und die hast unter den Parteimitgliedern nicht gefunden?
Ich dachte, ich würde dort das organisierte Proletariat treffen. Leute, die begriffen haben, dass es nicht reicht, sich am Stammtisch über den Chef zu beschweren, dass man den Staat stürzen muss. Aber in der Partei habe ich viele Funktionäre kennengelernt. Die haben einen anderen Blick auf das Leben und wollen ihren Posten erhalten. Es gab viele Studenten, aber es fehlte an Auszubildenden, Leiharbeitern und anderen Leuten von unten.


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Die Linke hat in Nordrhein-Westfalen keine 7.000 Mitglieder. War es nicht naiv, dort die "Volksmassen" finden zu wollen? In jeder Partei sind überdurchschnittlich viele Menschen mit Uni-Abschluss engagiert.
Ich verwende den Begriff nicht quantitativ, im Sinne von Hunderttausenden Menschen. Die Volksmasse meint Proletarier ebenso wie Kleinbürger, also auch den Kioskbesitzer von nebenan.

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Du warst vor deinem Austritt Nachrückerin der Linken für den Bundestag. Dass Nachrücker tatsächlich im Bundestag landen, ist nicht unwahrscheinlich. Warum hast du die Perspektive, im Parlament etwas verändern zu können, aufgegeben?
Schon bei meinem Parteieintritt hatte ich nicht die Illusion, dass vom Bundestag aus der bürgerliche Staat zerschlagen werden könnte. Aber ich dachte, dass ich als Bundestagsabgeordnete kämpferische und kritische Reden halten könnte. Es gibt den Spruch: "Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten", und er hat sich bewahrheitet. Syriza, die griechische Linke, hat versprochen, mit der Austeritätspolitik zu brechen, und es dann doch nicht getan. Die Linkspartei hätte dasselbe getan.

Aber nur weil ein Regierungswechsel nicht zur Revolution führt, heißt das doch nicht, dass sich nichts ändert.
Reformlinke sind die wahren Illusionäre. Sie behaupten, man könnte den Staat friedlich übernehmen und dann der Arbeiterschaft helfen. Die Geschichte zeigt das Gegenteil. Entweder bringt das Kapital dich um, so wie in Chile, oder du ergibst dich, so wie Syriza. Die Deutsche Bank, der IWF und die Reichen in Deutschland würden eine Verstaatlichung aller Monopole immer verhindern wollen.

Statt Bundespolitik zu machen, willst du dich auf dein Heimatviertel Langendreer-West in Bochum konzentrieren. Warum?
Die Abgefuckten und Wütenden sind hier in der Mehrzahl. Bei der Bundestagswahl hat jeder Zweite in Langendreer-West nicht gewählt. Hinzukommen die fast 10 Prozent, die für die Linke gestimmt haben, und die 13 Prozent AfD-Wähler.

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Glaubst du ernsthaft, dass du mit deinen kommunistischen Parolen jemanden erreichen kannst, der AfD gewählt hat?
Wer Schwule vergasen will, mit dem kann man kein Bier trinken. Ich will aber mit allen reden, Reaktionäre von ihren Positionen abbringen und sie danach agitieren. Wenn ich im Wahlkampf mit AfD-Sympathisanten gesprochen habe, habe ich ihnen gesagt, dass nicht die Geflüchteten Schuld tragen, dass diese Menschen arm sind. Sie meinten dann, die AfD haue wenigstens auf den Tisch, die Linkspartei nicht. Das hat meine Zweifel verstärkt.

Auch viele Linke haben deine Erklärung kritisiert. Wie denkst du über sie?
Die Linken in Deutschland sind in weiten Teilen weder kommunistisch noch revolutionär oder antiimperialistisch. Viele sind Linksliberale, die sich für Geflüchtete und die Homoehe einsetzen und Rassismus ablehnen. Die meisten von ihnen interessieren sich nicht für die politischen Ökonomien, mit denen sich Marx und die Arbeiterbewegung von Anfang an befasst haben. Sie schaffen sich ihre Szenen, sind nett und sympathisch, aber sie kämpfen nicht. Sie sind zufrieden.

Wie bist du Kommunistin geworden?
Ich bin in proletarischen Verhältnissen groß geworden. Meine alleinerziehende Mutter hatte die meiste Zeit nicht so viel Geld. Am Gymnasium habe ich zum ersten Mal andere Kinder getroffen, deren Familien mit ihnen zweimal pro Jahr in den Urlaub gefahren sind und eigene Häuser besaßen. Diese materiellen Unterschiede fand ich unfair. In der siebten, achten Klasse habe ich dann begonnen, viel über Klassenunterschiede, Armut und Schule zu lesen. Auch meine Eltern sind Linke.

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Und wie soll deine Gesellschaft aussehen?
Ich möchte eine Gesellschaft, in der der Mensch nicht über den Menschen herrscht und in der nur zur Bedürfnisbefriedigung produziert wird – und nicht für Profite. Kommunisten wie der FAZ-Redakteur Dietmar Dath haben beschrieben, wie mit Hilfe digitaler Hubs demokratisch gewirtschaftet werden könnte. Ich glaube, das ist nicht allzu schwer.

Du sagst, du willst dafür die Regierung stürzen.
Solange Deutschland Afghanistan ausbluten lässt, das griechische Volk unterdrückt und die unteren Schichten der Arbeiterklasse hierzulande ausbeutet, solange braucht es Menschen, die bereit sind, alles zu tun, was nötig ist. Niemand würde einen faulen Zahn bleichen. Man geht zum Zahnarzt und zieht ihn.

Du bist also bereit, Straftaten zu begehen oder abzutauchen?
Ich habe diese Erklärung öffentlich abgegeben, mit meinem Namen und Gesicht. Wenn eine reale unvermummte Person sagt, dass sie den Staat stürzen und den Kommunismus einführen möchte, dann nehmen das viel mehr Leute wahr. Ich will eine echte kommunistische Partei aufbauen, so wie in Indien und auf den Philippinen. Die Parteien dort führen schon jetzt den Volkskrieg.

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