Der Autor weist sich selbst den Weg die Gleise entlang. Ein Hund unter einer Deutschlandflagge.
Es geht nach Brandenburg | Alle Fotos: William Veder
Politik

Corona-Käfig: Was du auf 15 Kilometern alles erleben kannst

Auf dem beschwerlichen Weg zur neuen unsichtbaren Mauer warten Schneeregen, Schland, Donald Trump und Spiderman.

Auch wenn man nur noch 15 Kilometer weit weg darf, sollte die Frage erlaubt sein: Will man überhaupt? Meine Wetter-App sagt Schneeschauer voraus. 100 Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit. Temperatur: 3 Grad. Dazu der Hinweis: "Gefühlt wie -4." Als Symbole zwei graue Regenwolken. Aber ja, doch: ich will.

Ich werde für meine Wanderwut belohnt werden. Mit Spiderman, einem toten Weihnachtsmann und den nettesten Menschen, die Königs Wusterhausen zu bieten hat. Aber das weiß ich natürlich noch nicht, als ich loslaufe, und das ist hart.

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An diesem Dienstag beschließt der Senat die 15-Kilometer-Regel. Liegt die 7-Tage-Inzidenz, also die Kennzahl der Corona-Infektionen pro 100.000 Einwohner, über 200, dürfen Berliner nur noch 15 Kilometer weit nach Brandenburg hinein - wobei egal ist, wo genau in der Hauptstadt sie wohnen. Millionen Menschen in Deutschland sind bereits von solchen Regeln betroffen. Für Berlin liegt der Wert gerade bei 199,9.

Donald Trump und asiatische Winkekatzen in einer Vitrine.

Ich beginne im brandenburgischen Wildau. Der südöstlichste Zipfel Berlins - Ortsteil Schmöckwitz - liegt mir gegenüber auf der anderen Seite der Dahme. Wie ein kleiner Finger vom Cocktail-Kelch spreizt er sich als grüne Halbinsel nach Brandenburg. 15 Kilometer Luftlinie von dort bedeuten auch so ziemlich die größte Entfernung von Berlin-Mitte, die bald coronakonform noch gehen könnte. Also gehe ich, immer die Friedrich-Engels-Straße lang.

An der Kreuzung zur Freiheitsstraße wird Stalin gehuldigt. Ein sowjetisches Ehrenmal trägt eine Inschrift, die "an all die Helden" erinnert, welche seine  "ruhmreiche Flagge" getragen hätten. Thematisch passend beginnt es zu schneeregnen. Ich laufe weiter und denke daran, wie Massenmörder Stalin wohl mit Corona umgegangen wäre. Er hätte die Pandemie sicher erst geleugnet, dann als westliches Komplott dargestellt und am Ende eigenhändig erwürgt. Man kann Stalin als politischen Gegenentwurf zum wichtigsten deutschen Corona-Fighter Jens Spahn begreifen.

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In Wildau laufe ich durch die Schwartzkopff-Siedlung, ein denkmalgeschütztes Arbeiterquartier aus roten Klinkern. Ein bisschen sieht es hier so aus, als hätte jemand seine aus purem Klischee bestehende Vorstellung von Deutschland nachgebaut. Alles ist einheitlich gehegt und gepflegt, Sprossenfenster mit kleinen Zinnen vermitteln ein heimeliges Flair. Mittelalter meets Gründerzeit. Im ehemaligen Maschinenbauwerk nebenan haben Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Rüstungsgüter hergestellt. Idylle pur.

Auf der Straße, die nun Karl-Marx-Straße heißt, ist so gut wie niemand. Während ich weiter nach Brandenburg laufe, bleiben die Brandenburger bei diesem Wetter lieber zu Hause. Trotzdem herrscht hier Maskenpflicht, als wär's der Ku'damm, darauf weisen Schilder an Straßenlaternen hin. S-Bahnhof Wildau, big City life. Durch Schneeregen in Richtung brandenburgischer Felder zu laufen, erscheint mir gerade noch sinnfreier. Aber ich laufe nun einmal gerne, ob über Felder oder Berge. Nachdenken funktioniert anders, wenn ich laufe. Es ist dann nicht so ein angestrengtes Nachdenken, das ich am Schreibtisch absichtlich herbeiführe und das entsprechend anstrengende Gedanken produziert. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken von alleine. Aber gerade kann ich nur an Strand denken. Südsee.

