Daniel David Tibi kann den Dreck, die Leichen, die Schlägereien und die Folter nicht vergessen. Dabei ist der Franzose seit über 20 Jahren wieder in Freiheit. Der Edelsteinhändler war in Ecuador unterwegs, als ihm die Behörden fälschlicherweise Drogenschmuggel vorwarfen. Sie steckten ihn im September 1995 ins Litoral Penite, eines der brutalsten Gefängnisse des Landes. Fast drei Jahre lang blieb Tibi dort, ohne Gerichtsverfahren und ohne Anwalt. Während der Haft hatte er nur zwei Ziele, wie er heute erzählt: überleben und seine Unschuld beweisen – trotz Korruption und Gewalt.
Beides ist ihm gelungen. Vergangenes Jahr reiste Tibi zurück nach Ecuador, um die dortige Regierung zu verklagen. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon zu seinen Gunsten entschieden: Ecuador hat demnach die Menschenrechte von Tibi und dessen Familie verletzt, weil Tibi ohne Haftbefehl festgehalten und gefoltert worden war – mit Prügel, Waterboarding und Verbrennungen durch Zigaretten. In dieser Zeit hat Tibi auch noch die Geburt seiner Tochter verpasst.
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Heute wirkt Tibis gezeichnet von dem, was er in Ecuador durchlebt hat. Über die schlimmste Zeit seines Lebens hat er nun ein Buch geschrieben: Dans L’enfer d’une Prison Équatorienne, In der Hölle eines ecuadorianischen Gefängnisses. Wir haben mit ihm über die Haft und seinen Kampf ums Überleben gesprochen.
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VICE: Wie lässt sich ein Ort voll von Gewalt und Korruption überleben?
Daniel David Tibi: Ich glaube, ich habe nur überlebt, weil ich Ungerechtigkeit so hasse. Dieser Hass hat mich immer neu angetrieben. Außerdem wusste ich, dass ich bald Vater werden würde. Ich schwor mir, da rauszukommen, um diese Rolle erfüllen zu können. So bin ich nicht verrückt geworden.
Um in einem solchen Gefängnis zu überleben, musst du dich komplett anders verhalten und die Dinge anders betrachten. Dort triffst du auf Menschen, denen das Leben nichts wert ist. Dementsprechend musst du dich anpassen. Wenn dich jemand provoziert, musst du wortwörtlich kämpfen – vor allem, wenn du aus einem anderen Land kommst. Die Lebenserwartung von ecuadorianischen Häftlingen ist gering, die von Ausländern noch geringer.
Hast du je daran gedacht, einfach aufzugeben?
Ich habe wirklich mehrmals meinen Kampfeswillen verloren, weil ich körperlich nicht mehr konnte. Ich nahm extrem ab und war mir häufig sicher, komplett am Ende zu sein. Ich konnte mich zu keinem Zeitpunkt sicher fühlen. Die schlugen mir das Gesicht kaputt und verbrannten mich mit einem glühenden Eisen. Mein absoluter Tiefpunkt kam aber, als meine Freundin mit den Kindern zurück nach Frankreich ging. Da fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor.
Wie sah dein Alltag im Gefängnis aus?
Ich habe immer versucht, mich irgendwie zu beschäftigen. Ich habe mit Holz gearbeitet, gezeichnet, alle möglichen Dinge repariert und eine Gitarre gebaut. Dann habe ich mich eingehend mit den ecuadorianischen Strafgesetzen beschäftigt, vor allem mit denen zum Thema Drogen. So konnte ich meinen Fall voranbringen und bei den höheren Gerichten Berufung einlegen.
Weil ich den Richter konfrontierte, der mich ins Gefängnis gebracht hatte, erarbeitete ich mir Stück für Stück den Respekt der anderen Insassen – und ein bisschen Sicherheit. Ich erklärte ihnen, dass ich natürlich vorrangig für meine Freiheit kämpfte, aber auch gegen die Umstände bei uns hinter Gittern. Wir machten ja alle den gleichen Albtraum durch. Ich bekam dann Hilfe von den Familien der anderen Häftlinge. Und bald auch von den Häftlingen selbst.
Du hast dich von deiner Zelle aus mit dem Richter angelegt?
Vielen ecuadorianischen Journalisten wurde klar, dass mein Kampf mit dem Richter viel hergibt. Also fingen sie an, darüber zu berichten. Ich konnte dem Richter vor allem seine vielen Widersprüche und Lügen vorwerfen. Er konnte mir hingegen nichts anlasten. Dann schrieb der französische Journalist Alain Abellard über mich und verurteilte das ecuadorianische Rechtssystem, in dem man einen Franzosen anscheinend ohne Beweise und Anklage festhalten konnte. Schließlich schalteten sich die französischen Diplomaten mit ein: Sie brachen zum Beispiel jegliche diplomatische Beziehungen zu Ecuador ab, bis ich wieder in Freiheit war.
Wie lief der Tag deiner Freilassung ab?
Das weiß ich noch ganz genau. Eines Tages besuchte mich der Generalkonsul von Frankreich und sagte, ich solle meine Koffer packen, wir würden sofort aufbrechen. Ich glaube ihm erst mal nicht – und hatte zudem Angst davor, zu gehen. Ich hatte mich irgendwie an die schlimme Atmosphäre im Gefängnis gewöhnt. Ich dachte mir: “OK, ich komme hier raus. Aber was mache ich dann draußen?” Meine Familie war längst weg. Und ich musste neu lernen, mein Leben nach den normalen Regeln der Gesellschaft zu leben.
Kannst du diesen Lernprozess beschreiben?
Ich musste mich komplett neu aufbauen, vor allem körperlich. Man hatte mir im Gefängnis mit einem Baseballschläger ins Gesicht geschlagen. Mein halbes Gesicht war zertrümmert, ein Auge kaputt. Meine Zähne waren ausgeschlagen, irgendjemand hatte mich mit einem glühenden Eisen verbrannt. Ich hatte Löcher in meiner Bauchdecke. Zudem litt ich unter neurologischen Problemen, die erst nach einer Weile wieder weggingen. Nach meiner körperlichen Genesung musste ich aber auch meinem Leben wieder einen Sinn geben. So landete ich wieder bei meinem ursprünglichen Beruf, dem Edelsteinhandel.
Du hast nicht nur Zivilklage gegen Ecuador eingereicht, sondern auch die ecuadorianische Regierung vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht. Warum?
Auf diese Weise konnte ich das Gefängnis auf dem ehrlichen Weg, sozusagen durch die Vordertür, verlassen. Auch wenn das nicht einfach ist. Vergangenen Sommer kehrte ich für den Beginn des Prozesses nach Ecuador zurück, und es kamen direkt wieder diese negativen Gefühle hoch. Diese Horrorzeiten erneut zu durchleben und die Leute von damals wieder treffen zu müssen, das ist schon eine sehr emotionale Erfahrung. Außerdem habe ich mir während der Prozessanfänge einige Feinde gemacht. Deswegen konnte ich nur als Teil eines Zeugenschutzprogramms nach Ecuador zurückkehren.
Du bist frei, wieso kämpfst du weiter gegen das Rechtssystem eines anderen Landes?
Als ich aus dem Gefängnis freikam, versprach ich den anderen Häftlingen, ihnen so schnell wie möglich zu helfen. Ich habe nichts gegen Ecuador, ich kämpfe nur für die Menschenrechte.