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Tag der Arbeit in Berlin

So bereiten sich Ladenbesitzer, Touristen und Dealer auf den 1. Mai in Kreuzberg vor

MyFest, MaiGörli, Arbeiterkampftag: Sozialarbeiter kochen "Chili sin Carne", Dealer ziehen ihre Preise an. Was macht Kreuzberg am Tag der Arbeit?
Alle Fotos: Hakki Topcu 

Am Tag der Arbeit arbeitet in Berlin fast nur die Polizei – und alle anderen daran, ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Zehntausende demonstrieren bei der Mai-Demo des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Mitte und bei der "Revolutionären 1. Mai Demo" in Kreuzberg. Zum ersten Mal zieht auch ein nicht ganz ernst gemeinter Protestzug durch das Villenviertel Grunewald, um den politischen Kampf in die "echten Problemviertel Berlins" zu tragen. Zeitgleich steigt in Kreuzberg das 15. MyFest, ein eher unpolitisches Saufgelage, das jeden Verkehr zum Erliegen bringt und den Bezirk mit dröhnenden Bässen und sehr, sehr billigen Caipirinhas flutet. Zusätzlich findet in diesem Jahr auch noch der MaiGörli im Görlitzer Park statt. Und ja, es wird MyFest, aber MaiGörli geschrieben. Muss ja nicht alles logisch sein am 1. Mai.

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Im ganzen Viertel herrscht strenges Glasflaschenverbot. Deswegen sind die Straßen spätestens am Nachmittag so zugemüllt mit Plastikbechern, Essensresten und weggeworfenen Kleidungsstücken, dass der ganze Stadtteil aussieht wie nach einem Kindergeburtstag bei McDonald's.

War der 1. Mai in Berlin-Kreuzberg in den 1980er Jahren noch politischer Straßenkampf, bei dem Autos in Brand gesetzt und Supermärkte geplündert wurden, hat das Fest in den vergangenen Jahren immer mehr Partytouristen angezogen. Und für ordentlich Ärger gesorgt: Anwohner störten sich am Müll und an der Lautstärke, Aktivisten daran, dass das MyFest mit dem Arbeiterkampftag wenig zu tun hat. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg will das Fest in geordnete Bahnen lenken. Dessen Sprecherin, Sara Lühmann, sagt: "Musik soll es nur bis 23 Uhr geben." Die anschließende Aftershow-Party finde im Club statt.

Mit anderen Worten: Die Erwartungen sind genau so hoch wie die Sorgen und die Planung ist kompliziert. Wir haben in Kreuzberg nachgefragt, wie sich Anwohner, Kellner, Ladenbesitzer und Aktivisten auf den 1. Mai vorbereiten.

"In den vergangenen Jahren hat uns ein illegaler Rave zwischen 35.000 und 50.000 Euro gekostet" – Cengiz Demirci, 45, Parkmanager des Görlitzer Parks. Und Sara Lühmann, 32, Sprecherin Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg

Sara Lühmann, Sprecherin Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, und Cengiz Demirci, Parkmanager des Görlitzer Parks, vor einem Bauwagen

"Wenn die Sonne scheint, wird der Park richtig voll sein. Mir als Parkmanager ist es wichtig, dass – Achtung, Doppeldeutigkeit – das Vollsein kontrolliert verläuft. Letztes Jahr war das nicht so: Wir haben acht Kubikmeter Flaschenmüll weggeräumt, das waren 3,5 Tonnen. Außerdem hat uns ein illegaler Rave zwischen 35.000 und 50.000 Euro gekostet, weil Pflanzen, Sträucher und Rosen zertrampelt wurden.

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Dieses Jahr sollen die Menschen Spaß haben, ohne dass hier alles verwüstet wird. Im Vorfeld des 1. Mai haben wir die Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt aufgenommen. Wir haben eine Obergrenze von 12.500 Parkbesuchern festgelegt. Die Parkodner sorgen mit Einlasskontrollen und Luftaufnahmen dafür, dass die nicht überschritten wird. Zusätzliche Kontrollen gibt es durch die Parkläufer, sodass weder Bier noch Pyrotechnik oder Waffen reinkommen. Verkaufsstände sind verboten. In den letzten Tagen haben wir Steinhaufen beseitigt und Anwohner mit Hilfe von Flugblättern informiert."

