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Popkultur

Ich habe mir die Filme meiner Kindheit noch einmal angesehen – damit ihr es nicht müsst

Die Blue Man Group des Horrors, viele Penisse und ein misshandelter Behinderter: Die Filmemacher der 80er haben uns einiges zugemutet.

Szene aus 'Ronja Räubertochter', abfotografiert vom Beamer der Autorin

Ich war ungefähr neun, als ich begriff, dass es einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Realität und Fantasie gibt. Auslöser war ein Buch, in dem es irgendwie um Einhörner ging. Wochenlang bedauerte ich mich selbst dafür, dass ich nie Einhörner treffen würde, und wenn, dann wäre es ein Pferd mit aufgeklebtem Pappmaché. Natürlich wusste ich schon vorher, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Aber die finale Erkenntnis, dass all die Geschichten meiner Kindheit im Grunde Lügen waren, hat mich doch ziemlich niedergeschmettert.

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Bis dahin waren Filme immer ganz besondere Begleiter für mich. Nicht so wie heute, wenn man sich stundenlang von Netflix berieseln lässt. Die Helden darin, das waren deine Freunde, deine Vorbilder, man liebte sie, wie man Vati oder Martin aus der Kita-Gruppe liebte.

Aber was ist, wenn man diesen Freunden heute noch einmal begegnet? Ist der Held deiner frühen Tage immer noch so faszinierend? Oder ist es nur ein überdrehter Zwerg mit einer Fistelstimme, bei der sich deine Zehennägel hochrollen?

Ich bin das Risiko eingegangen, dass meine Kinderträume ein zweites Mal zerstört werden könnten, und habe mir meine drei Lieblingsfilme von damals noch einmal angesehen.

Momo (1986), oder: Michael Ende hat zwar nicht mein Leben zerstört, terrorisiert mich aber mit seiner Fantasie

Komischerweise hatte ich an Momo nur bruchstückhafte Erinnerungen: eine Schildkröte, fiese Männer und der tapferste Lockenkopf, der jemals Kinderherzen inspiriert hat. Viel mehr Inhalt war nicht hängen geblieben, dafür ein starkes Gefühl von angenehmem Grusel. Das ist nun für immer ersetzt durch das Unbehagen irritierter Langeweile.

Jetzt kann ich zwar den vollständigen Filminhalt wiedergeben. Dafür fällt mein Fazit weit weniger positiv aus als im Alter von vier Jahren. Radost Bokel war tatsächlich ein liebliches Kind. Leider zu lieblich. Was soll das, dass alle augenblicklich von ihr begeistert sind und sie einen traurigen Kanarienvogel nur anzuschauen braucht, damit er wieder singt? Sie ist der Held aller Kids in der Hood und ihre Beziehung zum Singer-Songwriter Gigi ist bestenfalls leicht pädophil zu nennen. Beides erinnert stark an Twilight. Der funktioniert auch nur, weil Bella die narzisstischen Tagträume ihrer Zuschauerinnen auslebt.

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Weil es die 1980er sind und Mario Adorf mitspielt, wird der ganze Zucker dann gebrochen mit einer Story und Gestalten, die nicht nur den jugendlichen Verstand ziemlich aus der Bahn werfen. Ganz nach Michael Endes Imperativ: Du musst jetzt gefälligst Fantasie haben, Kind!

Ich habe mal den surrealistischen Film Ein andalusischer Hund von Salvador Dalí aus den 1920ern gesehen, wo jemand den Augapfel einer jungen Frau mit einer Rasierklinge aufschneidet. Verstörender als Momo war der auch nicht. Hier die grauen Männer, die in ihrer Zentrale aber eher blau aussehen:

Die klauen den Menschen ihre Stundenblumen aus dem Herzen, trocknen ihre Blätter und rauchen die dann.

Dann ist da dieser andere Mann, Meister Hora. Der wohnt im Nirgendhaus, ist der Tod und versetzt Momo kurzerhand in einen einjährigen Schlaf, obwohl er sonst eigentlich ganz nett ist. Warum er das tut, wird aus der Storyline nicht ersichtlich. Auch Momo ist sich offensichtlich unsicher, sagt aber wie immer nichts:

Und als Momo wieder in ihr Dorf kommt:

Irgendwann fiel es mir schwer, den konfusen Bildern zu folgen, und ich holte mein Smartphone raus und googelte lieber Skandalgeschichten der erwachsenen Radost Bokel. Alles an Momo war wirr, dramaturgisch unbegründet, und am Ende aufgelöst von einem Happy-End, das sich kitschiger kein Holly- oder Bollywood hätte ausdenken können. Bäh.

