FYI.

This story is over 5 years old.

bildung

Ich habe ein Jahr lang Deutschkurse für Prostituierte gegeben

Es ging weniger um Wörter wie "Arschficken" oder "Nippelklemmen", als um Redewendungen für den Alltag, die Apotheke, den Supermarkt.

Wenn ich im luxuriösen Freier-Zimmer auf dem Rand des Whirlpools Platz nahm, dann hatten sich meine Schülerinnen meist schon über den Raum verteilt. Vier bis fünf saßen auf dem übergroßen Bett und ungefähr nochmal so viele machten es sich in den Nischen des Raums bequem. Obwohl "bequem" wahrscheinlich nicht ganz das richtige Wort ist.

Der Unterricht fand nämlich immer kurz vor ihrem abendlichen Arbeitsbeginn statt. Und das bedeutete für meine Schülerinnen: Outfits, die in keiner Schule durchgehen würden. Die jungen Sexarbeiterinnen aus Osteuropa präsentierten mir die kürzesten Röcke, die höchsten Absätze und die engsten Tops. Aber ich will hier nicht von den mir ins Gesicht lachenden Titten meiner Schülerinnen erzählen, sondern von Menschen denen ich im Laufe des Kurses zum offenen Ohr wurde.

Anzeige

Als Sexarbeiterin bestimmen ständig wechselnde Machtverhältnisse die Beziehungen zu vielen Männern. Der eine Gast tritt sehr dominant auf. Beim nächsten Freier kann die Frau die Oberhand haben und ihn gemäß ihrem Tempo durch seine bezahlte Zeit führen. Der Betreiber des Bordells zeigt sich an einem Tag gönnerhaft und am nächsten Tag wieder impulsiv. Hinzu kommen noch die privaten Beziehungen, die ebenfalls sehr komplex sein können – nicht ganz unähnlich den privaten Beziehungen von … so ziemlich allen Menschen.


Auch auf VICE: Die digitale Liebesindustrie


Es dürfte niemanden überraschen, dass "die Prostituierte" als Typus nicht existiert. Die Geschichten hinter dieser Berufswahl und die persönlichen Hintergründe sind so vielfältig wie die Fetische der Freier. Eine der traurigsten Hintergrundgeschichten stammte von einer Rumänin, die wortwörtlich in dem Tiroler Bordell gestrandet ist.

Vor dieser Station ihres Lebens hatte sie in einer Schokoladenfabrik in Spanien als Packerin gearbeitet. Dort brachte sie auch ihr Kind zur Welt. Doch die Beziehung zerbrach und die Fabrik baute Personal ab. Deshalb versuchte die junge Frau Anfang 20, den Rückweg nach Rumänien anzutreten. Allerdings hatte sie die Reisekosten unterschätzt und in Innsbruck war erst einmal Endstation für sie.

Zusammen mit ihrem Kleinkind verbrachte sie eine Nacht am Innsbrucker Bahnhof, wo meine spätere Schülerin einem Typen begegnete, der sie freundlich aufnahm. Da er aber selbst arbeitslos war, legte er der jungen Frau schnell nahe, das Haushaltsbudget durch Prostitution aufzubessern.

Anzeige

Alltagsprobleme sind auch ein Teil von Prostitution. Es muss nicht immer der prügelnde Zuhälter sein.

An diesem Punkt in der Geschichte saßen bereits mehrere ihrer Kolleginnen tröstend um sie herum. Sie zeigte mit feuchten Augen auf die kahlen Flecken, die sie unter ihren langen Haaren mühevoll verbarg und die teilweise den Durchmesser einer 2-Euro-Münze hatten.

Sie beteuerte sofort, mit dieser Arbeit aufhören zu wollen. Danach sprach sie nur noch von einer kaputten Waschmaschine und anderen Alltagsproblemen. Auch das ist ein Teil von Prostitution. Es muss nicht immer der prügelnde Zuhälter sein.

Für eine Ungarin stellte die Sexarbeit in Österreich laut ihrer eigenen Erzählung fast eine Art Rettung dar. Sie hatte eine schwierige Zeit in ihrer Heimat durchgemacht – hier konnte sie in einer guten Woche mehrere 1000 Euro verdienen. Mit dem Geld arbeitete sie die Schulden bei ihrem Retter ab, der sie aus zwei Jahren Gefangenschaft und Zwangsprostitution befreit hatte. Solche Umstände werden durch einen legalen Rahmen zumindest teilweise bekämpft.

Genauso vielfältig wie die individuellen Hintergrundgeschichten ist auch das Spektrum der sexuellen Dienstleistungen, die von meinen Schülerinnen verlangt wurden.

