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Reisen

Ich bin in Tunesien

Ich bin 23 Jahre alt. Wie viele junge Leute, die eben erst ihren Abschluss gemacht haben, bekam ich nur beschissene Jobs. Deshalb beschloss ich, ein Zertifikat als Englischlehrer zu machen und in den Nahen Osten zu ziehen.

Dear Vice,

Ich bin 23 Jahre alt und habe vor kurzem meinen College-Abschluss gemacht. Wie viele junge Leute, die eben erst ihren Abschluss gemacht haben, bekam ich nur beschissene Jobs, für die man eigentlich gar keinen Abschluss benötigt und mit denen man nicht einmal seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Ich habe kaum Verbindungen durch meine Familie und schrieb meine Abschlussarbeit über die konfessionelle Politik des Iraks, deshalb beschloss ich, ein Zertifikat als Englischlehrer zu machen und in den Nahen Osten zu ziehen.

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Mein erstes Angebot bekam ich aus Tunesien, also zog ich hierhin. Für die ersten acht Monate war Tunesien einer extrem langweiliger Ort zum Leben. Die Gesellschaft ist hier sehr verschlossen, was auch zu einem guten Teil an der Tyrannei der Regierung lag. Das Innenministerium ging sehr brutal darin vor, jedwede Art von Widerspruch niederzuschlagen. Ich habe viele Geschichten davon gehört, wie Menschen einfach verschwanden nachdem sie sich in einem Café über die wirtschaftliche Lage beschwerten oder zu häufig die Moschee besuchten (Das Regime ging mit Fanatismus gegen den Islam vor). Manchmal kamen die  Menschen nach ein paar Monaten oder Jahren der Folter wieder frei, doch viele von ihnen sind noch immer verschollen.

Als Resultat dessen öffneten sich die Leute in Tunesien nur denen, die sie schon eine sehr lange Zeit persönlich kannten. Etwas, das es sehr schwer machte, Freunde zu finden oder überhaupt neue Leute kennenzulernen. Um Urlaub zu machen reiste ich also zurück nach Amerika und als ich zurückkam hatten sich die Dinge total verändert.

Ich bin mir nicht sicher, was ihr über die Situation hier wisst, aber im Grunde nahm alles seinen Anfang mit einem arbeitslosen jungen Mann, der ohne Erlaubnis Gemüse in einer Stadt namens Sidi Bouzid verkaufte. Dazu muss gesagt werden, dass so etwas aufgrund der wirtschaftlichen Lage sehr häufig vorkommt.
Aus irgendeinem Grund nahm die Polizei also Anstoß daran und er wurde mit einem Bußgeld belegt, verprügelt und sein Stand wurde konfisziert. Der Mann verlor daraufhin seinen Verstand, ging in die Innenstadt, stellte sich vor das Rathaus und schrie gegen die Regierung gerichtete Sprüche. Nachdem sich eine kleine Menge um diese Szene versammelt hatte (einige hatten Handys mit Kameras), übergoss er sich mit Benzin und zündete sich selber an.

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Sidi Bouzid ist echt ein Dreckloch und viele Leute konnten sich mit dem Typen, der Selbstmord begang identifizieren. Es wurde also in einem kleinen Rahmen demonstriert, doch die Stimmung war extrem gereizt. Da das Regime keinerlei Proteste duldete, wurde die Sonderpolizei geschickt, die sofort damit begann Demonstranten umzubringen. Diese Morde wurden aufgenommen und führten zu landesweiten Protesten. Am Ende ging das gesamte Land auf die Barrikaden.

Dieses Bild wurde gestern Nacht aufgenommen. Obwohl die Leute noch immer aufgeputscht waren, begann man gegen zehn Uhr nachdem der Tag friedlich verlaufen ist, in meiner Nachbarschaft zu feiern.

Die Sonderpolizei des Innenministeriums war sehr gut ausgerüstet und bewaffnet, dazu waren sie bereit, ihre eigenen Landsleute auf der Straße zu massakrieren. Ich bin mir absolut sicher, dass eine Menge Leute ihr Leben gelassen haben. Trotzdem überrollte das schiere Ausmaß der Demonstrationen die Schergen des Innenministeriums und vor  einer Woche befahl Präsident Ben Ali dem Militär die Sonderpolizei zu unterstützen.

Dieser Junge verkaufte Mini-Pizzas an den Checkpoints.

Das Militär hatte nie besonders gute Verbindungen zu Ben Ali (Es wird gemunkelt, dass er vor einigen Jahren einige Hochrangige Generäle ermorden lies). Der Armeechef schickte das Militär also nur auf die Straße, um Banken und Geschäfte zu bewachen, aber weigerte sich gegen die friedlichen Demonstranten vorzugehen. Voller Wut feuerte Ben Ali diesen General, der sich jedoch weigerte dies zu respektieren und sein Amt niederzulegen und stattdessen den Soldaten befahl, die Demonstranten zu beschützen, was schließlich zu Feuergefechten zwischen der Armee und der Sonderpolizei führte.

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Dieses Foto zeigt Polizisten, die einen Schnapsladen plündern.

Ben Ali floh schließlich am Freitag (oder Donnerstag) aus dem Land und seine Bodyguards und Sonderpolizisten verschwanden im Untergrund. Sie kämpften von dort gegen die Soldaten, zerstörten die Infrastruktur und ermordeten im ganzen Land (auch in meiner Nachbarschaft, nur ein paar Straßen entfernt) unbeteiligte Zivilisten mit gezielten Schüssen und Schießereien aus Autos heraus.

Entschuldigt bitte, ich bin ein furchtbarer Kameramann. Nach ungefähr 30 Sekunden übernimmt ein Freund, der das viel besser drauf hat. Das hier ereignete sich Montag morgens während einer eher ruhigen Phase in diesem Drama.

Am Samstag empfahl die Armee der Bevölkerung sich selbst zu bewaffnen, Barrikaden auf den Straßen zu errichten und nach Befürwortern des früheren Regimes Ausschau zu halten.

Bis dahin habe ich mich komplett aus diesem Drama herausgehalten, doch als ich erfuhr, dass in meiner Nachbarschaft Männer umherfuhren und dort Menschen erschossen, entschloss ich mich zu helfen sie zu stoppen. Dieses Wochenende war das intensivste, das schrecklichste, inspirierendste und aufregendste meines Lebens. Außerdem habe ich sehr gute Freunde gefunden.

Ich entschloss mich dazu, dass ich alles aufzuzeichnen muss, obwohl ich nicht viel Verwandtschaft habe, war es erschreckend, denn überall um mich war Tod und Zerstörung. Ich nannte meinen Blog metalif, was auf tunesisch gestört bedeutet und ich mich manchmal ziemlich gestört fühlte, als ich mit einem Stock in der Hand auf den Barrikaden stand und auf Mörder mit automatischen Waffen wartete.

Heute Nacht war alles ruhig, doch die Situation ist noch weit davon entfernt wieder normal zu sein und meine Freunde stehen noch immer auf den Barrikaden und patrouillieren  in der Nachbarschaft.