Ronja Räubertochter (1984): Bitte heirate mich!

Ronja war wahrscheinlich die erste Liebe meines Lebens. Ich fand sie einfach so richtig toll und wollte unbedingt so sein wie sie. Was kann es auch Cooleres geben als ein Mädchen, das ihren Eltern die Meinung sagt und einfach so auszieht, um mit ihrem Freund im Wald zu leben? Und das mit zwölf oder so? Eben.

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Als sie jetzt über meine Wohnzimmerwand flimmerte, konnte ich mein altes Ich gut verstehen. Ronja ist immer noch die Coolste und wird es immer bleiben. Schon beim Vorspann bekam ich Gänsehaut, und als die Mattisburg eingeblendet wurde, wusste ich: Ich bin zu Hause.

Die Geschichte hat alle Zutaten, die ein Abenteuer braucht: familiäre Konflikte, die Sehnsucht nach Freiheit, witzige Rumpelwichte und Lebensgefahr in Form von Verhungern oder grausamen Druden. Die sehen so aus:

Spooky. Gewürzt ist alles mit einem Bataillon an Schimpfwörtern: "Hosenschitter", "Scher dich zum Donnerdrummel" und "Rotzblitz" kommen in so ziemlich jedem Satz vor. Auch sonst scheinen die Zeiten freizügiger gewesen zu sein, oder vielleicht auch nur in Schweden, wo Ronja herkommt. Jedenfalls scheuten sich die Filmemacher nicht, die ganze Räuberhorde nackt im Schnee rumspringen zu lassen:

Minutenlang flappen also zwölf Penisse über die Leinwand. Einmal sieht man auch Ronja und ihren Nachbarn Birk zusammen nackt am See liegen. Dass ihre Beziehung nicht sexueller Natur sein könnte, glaubt nicht mal Birks Mutter. Als Ronja "Aber er ist mein Bruder!" sagt, antwortet die trocken: "Ja, ja. Und was in ein paar Jahren daraus wird, weiß man ja!" Ronja heißt im wahren Leben Hanna Zetterberg, war lange Abgeordnete der schwedischen Linken und nennt sich heute "Kommunikationsstrateg&Inspiratör", hat also auch nix Richtiges gelernt. Zumindest das haben wir gemeinsam.

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Die Goonies (1985): Hoffnung für die Menschheit kommt ausgerechnet von Steven Spielberg

Seit dem Studium gehe ich in Programmkinos, habe schon kroatische Autorenfilme ertragen und bilde mir Wunder was ein auf meinen Geschmack. Deswegen war ich mir fast sicher, dass ich Die Goonies von Steven Spielberg bestenfalls nett und albern finden würde: Mikey von den Goonies hat eine blühende Fantasie und will sich nicht mit der banalen Realität abfinden. Also geht er mit seiner Gang auf Schatzsuche. Hätte ich das mit neun bloß auch mal versucht.

Die erste Überraschung, als ich den Film anstellte: Mikey ist Samweis Gamdschi! Beide werden von Sean Astin gespielt, und wer würde Sam/Mikey nicht glauben, dass alles gut wird? Auch sonst fühlte sich der Film an wie ein Wiedersehen mit alten Freunden.

Sogar der großartige Corey Feldman ist dabei. Allerdings hat der nach 1990 nichts Nennenswertes mehr produziert und sieht auch so aus. Dafür ist der dicke Chunk mittlerweile Anwalt und Augenweide. Und Teenage Boy Brand spielt derzeit sogar die Hauptrolle in Hail, Ceasar.

Auch die Goonies fluchen viel, es gibt gefühlt alle zehn Minuten "Arschloch-Alarm". Die Übersetzer hatten anscheinend jede Menge Spaß bei der Arbeit. Deshalb wage ich zu behaupten: Die deutsche Version der Goonies ist eine dieser seltenen Synchronisationen, die dem Original noch einmal eine Extra-Bedeutungsebene verpassen (sonst nur gelungen bei Bud Spencer und Buffy).

Obwohl über 30 Jahre alt (Im Ernst? So alt?!) wirkt der Film keinen Tag älter als zehn. Spielberg hat es eben einfach raus. Und nur Spielberg traut sich an die ganz sensiblen Themen wie Misshandlung und Behinderung ran. Darf ich vorstellen, Sloth:

Den armen Sloth ließ seine Mutter als Baby ständig runterfallen, weshalb er nur in Gutturallauten sprechen kann. Am Anfang haben die Kinder Angst vor "Es". Aber dann siegt die Menschlichkeit, und sie sehen hinter die abschreckende Fassade. Lesson learned, danke, Goonies!