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DIE SKAMMERZ ISHU

Unsere unehrliche Welt

Der neue Kaspar Hauser, Banküberfälle in der Schweiz und vorgetäuschte Entführungen in Brasilien. Die Welt ist ein fieser und gemeiner Ort, wo alle nur auf dein Geld aus sind.

Alle Illustrationen von Sam Taylor.

Hattest du schon einmal das Gefühl, dass jeder, dem du begegnest, dich belügt? Nun ja, das liegt wahrscheinlich daran, dass es tatsächlich so ist: Die Welt ist voll von Lügnern, Betrügern, Dieben und Gaunern, die gewiefte Betrugsmanöver ersinnen, nur um ein paar Euros abzugreifen. Anständige Arbeit ist ganz klar etwas für dämliche Loser, schließlich ist es ja wesentlich einfacher, die gutgläubigen Trottel auf diesem Planeten zu bestehlen. Wir baten unsere Büros in aller Welt, Geschichten über Gaunereien und Betrugsmaschen zu sammeln, über große, kleine, harmlose, lus­tige oder abscheuliche Taten. Und hier ist das Ergebnis. (Einige Namen wurden auf Wunsch der Quellen geändert, da sie strafbare Handlungen zugegeben haben.)

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WIE ICH EINE BANK ÜBERFIEL

Ich verfolgte eine klassische Karriere im Schweizer Finanzsektor. Ich hatte BWL studiert, eine Stelle am Kassenschalter einer Bank angetreten und war dann in die Privatkundenabteilung befördert worden, was mir ein eigenes Büro einbrachte. Drei Monate vor dem Beginn meiner Ausbildung zum Börsenmakler hatte ich eine Erleuchtung und erkannte, dass dies nicht das Leben war, das ich führen wollte. Ich kündigte, war aber vertraglich dazu verpflichtet, noch drei weitere Monate dort zu arbeiten. Wenn du in einer Bank tätig bist und täglich mit Geld zu tun hast, hältst du immer Ausschau nach Lücken im Sicherheitssystem. Nur die Angst, ihre Karrieren zu ruinieren, hält Bankangestellte davon ab, das Bargeld mitgehen zu lassen. Doch diese Angst fiel im Moment der Kündigung von mir ab.

Etablissements wie etwa Nachtclubs, die jede Menge Bargeld einzuzahlen haben, füllen ihre nächtlichen Einnahmen in einen bankeigenen Geldbeutel und werfen ihn in einen speziellen Briefkasten vor der Bank, der direkt zu einem unterirdischen Safe führt. Jeden Morgen begibt sich ein Angestellter des Kassenschalters hinunter in den Keller der Bank, um diese Säcke einzusammeln und das Geld auf die entsprechenden Konten einzuzahlen. Ich wusste, dass jemand jeden Dienstagmorgen in aller Frühe zwei oder drei Geldbeutel in diesen Briefkasten warf, die jeweils etwa 100.000 Franken enthielten (etwa 83.000 Euro). Der Briefkasten wurde nicht videoüberwacht, und in der Bank war die Kameraüberwachung minimal. Auch der Weg hinunter in den Keller der Bank wurde nicht überwacht. Ich nehme an, dass das mittlerweile geändert wurde.

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Als ich den Raub plante, ging ich von folgender Annahme aus: Wenn das Geld zwischen dem Zeitpunkt, an dem der Kunde es in die Beutel steckte, und dem Moment, wenn es auf seinem Konto gutgeschrieben wurde, „verloren ginge“, würden weder Bank noch Kunde herausfinden, an welchem Punkt genau es abhanden gekommen war. Ich erschien nun jeden Morgen sehr früh auf der Arbeit, um anwesend zu sein, wenn der Tresor geleert wurde. Ich erklärte meinen Chefs, dass ich noch ein paar Überstunden machen wolle, da ich ja bald ginge und noch etwas zusammensparen wolle. Eines Morgens gegen 8 Uhr ging ich wie beiläufig zur Kaffeemaschine und holte mir einen Kaffee. Dann stellte ich ihn auf meinen Schreibtisch, um den Eindruck zu erwecken, dass ich schon mit der Arbeit begonnen hatte und nur kurz auf der Toilette war. Anschließend fuhr ich mit dem Aufzug in den Keller, öffnete den Safe, schnappte mir einen der drei Geldbeutel und stopfte ihn in meine Hose. Ich hatte mich mit einem Freund in der Kantine der Bank verabredet, wo ich ihm den Sack übergab. Er brachte ihn zu mir nach Hause, und das Ding war geritzt. Fünf Tage später war die Polizei eingeschaltet worden und hatte alle Mitarbeiter verhört. Der einfachere erste Teil eines Raubes besteht darin, herauszufinden, wie man vorgeht, und sich dann nicht erwischen zu lassen. Der wesentlich schwierigere Teil folgt, nachdem du dein Ding gedreht hast. Du versuchst, jeden Verdacht von dir abzulenken und stehst unter permanentem Druck, weil du nicht weißt, wie viel deine Chefs und die Polizei wissen. Letztendlich konnte ich dem Druck nicht mehr standhalten und gab auf. Ich ging ins Büro meines Chefs und legte das Geld auf seinen Tisch. Er feuerte mich sofort, und ich wurde wegen meiner Straftat angeklagt.