Nach Wildau folgt ein Werbebanner. Ein großer Automobilhersteller fordert zur "Eroberung der digitalen Welt" auf. Irgendwie passend, aber auch gar nicht. Die digitale Welt erobern wir alle seit Corona doch mehr, als uns lieb ist. Ich will ja gerade laufen, um die analoge Welt nicht ganz zu verlieren. Ich vermisse sie ziemlich.

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Eine Spiderman-Figur mit Mund-Nasen-Schutz an einer Mauer.

Unter der Autobahnbrücke der A10 bleibe ich stehen. Bleiben wir stehen, besser gesagt. Ich bin ja mit einem Freund und Fotografen unterwegs, mit William. Er schießt einige Fotos von mir und den dicken, grauen Betonpfeilern der Autobahn, die das urbanste sind, was wir an diesem Tag zu sehen bekommen. Ein Polizeibulli fährt vorbei, eine Beamtin mit blondem Zopf und dem klaren Blick derer, die lange in unwirtliche brandenburgische Prärie-Nächte gestarrt haben, schaut uns lange an. Der Bulli verlangsamt seine Fahrt, hält aber doch nicht. Ich bin ein bisschen enttäuscht.

Wir laufen nach Königs Wusterhausen hinein. Ich gehe im Kopf durch, was ich über diese Stadt weiß. Es sind genau zwei Dinge. Von hier aus wurde irgendwann vom Funkerberg die erste Rundfunksendung Deutschlands ausgestrahlt - 1920, wie mir das Internet verrät. Und hier wohnt Andreas Kalbitz, der geschasste Netzwerker des radikalen AfD-Flügels, Spitzname "kleiner Himmler". Er hat auch mal einen Film gemacht, in dem Hitler als Soldat des Ersten Weltkriegs zum tapferen Desperado hochgejazzt wird.

Jedenfalls interessant, wie alles zusammenpasst. Schließlich haben die Nazis zuerst das Radio effektiv für Propaganda genutzt. Keine Ahnung, warum meine Wanderung so ein Weltkriegs-Thema hat. Stalin, Rüstungsgüter, Funkerberg, Kalbitz. Dazu feinster Schneeregen à la Stalingrad. Jemand muss kommen, um den Tag zu retten. Richtig: Spiderman! Den sehen wir auf einer Mauer hocken, als Betonfigur, mit keckem Spinnennetz und einem Mund-Nasen-Schutz. Vielleicht ist der Spinnenmann ja ein gutes Omen.

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In Downtown Königs Wusterhausen erblicken wir Donald Trump-Figuren neben asiatischen Winkekatzen. Wir bleiben an einem Konsum-Warenhaus stehen. Es hat geöffnet, Corona hin, Konsum her. William macht ein Foto. Ich betrachte die Auslage, vor allem eine offenbar systemrelevante SOS-Affenfarm. Eine Verkäuferin stürmt aus dem Laden. "Was gibt es denn so Interessantes zu filmen?" Ich möchte gerade antworten, dass wir hier nichts Unrechtes täten, aber sie beantwortet ihre Frage lieber selbst: "Gar nichts Interessantes gibt es hier zu filmen!" Etwas weiter die Straße runter fotografiert William mich an einer Kreuzung. Aus einem nahen Subway kommt eine Verkäuferin und verweist auf "Datenschutz!" Wir erklären ihr, dass wir nur ein Foto gemacht hätten. Sie erklärt, dass es verboten sei, "hier in den Laden hinein" zu fotografieren. Hat ja auch keiner gemacht. Sie wiederholt: "Datenschutz!" Wo ist Spiderman, wenn man ihn am dringendsten braucht?

Nach Königs Wusterhausen führt unser Weg nach Durchfahrts-Deutschland. Tankstellen, Autohäuser, Baumärkte. Die ein oder andere schwarz-rot-goldene Trikolore taucht am Wegesrand auf. An einem einsamen Haus liegt ein strangulierter Weihnachtsmann in seinem Schlitten, als wäre er ein erdrosseltes Entführungsopfer. Neben ihm steht ein Weihnachtsbaum, dessen künstlicher Schneeschaum dem Speichel einer tollwütigen Hündin gleicht. Endlich ein Superlativ an diesem Tag: Noch nie habe ich ein so trauriges Weihnachtsmotiv gesehen. 

