Zwei junge Männer mit vielen Gang-Tattoos sitzen vor einer roten Wand und streicheln sich gegenseitig zärtlich; Homosexualität ist in den zentralamerikanischen Gangs eine Todsünde, vor allem hinter Gittern haben schwule Mitglieder zu leiden
Ein Ausschnitt aus der Dokumentation "Imperdonable" über homosexuelle Mitglieder der salvadorianischen Straßengangs Mara18 und Barrio 18 | Alle Fotos: bereitgestellt von Marlén Viñayo
Menschen

Homosexualität in Gangs: So gefährlich leben schwule MS-13-Mitglieder im Gefängnis

Eine Dokumentation zeigt den Alltag homosexueller Gangmitglieder, die im Knast um ihr Leben fürchten müssen.

Das Treffen findet in einem Gefängnis statt, in dem die berüchtigt gewalttätige Straßengang MS-13 aus El Salvador ihren Hauptsitz hat. Einige der höchstrangigen Mitglieder sind anwesend. Es muss eine wichtige Entscheidung getroffen werden: einen Gangkameraden töten oder nicht?

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Zwei mittelrangige Gangmitglieder – El Baxter und El Medias – bringen den Verdacht vor, dass ein anderes Gangmitglied – El Fénix – etwas sein soll, das nach den MS-13-Vorschriften absolut unverzeihlich ist: schwul.

Die beiden versichern den Anführern, Beweise für El Fénix' Homosexualität vorbringen zu können: Ihre Nachforschungen haben ergeben, dass er versuchte, Sex mit "anderen Homeboys" zu haben und sie so zu ruinieren.

Sie hätten beobachtet, wie El Fénix einfach so die Genitalien anderer Gangmitglieder berührte – zum Beispiel beim gemeinsamen Fernsehen in der Zelle. Um ihren Verdacht zu bestätigen, stellten El Baxter und El Medias El Fénix sogar eine Falle: Sie erlaubten es einem anderen Gangmitglied, sich von ihm einen blasen zu lassen, während sie heimlich zusahen.

El Croock, einer der bei dem Treffen anwesenden Bosse, sagt, dafür müsse El Fénix sterben.


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"Wenn ihr euch sicher seid, dann haben wir kein Problem damit, wenn er stirbt. Sagt uns nur Bescheid und tötet ihn nicht mit einem Messer", sagt El Croock laut der Transkription in den Gerichtsunterlagen, die VICE einsehen konnte.

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All das findet im Dezember 2012 statt, damals haben die verschiedenen Gangs von El Salvador gerade einen Deal mit der Regierung ausgehandelt: Sie erhalten im Gefängnis Vorteile und bringen sich dafür draußen weniger um. MS-13 sollte sich eigentlich von der besten Seite zeigen.

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Zwei Wochen nach dem Treffen betreten am 8. Januar 2013 zehn MS-13-Mitglieder – darunter auch mehrere Gang-Bosse – die Zelle von El Fénix im Sektor drei des Gefängnisses. El Croock nimmt El Fénix in einen Würgegriff, während andere Gangmitglieder seine Arme und Beine fixieren. Dann treten El Baxter und ein anderer Ganganführer El Fénix in den Bauch. Der wehrt sich, aber El Croock gibt den Befehl, ihm eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. El Fénix erstickt qualvoll.

Danach bringen die Gangmitglieder die inzwischen blutüberströmte Leiche in den zweiten Stock von Sektor drei und werfen sie nach unten. El Baxter und El Medias eilen anschließend zur Krankenstation und rufen, dass El Fénix beim Aufhängen seiner Wäsche vom Dach gefallen sei.

Zwei junge Männer mit vielen Gang-Tattoos sitzen vor einer roten Wand, einer hat seinen Kopf in den Schoß des anderen gelegt

Ein Ausschnitt aus der Dokumentation "Imperdonable" über homosexuelle Mitglieder der salvadorianischen Straßengangs Mara18 und Barrio 18

Im Dezember 2019 erzählt ein Gangmitglied genau diese Geschichte vor einem salvadorianischen Gericht, um für seine Mittäterschaft bei dem Mord eine verringerte Haftstrafe zu bekommen. Der Fall von El Fénix ist kein Einzelfall, aber in der Öffentlichkeit ist damals quasi nichts über homosexuelle Gangmitglieder in El Salvador bekannt.