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TILL RIPPMAN NACH EINER GESCHICHTE VON „GARY“

SCANNERBETRUG

Ich bin seit meinem 15. Lebensjahr kriminell und seitdem immer wieder in den Knast gewandert. Ich wurde wegen Kokain- und Waffenhandels und dreier Angriffe auf Polizeibeamte [verhaftet] … Und so geht es immer weiter. Wenn du immer wieder wegen derselben Straftat verhaftet wirst, werden höhere Strafen verhängt, also suche ich mir immer etwas Neues. Zurzeit ist es hauptsächlich Betrug. Ein Freund erzählte mir von der Masche, die wir alle elektronischen Taschendiebstahl nennen. Wir benutzen ein sogenanntes RFID-Lesegerät, mit dem man Kreditkarten auslesen kann. Warum das Portemonnaie klauen, wenn man auch einfach daran vorbeigehen kann?

Grundsätzlich kann das Gerät alles scannen, woran man vorbeigeht. Du gehst auf einer belebten Straße an Passanten vorbei, und das Gerät liest ihre Kreditkarten aus und speichert die Nummern. Es zeichnet alle auf. Wir gehen also raus, sammeln die Nummern und geben sie dann an meinen Kumpel, einen Informatiker, weiter. Er bearbeitet die gesammelten Nummern, und das war’s. Der Höchstbetrag, den ich bei einem Durchgang mit dem Reader erzielt habe, waren 7.000 Pfund (etwa 8.470 Euro).

TOMMY „SWIPE“

KEIN REINER WEIN

Oft reicht ein kleiner Fehler in der Buchhaltung, um einen riesigen Betrug auffliegen zu lassen. Im Fall des österreichischen Weinskandals 1985 gerieten Weinbauern ins Visier der Finanzer, die Unmengen an einem speziellen Frostschutzmittel steuerlich geltend machen wollten—was aber in keinem Verhältnis zu deren Fuhrpark stand. Kein Wunder, sie verwendeten das weitverbreitete Diethylenglykol nämlich nicht, um ihre Traktoren winterfest zu machen, sondern um mit der süßenden und aromaverstärkenden Chemikalie minderwertigen Wein aufzubessern. Kranker Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass es schon 1937 Hunderte tote Kinder in den USA gab, weil damals einem Hustensaft Glykol beigemengt wurde. Obwohl hierzulande kein einziger Fall von Gesundheitsschädigung auftrat, setzte es von Strafanzeigen bis hin zu kompletten Marktsperren einen Hagel an Maßnahmen, um den gepantschten Wein aus dem Verkehr zu ziehen. Als unmittelbare Folge wurden die Gesetze so weit verschärft, dass österreichischer Wein heute strenger kontrolliert wird als anderswo. Verklärte Winzer sind der Meinung, es wäre erst diesem rigorosen Umdenken in der österreichischen Weinwirtschaft zu verdanken, dass sich durch die verstärkten Bemühungen um höchste Qualität österreichische Weine heute im internationalen Spitzenfeld beweisen können—diese Behauptung zählt aber nach Ansicht von Experten zu typisch alpenländischer Folklore.