"Ich unterstützte das MyFest nicht, weil ich finde, dass das eine üble Kommerzveranstaltung ist" – Annett, 49, arbeitet im SO36

Annett, Mitarbeiterin des Clubs

"Ich ziehe mich aus dem 1. Mai heraus. Es hat sich vieles verändert in den letzten 40 Jahren. Früher gab es militante Auseinandersetzungen, heute ist alles durchgeplant und darauf aus, Profit zu machen. Aber die Zeiten sind nicht vergleichbar. Das Konzept der Stadt, den Kiez mit Geld zu befrieden, ist definitiv aufgegangen.

Ich persönlich will das MyFest nicht unterstützen, weil ich finde, dass das eine üble Kommerzveranstaltung geworden ist, die Ballermanntouristen in unseren Bezirk zieht. Von uns Kreuzbergern profitiert niemand so wirklich, das Fest trägt nur weiter zur Gentrifizierung bei. Das heißt, im SO36 ist dicht. Ich werde durch das Villenviertel im Grunewald ziehen und protestieren, das ist meiner Meinung nach die netteste Aktion."

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"Am 1. Mai treffen sich Kreuzberger auf der Straße – ob sie Döner, Bier oder Asia-Essen verkaufen, ist zweitrangig" – Ercan, 59, Inhaber des Café Kotti

Ercan, Inhaber des

"Der 1. Mai ist für mich ein Tag der Begegnung für ganz Kreuzberg. 70 Prozent von uns haben einen Migrationshintergrund und kommen aus 90 Ländern. Am 1. Mai treffen sie sich auf der Straße – ob sie Döner, Bier oder Asia-Essen verkaufen, ist zweitrangig. Ich fühle mich als Kreuzberger, das ist meine Heimat. Der 1. Mai bedeutet für mich nicht Klassenkampf der Arbeiter gegen das Kapital, sondern Begegnung für einen Stadtteil. Das wollen wir nach außen kommunizieren. Deshalb haben wir am 1. Mai auch geöffnet und stemmen das Fest mit unseren 22 Mitarbeitern, aber gleichzeitig will ich einfach durch meine Anwesenheit ein Zeichen setzen: dass es nicht um Religion, Hautfarbe und Nationalität geht, sondern um Begegnung von Menschen, die unterschiedlich sind. Das ist für mich die Essenz des 1. Mai in Kreuzberg."

"Chili sin Carne kochen – und gegen Spende verkaufen" – Saskia, 25, Robin, 29, und Jörg, 38, Sozialarbeiter im Jugendprojekt Kreuzer

Saskia, Robin und Jörg, Sozialarbeiter im Jugendprojekt

"Wir arbeiten in diesem Jahr mit Jugendlichen zusammen. Zum 1. Mai führen wir ein Projekt mit dem Jugendparkrat durch, also der Stimme der Jugend im Görlitzer Park. Am 1. Mai werden hier mehrere tausend Menschen sein, der Park wird voll und wir haben beschlossen, Chili sin Carne mit den 12- bis 17-Jährigen zu kochen und gegen Spende zu verkaufen. Durch den Verkauf wollen wir Gelder sammeln, die es den Jugendlichen ermöglichen, ihre Träume zu verwirklichen, also etwa eine Skateboardbahn zu bauen oder eine legale Graffiti-Wand im Park zu errichten. Wir haben vorgeschlagen: Wir helfen euch, ihr kocht. Beim Verkauf sind wir zusammen tätig."

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"Es ist unfair, dass Genehmigungen für den Alkoholverkauf so selektiv verteilt werden" – Erhan*, 71, Verkäufer in der Oranienstraße

Blick in einen Laden mit Sonnebrillen und Kleinkram in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg

"Wir haben diesen Laden schon insgesamt 40 Jahre und beobachten mit Sorge, wie sich der 1. Mai in Kreuzberg entwickelt. Früher war es politisch und gewaltvoll, dann politisch und friedlich – und heute geht es nur noch ums Feiern und Geldverdienen. Wir finden es unfair, dass Genehmigungen für den Alkoholverkauf so selektiv verteilt werden. Es gibt vier, fünf Läden, die beim MyFest Alkohol ausschenken dürfen und sehr viel Umsatz machen. Anderen ist das hingegen verboten. Letztes Jahr haben wir noch Kuchen verkauft, aber dieses Jahr schließen wir den Laden und bleiben zu Hause. Die Oranienstraße riecht nach dem Tag der Arbeit nach Bier und Urin."