"Dass ein Mann einen anderen Mann liebt, ist unnatürlich", sagt Giovanni, ein ehemaliges MS-13-Mitglied, das im salvadorianischen San Francisco Gotera-Gefängnis in Isolationshaft sitzt, in der Dokumentation Imperdonable – auf Deutsch so viel wie "unverzeihlich". Giovani ist selbst schwul und ist in ein ehemaliges Mitglied der rivalisierenden Gang Barrio 18 verliebt.

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In der Dokumentation, die dieses Jahr sogar in die engere Oscar-Auswahl kam, wird der Gefängnisalltag der wenigen Gangmitglieder gezeigt, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen. Und das in ungewöhnlich offenen Bildern: Zwei Männer, der eine von MS-13 und der andere von Barrio 18, liebkosen und küssen sich zärtlich.

"Durch den Hass gegenüber schwulen Männern innerhalb der Gangs lässt sich unmöglich sagen, wie geläufig Homosexualität dort ist", sagt Luis Enrique Amaya, ein Ermittler aus El Salvador. "Das Ganze ist ein weitläufiges Geheimnis, über das niemand spricht."

"Aber die Bestrafung ist in allen Gangs normalerweise die gleiche: der Tod."

"Zuerst hielten wir es für unmöglich, dass wir Gangmitglieder finden, die vor der Kamera sprechen. Aber dann trat das genaue Gegenteil ein."

"Die Leute haben sich gefragt, wie es so etwas geben kann. Wie kann ich eine Geschichte erzählen, in der Zärtlichkeit eine so große Rolle spielt? Ich meine, niemand erwartet im harten Gefängnisumfeld so etwas wie Zärtlichkeit", sagt Carlos Martínez, der Drehbuchautor von Imperdonable. "Liebe und alles, was dazugehört, wird ja mehr mit den anständigen Bürgerinnen und Bürgern eines Landes verbunden."

In der Doku geht es aber nicht nur um Liebe, sondern auch darum, wie sehr man leidet, wenn man als Mitglied einer salvadorianischen Straßengang schwul ist.

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"Zuerst hielten wir es für unmöglich, dass wir Gangmitglieder finden, die vor der Kamera sprechen. Aber dann trat das genaue Gegenteil ein. Wir erklärten ihnen jeden Tag neu, dass wir den Film nicht nur in El Salvador, sondern auch in anderen Ländern und im Internet veröffentlichen. Einer der Protagonisten wollte lieber anonym bleiben – aber nicht wegen der Gang, sondern weil er nicht wollte, dass seine Mutter alles herausfindet. Die anderen sagten, dass sie sowieso schon zweimal ihr Todesurteil unterschrieben hätten – einmal, weil sie aus der Gang ausgetreten sind, und einmal, weil sie schwul sind", sagt Marlén Viñayo, die Regisseurin von Imperdonable.

Die homosexuellen Insassen vom San Francisco Gotera-Gefängnis wurden von ihren Gangkollegen verstoßen und mit dem Tod bedroht, nachdem sie sich als schwul geoutet hatten. Weil sie aber vom Katholizismus zum Evangelikalismus konvertiert waren, wurden sie nicht umgebracht. Als aber auch die Kirche sie verbannte, wurden sie in einen Gefängnisbereich verlegt, den man "El Zope" nennt – nach dem Raubvogel Rabengeier.

Die ranzige, winzige Zelle sei, so Viñayo, für die homosexuellen Insassen der einzige Safe Space innerhalb der Gefängnismauern. "Zu Beginn der Dreharbeiten sagte einer der Häftlinge, dass die Isolationszelle der einzige Ort sei, an dem er sich frei fühle. Diese Aussage gehört zu den Sachen, die mich am meisten getroffen haben. In anderen Gefängnisbereichen werden sie vergewaltigt und erniedrigt", sagt die Regisseurin.

Das Überleben der schwulen Insassen von El Zope hängt also davon ab, ob sie in diesem Teil der Haftanstalt bleiben. Wenn sie in einen anderen Abschnitt des Gefängnisses gehen oder das Gefängnis gar ganz verlassen, werden sie sehr wahrscheinlich getötet. 

In der Doku wird zudem erzählt, wie unmenschlich die Homosexuellen auch von den evangelikalistischen Kirchengruppen behandelt werden, die sich in den Gefängnissen sonst eigentlich aufopferungsvoll um Gangmitglieder kümmern. Und wie rückschrittlich das Gefängnissystem von El Salvador mit dem Thema sexuelle Orientierung umgeht.

"Es gab dort einen Psychologen, der bei einem wissenschaftlichen Test herausfinden wollte, ob die Insassen homosexuell sind oder nicht", erzählt Martínez. "Also fragte er sie, ob sie Poesie oder Pflanzen mögen."

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