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MARKUS HÖLLER

KASPAR HAUSER DER NEUZEIT

Robin van Helsum, eher bekannt als der Waldjunge Ray, wurde von einem Berliner Gericht zu 150 Sozialstunden verurteilt. Er wurde bekannt, als er 2011 das Berliner Rathaus betrat, sagte, er heiße Ray, sei 17 Jahre alt und habe die letzten fünf Jahre seines Lebens in den Wäldern rundum Berlin gelebt. Mehr Informationen über seine Person habe er nicht. Die Berliner Behörden glaubten ihm und stellten ihm eine Wohnung, Taschengeld und alle möglichen Sozialgelder zur Verfügung. Die Polizei versuchte, seine Identität zu ermitteln und verschickte sein Foto europaweit mittels Interpol. Daraufhin meldeten sich einige Personen, die angaben, ihn zu kennen: darunter seine schwangere Exfreundin, seine Stiefmutter und Personen aus seinem Bekanntenkreis. Diese identifizierten ihn als Robin van Helsum aus Holland, der vor einiger Zeit mit einem Freund nach Deutschland gegangen sei. Irgendwann scheint ihm das Geld ausgegangen zu sein, und da er sich in Holland hoch verschuldet hatte, dachte er sich eine äußerst kreative Geschichte aus, um nicht zurück zu müssen. Während seines Aufenthaltes in Berlin verursachte er um die 30.000 Euro Schulden, die er aber nicht zurückzahlen muss. Robin ist mittlerweile Vater und arbeitete zeitweise bei Burger King in Kreuzberg. Bisher gibt es leider keinerlei Statements seinerseits, wie er auf die absurde Idee gekommen ist, sich eine solche Geschichte auszudenken.

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SOPHIE MÜHE

ZAHLENSPIEL

Im Alter von 19 Jahren zog ich nach Stockholm. Ich hatte kein Geld, aber einen Ausweis, der einem Mädchen gehörte, das mir ähnlich sah. Ich arbeitete außerdem Teilzeit im Kundendienst eines nationalen Internetproviders, wodurch ich Zugang zu den persönlichen Daten der Kunden und ihren Unternehmenssteuer-IDs hatte. Also zogen mein Freund und ich durch Restaurants in ganz Schweden und taten so, als würden wir für Lokalzeitungen arbeiten. Wir sagten in den Restaurants, sie sollten die Rechnung an die entsprechende Redaktion schicken, und ich legitimierte mich mithilfe der Unternehmensinformationen, die ich mir auf der Arbeit besorgt hatte.

Außerdem benutzte ich die ID-Nummern der Kunden, um verschiedene Nutzerkonten auf Tradera, Skandinaviens Version von eBay, anzulegen. Wann immer ich Geld brauchte, verkaufte ich Dinge, die nicht existierten. Ich lud ein Foto von Kate Moss im Pelzmantel hoch, entfernte ihren Kopf und behauptete dann, der Pelz sei ein teurer Markenartikel. Die Leute überwiesen mir das Geld für den Pelz oder für was auch immer und bekamen nichts zurück.

Während der anderthalb Jahre, in denen ich das durchzog, ist nie etwas Schlimmes passiert, und ich verdiente etwa 2.500 Euro. Nervig war nur, die ganzen E-Mail-Adressen einzurichten. Ich hatte für jeden Gegenstand, den ich „verkaufte“, eine andere. Ich glaube, es dürften etwa 40 gewesen sein. Wäre ich geschnappt worden, hätte ich mich dumm gestellt und der Polizei erzählt, ich hätte meinen Pass verloren und ihnen weisgemacht, dass jemand vorgäbe, ich zu sein.

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CAISA EDERYD NACH EINER GESCHICHTE VON „MARIA JOHANSSON“

KARTENTRICKS

In Paris ziehen die Touristenschwärme Straßenräuber und Taschendiebe an, sodass es dort von Betrügern nur so wimmelt. Sie treiben sich an der Basilika Sacré-Coeur herum, vor Notre-Dame, auf der Place Saint-Michel, der Place du Châtelet und vor allem unter dem Eiffelturm. Eben dort verleitet eine Gruppe Männer, viele von ihnen aus Rumänien und Bulgarien, vorbeiflanierende Trottel dazu, Bonneteau zu spielen, so heißt der berüchtigte Drei-Karten-Trick auf Französisch. „Bonneteau ist eigentlich kein Kartenspiel“, so Georg, der Touristen an die Tische lockt, wo fingerfertige Kartenkünstler schon auf ihre Opfer warten. „Es ist ein Glücksspiel: Sind die Karten gemischt, musst du eine der drei Karten vor dir auswählen. Eine davon ist der Pikkönig. Wenn du ihn findest, bekommst du das Doppelte deines Einsatzes zurück.“

Die Spieler gewinnen anfangs bei kleinen Einsätzen. Sobald sie sich sicherer fühlen, spielen sie um 100, 200 oder sogar 500 Euro. Dann lässt der Kartentrickser den Pikkönig unauffällig in seine Jackentasche gleiten, und der Spieler verliert. Das ist ein uralter Trick, doch der Pariser Polizei zufolge verdienen die mehr als 80 Männer an den Tischen in der Nähe des Eiffelturms damit zusammen 2.000 Euro am Tag. Obwohl es keine offensichtliche Verbindung zwischen den osteuropäischen Verbrechersyndikaten und diesen kleinkriminellen Gaunern gibt, meinte ein Sprecher der Pariser Polizei, den ich dazu befragte und der im Oktober 33 rumänische Bonneteau-Betrüger verhaftet hatte, dass das naheliegend sei: „Angesichts der Summen, die sie damit scheffeln, ist es bestimmt nicht absurd, von einer regelrechten Mafia zu sprechen.“