"Die Leute gehen ja nicht zum Pissen aufs Klo, sondern um zu ballern" – Vladi, 27, und Kajo, 29, Betreiber des Goldies

Die Betreiber des Imbisses

"Normalerweise verkaufen wir Bier nur aus der Flasche, für den Dienstag haben wir extra eine Zapfanlage geordert. Das mussten wir auch, weil in Kreuzberg am ersten Mai Glasflaschenverbot herrscht. 500 Liter Bier haben wir im Keller, dazu 200 Kilogramm Pommes. Wenn die Pommes irgendwann aus sind, dann machen wir halt zu.

Wir mussten ein paar mehr Leute ranholen, als hier normalerweise arbeiten. Wir schmeißen den Laden am Dienstag zu zehnt. Wir haben einen Türsteher, der aufpasst, dass es mit den Besoffenen nicht zu viel Stress gibt. Kajos Vater steht auch an der Tür, der ist ein halber Sozialarbeiter und kann brenzliche Situationen gut einschätzen. Wer auf Klo muss, zahlt 50 Cent. Das haben wir zwar diskutiert, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass es anders nicht geht. Die Leute kommen ja nicht nur zum Pissen, sondern vor allem auch, weil sie auf dem Klo ballern wollen. Da kann es gut sein, dass irgendwas kaputt geht. Und das zahlen wir dann mit diesem Geld.

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Wirklich politisch wird es bei uns nicht. Das einzige politische Statement ist ein Bild, das wir aufhängen. Normalerweise haben wir immer einen russischen Wodka verkauft, Russian Standard. Jetzt sind wir auf einen weißrussischen umgestiegen. Auf dem Bild sieht man eine Flasche davon und dahinter ein schwules Paar, das sich in Moskau küsst. 'Not the Russian Standard' steht darunter. Politischer wird es bei uns aber nicht."

"Wir waschen seit zwei Wochen die ganzen Pfandflaschen aus und füllen dann die Getränke um" – Andrea, 40, Verkäuferin an der Tankstelle Aral

"Wir dürfen am 1. Mai weder Glas noch Dosen verkaufen. Alles, was im Shop aus Metall oder Glas ist, muss raus, da es als Waffe oder Wurfgegenstand verwendet werden könnte. Deshalb verkaufen wir Wein und Spirituosen in PET-Flaschen. Wir sammeln seit zwei Wochen die ganzen Pfandflaschen, waschen sie aus und füllen dann die Getränke um. Damit kein Beschiss stattfinden kann, machen wir das immer vor den Augen der Kunden. Weil wir die Glasflaschen nicht verkaufen dürfen, haben wir uns eben diese Möglichkeit überlegt. Es wäre viel einfacher, wenn wir die Getränke in Becher füllen dürften. Geht aber nicht, weil wir keine Ausschanklizenz haben. Völlig bescheuert.

Bei uns wird es extrem voll. Die Spätis haben fast alle zu, und wir sind dann durch den Feiertag die einzige Einkaufsmöglichkeit. Deshalb kommen die Leute hierher, wenn sie Zigaretten oder Getränke brauchen. Wir haben über zehn Securitys hier, die aufpassen, dass es keinen Stress mit den volltrunkenen Leuten gibt. Die meisten Diskussionen haben wir wegen dem Umfüllen der Getränke. Obwohl wir extra einen Aushang machen, verstehen die Leute das nicht.

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Mir persönlich ist der 1. Mai latte. Er bedeutet einfach nur viele Partytouristen und einen stressigen Arbeitstag. Was mich nervt, ist die Demo. Wenn die wie letztes Jahr wieder durch das MyFest geht, fände ich das richtig scheiße. Da sind viele Familien mit Kindern und Gewalt hat da nichts zu suchen. Da hab’ ich kein Verständnis für."