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Der Autor mit einer Weihnachtsmann-Figur und einem kaputten Weihnachtsbaum.

Es ist auf jeden Fall keine gute Idee, an diesem Tag Push-Nachrichten zu bekommen, weil sie so herrlich mit der trostlosen Umgebung korrelieren. Während wir durch das diesig-graue Grün stapfen und eine einsame Einweg-Maske am Wegesrand liegt, verkündet Bayern die FFP2-Maskenpflicht im Öffentlichen Nahverkehr. Wenn die fortschrittlichen Bayern so etwas beschließen, fragt sich der Berliner natürlich: Kann es das auch bei uns geben? Hat Spahn genug FFP2-Masken für alle besorgt? Wurde mal wieder alles zentral über die EU geregelt, wobei Frankreich durchgesetzt hat, dass alle nur französische Masken bestellen, die aber leider erst ein paar Monate später geliefert werden, was allen irgendwie auch vorher klar war? Jedenfalls wird es allmählich dunkel. Die Szenerie hat etwas unendlich Trauriges, wie Dawn of the Dead ohne Zombies.

Wir laufen weiter, es wird dunkel, aber immerhin verrät die Motzener Straße mit ihrem Namen, dass wir dem Ziel näher kommen. Die kommende unsichtbare 15-Kilometer-Grenze liegt knapp vor Motzen, das wiederum direkt am Motzener See liegt. Außer dem See ist noch der "Berliner Golf & Country Club Motzener See e.V." geografisch prägend für die Gegend. Eine leichte Obsession mit dem eigenen Ortsnamen scheint vorhanden. Da dieser Text aber auch als Wander-Ratgeber zu verstehen ist, muss ich berichten: Wer über die Motzener Straße nach Motzen läuft, bekommt weder einen Fußgängerweg noch irgendwelche optischen Highlights geboten, vor allem bei vollständiger Dunkelheit.

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Wir marschieren also durch den Regen über die Landstraße - mehrfach fahren Autos so knapp an uns vorbei, dass ich mich frage, ob da wohl Datenschützerinnen aus Königs Wusterhausen am Steuer sitzen. Ich will mit meinem Smartphone den Weg ausleuchten, sehe aber die Eilmeldung, dass die gefährliche südafrikanische Variante von Corona jetzt auch in Deutschland nachgewiesen worden ist. Seit der Pandemie kommt das Fremde wieder als Gefahr daher, wird zumindest oft so präsentiert und von manchen auch so wahrgenommen, und sicher nicht nur von Menschen, die nach einem Nazi gespitznamt sind.

Ein Bus fährt durch einen Tunnel bei Nacht.

Je weiter wir laufen, desto mehr entkommen wir Dawn of the Dead und begeben uns in Fargo 2 hinein, den missratenen Nachfolger des Kultfilms, in dem niemand stundenlang durch blutigen Schnee fahren kann, weil die beiden Protagonisten blöderweise zu Fuß losgelaufen sind. William schlägt vor, dass wir uns durch Waldwege schlagen, "lebensgefährlicher als das hier" werde es dort sicher nicht. Wie Recht er hat. 

Wir biegen bei der nächsten Gelegenheit in den Wald ein und ermitteln mit Hilfe des Smartphones, dass wir sie erreicht haben: die Grenze. Die neue, unsichtbare, schon bald und wer weiß für wie lange gültige Grenze, die kein Berliner ohne triftigen Grund überschreiten darf. Und natürlich habe ich sie nur erreicht, weil sie völlig willkürlich erfunden worden ist. Wer zieht schon sonst an einem solchen Tag los? Das hätte nicht einmal ich gemacht, Bewegungsdrang hin, Gedanken her. So macht Corona mich laufen.

Ach ja: Auch wenn man nur noch 15 Kilometer weit weg darf, sollte die Frage erlaubt sein, wie man eigentlich zurückkommt.

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