Da hätten wir zum Beispiel den reichen Wirtschaftsboss als Gast, der gerne mit neuen Geschäftspartnern feierte, ohne selbst allzu viel Hand anzulegen. Es wurden zwar meistens mehrere Damen gebucht, aber die sollten sich dann eher mit sich selbst beschäftigen und den Säcken hauptsächlich eine Live-Show bieten – die etwas dekadentere Teambuilding-Strategie. Champagner auf Firmenkosten und in rauen Mengen durfte dabei natürlich nicht fehlen.

Anzeige

Bild: Otto Goetze | Wikimedia Commons | Public Domain

Ein anderer Gast feierte die Geburt seines Kindes im Puff und genehmigte sich eine Zigarre und sexuelle Dienstleistungen, während die eigene Frau unter Schmerzen im Krankenhaus lag.

Und dann gibt es da noch eine ganz besondere Kategorie von Kunden, die ein bisschen älter und passiver ist und es auf besonders jung wirkende Sexarbeiterinnen (Lolitas) abgesehen hat, aber auf den Zimmern völlig zufrieden mit Pornos und maximal noch Massagen sind. Laut meinen Schülerinnen kommt es überhaupt nur in knapp einem Drittel aller Fälle zum eigentlichen Koitus – eher entmystifizierend, würde ich sagen.

Sobald jemand "Deutschunterricht im Bordell" hört, beginnt das Kopfkino. Ich kann mich noch an eine Grillerei mit Freunden erinnern. Es wurde langsam langweilig am Tisch. Viele wollten gerade gehen, als plötzlich das Thema Deutschunterricht im Puff aufkam. Alle brachen in Gelächter aus und die Gehenden setzten sich ziemlich schnell wieder hin. Jeder wollte mehr über den Ablauf, die Art der Bezahlung und den Unterrichtsstoff erfahren.

Zu den letzten beiden Punkten musste ich die gespannten Zuhörer leider enttäuschen. Schon allein die Beziehung zu den Schülerinnen hätte eine Bezahlung in "Naturalien" ziemlich eigenartig gemacht.

Es ging weniger um Wörter wie "Arschficken" oder "Nippelklemmen", als vielmehr um Redewendungen für den Alltag, die Apotheke, den Supermarkt.

Immer mehr Bordelle und Laufhäuser schlagen inzwischen einen neuen Weg ein: Sie schaffen für Prostituierte gezielt Anreize, damit diese sich bei ihnen einmieten. Die Fähigkeit zu kommunizieren würde nicht nur das Bettgeflüster etwas interessanter machen sondern auch die Integration der unter teilweise prekären Bedingungen ran gelockten und arbeitenden Sexarbeiter*innen erheblich erleichtern, sowie den Weg zu einem selbstbestimmten Leben ebnen.

Anzeige

Auch in Sachen Unterrichtsstoff musste ich bei den Gesprächen mit Freunden viele auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Nein, am Plan standen nicht in erster Linie Gebrauchswörter für ihren Arbeitsalltag. Sex ist eben eine internationale Sprache – es muss viel weniger übersetzt werden als man vielleicht annimmt.

Prostituierte feiern auch im privaten Rahmen so freizügig, dass neidische Blicke garantiert sind.

Was es eher gab, waren Treffen im privaten Rahmen. Und Prostituierte feiern auch im privaten Rahmen so freizügig, dass neidische Blicke garantiert sind. Nur sollte niemand am nächsten Morgen in ihrer Wohnung aufwachen. Diese Unterkünfte werden nämlich vom Betreiber des Bordells zur Verfügung gestellt – und der versteht weniger Spaß bei Herrenbesuchen als eine erzkonservative Katholikin in den 50ern.

Es ging also weniger um Wörter wie "Arschficken" oder "Nippelklemmen", als vielmehr um Redewendungen für den Alltag, die Apotheke, den Supermarkt. Das ganz normale Material eines Deutsch-als-Fremdsprache-Kurses also. Der Grund, warum der Bordellbetreiber trotzdem für die Kurse zahlte, hatte aber trotzdem – wenig überraschend – mit dem Job zu tun: Mehr Vokabular bedeutet auch längere Gespräche auf den Zimmern und das wiederum heißt mehr Geld.

Insgesamt folgte der Deutschunterricht in meinem Tiroler Bordell aber keiner langfristigen Strategie. Nach anderthalb Jahren wurde er einfach eingestellt, weil der Betreiber ein anderes Kostenmodell wählte: Er erhöhte den Eintrittspreis und ließ die Damen in seinem Etablissement einfach nur mehr ihrer eigenen Arbeit nachgehen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ihm die Aufenthaltsdauer der Freier in den Zimmern ziemlich egal sein.