"Ich werde schwarze Kleidung mit Glitzer tragen" – Caro, 21, Studentin

Die Studentin Caro in Berlin-Kreuzberg

"Ich werde schwarze Kleidung mit Glitzer tragen. Schwarz, um zu zeigen, dass ich die Autonomen und Antifa unterstütze und gut finde, dass sie protestieren. Und Glitzer, um zu zeigen, dass ich mich der Straßenfest- und Open-Air-Kultur anpasse. Obwohl meine Familie in den 80ern selbst hier gelebt hat, werde ich mich an politischen Veranstaltungen nicht beteiligen. Ich komme aus dem Rheinland und werde versuchen, die Karnevalskultur nach Berlin zu bringen: das heißt Frühschoppen, in den Görli, dort weiter trinken und Musik hören."

"Ich demonstriere für ein anderes Politikmodell" – Annette, 60, Verkäuferin im Bio-Laden 'Kraut und Rüben'

Blick in den Bio-Laden

"Als Kraut und Rüben haben wir geschlossen, als Privatperson positioniere ich mich und gehe auf die Demonstration in Kreuzberg. Ich demonstriere für ein anderes Politikmodell. Es ist heute eine Klassengesellschaft, die Schere geht immer weiter auseinander, ohne dass das benannt wird. Es wird so getan, als gäbe es keine Alternativen. Der 1. Mai ist heute entpolitisiert. Es geht nur noch um den Kommerz – und Menschen trampeln im Bezirk alles nieder. Die Party zieht unheimlich viele Menschen an. Ich versuche aber den politischen Kampf fortzuführen."

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"1. Mai ist auch wie Spring Break" – André, 34, Anwohner:

André, ein Anwohner, am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg

"Ich wohne seit vier Jahren am Oranienplatz, meide aber die Demonstrationen, weil ich nicht mit politischen Konflikten in Berührung kommen und von der Polizei registriert werden will. Die demonstrieren ja gegen Kapitalismus, also sie wollen die Geldsäcke boykottieren, das finde ich privat eigentlich auch gut. Wenn es aber schon tagsüber zu Ausschreitungen kommt, bleibe ich zu Hause. Auch wenn ich finde, dass die Demos mittlerweile glimpflicher ablaufen. 1. Mai ist auch wie Spring Break — eine neue Zeit, die anbricht. Für diesen 1. Mai versuche ich, einer Freundin bei der Polizei, die an dem Tag Geburtstag hat, gute Gedanken zu schicken, damit alles ruhig abläuft."

"Normalerweise kostet ein Joint 5 Euro, am 1. Mai kostet er 10 Euro" – Dealer im Görlitzer Park, 20

Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg

"Ich hab für den 1. Mai extra Gras aus den Niederlanden besorgt. Wenn die Leute feiern wollen, brauchen sie gutes Zeug. Im Prinzip kannst du hier aber alles kaufen, außer Heroin. An diesem Tag sind viele Touristen in der Stadt, die was kaufen wollen. Viele Leute können und wollen ihre Joints nicht selber bauen, deswegen drehen wir die vor. Normalerweise kostet ein Joint 5 Euro, am 1. Mai kostet er 10 Euro.

Es sind zwar mehr Polizisten im Görli, aber weder interessiert es die Polizei, ob wir hier Weed verkaufen, noch interessiert es uns, dass die Polizei hier ist. Denen ist das am 1. Mai noch egaler als sonst."

"Der 1. Mai ist ein Feiertag, kein Stresstag" – Sinan, 38, Inhaber der Kek Bar

Sinan, Inhaber der

"Unser Laden bleibt quasi zu. Wir machen nur das Fenster auf und verkaufen Bier aus Plastikbechern nach draußen. Eine Sorte reicht. Manche trinken zwar lieber Rum, aber die sind dann übertrieben besoffen und können die Menge nicht mehr unter Kontrolle halten. Der 1. Mai ist ein Feiertag, kein Stresstag. Wir trinken mit, wir feiern mit. Geld ist nicht unser Ziel, das kommt sowieso."

*Name geändert

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