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JULIEN MOREL

VORGETÄUSCHTE ENTFÜHRUNGEN SIND WIRKLICH EIN PROBLEM

An einem Sonntagabend im Jahr 2011 erhielt ein Mann, den wir hier Carlos nennen, einen Anruf, während er mit seiner Frau beim Abendessen saß. Er glaubte, seinen Enkel weinen und schluchzen zu hören. Überzeugt, dass der 16-Jährige entführt worden sei, traf er sich mit den Tätern und übergab ihnen alle Wertsachen, die er besaß, was ihnen als Lösegeld aber offenbar nicht reichte. Am folgenden Morgen hob er daher 7.000 Reais (etwa 2.200 Euro) von seinem Konto ab. „Die Typen waren Profis“, sagte Carlos. „Sie überwachten uns die ganze Zeit, sie riefen den ganzen Abend über an … Wenn sie dich einmal in der Hand haben, kannst du nicht mehr vernünftig denken; du tust alles, was sie wollen.“ Er kratzte in aller Eile seine Wertsachen und sein Bargeld zusammen, ohne innezuhalten und zu überprüfen, ob sein Enkel wirklich entführt worden war. In Wirklichkeit schlief dieser nämlich friedlich im Haus von Carlos’ Sohn—was er erst mitbekam, als er sich zur Geldübergabe auf den Weg zu den Gangstern machte.

Vorgetäuschte Entführungen sind in Brasilien im Laufe der letzten Jahre gang und gäbe geworden: Warum sollte man ein Kind entführen, wenn man die Leute auch einfach mit leeren Drohungen hinters Licht führen kann? Abgesehen davon werden Flehen und Weinen am Anfang eines Anrufs (die Täter nutzen häufig Tonaufnahmen) in einem Land, wo echte Entführungen nur allzu oft vorkommen, mit Sicherheit ernst genommen. Die Militärpolizei erklärte mir allerdings, dass es in einer solchen Situation das Beste sei, ruhig zu bleiben, dem Anrufer keine Informationen zu geben und zu versuchen, das angebliche Entführungsopfer zu kontaktieren.

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Statistiken über diese Art von Verbrechen sind in Brasilien rar, da viele Opfer den Betrug nicht anzeigen. 2007 berichtete die Nachrichtenagentur AP jedoch von mehr als 3.000 Anzeigen wegen vorgetäuschter Entführungen allein in den ersten 45 Tagen jenes Jahres. Schlimmer noch: Die Polizei kann kaum etwas gegen diese Betrugswelle ausrichten—selbst wenn sie die Verbrecher verhaftet, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur wegen Diebstahls angeklagt.

ANNA PAULA MASCARENHAS

DU HAST SCHON GEWONNEN

Wenn Kanadier in einer Woche Tausende Dollar verdienen wollen, müssen sie nur ihren Nachbarn im Süden weismachen, dass sie einen Preis gewonnen haben. Klingt ziemlich simpel, oder? Diese Methode heißt „Preise verhökern“, und laut eines ehemaligen Telemarketingbetrügers funktioniert sie so: Jemand in den USA wird von einem Kanadier angerufen, der gute Nachrichten überbringt—die angerufene Person hat gewonnen! Worin genau der Gewinn besteht, variiert dabei; in einem Fall hörte ich von einem „Boot mit Segeln aus extrem widerstandsfähigem Leinen und einem Deck aus hochwertigem Mahagoni“. Die glücklichen Gewinner mussten nur die Ein- und Ausfuhrsteuern bezahlen, um das Boot unweit ihres Wohnsitzes vor Anker gehen lassen zu können. Die Gebühren können sich auf 300 bis 400 Dollar belaufen, aber was sind schon ein paar Hundert Dollar, wenn man ein Supersegelboot bekommt? Und ein Boot bekamen sie wirklich: Kurz nachdem sie das Geld überwiesen hatten—meist über Western Union—kam per Post ein Paket, darin ein etwa 30 cm langes Schiffsmodel mit Leinensegeln und Mahagonideck. Die Opfer sind meist ältere Menschen, die sich wahrscheinlich einfach darüber freuen, mit jemandem reden zu können. Wenn sie ihr Geld einmal an die redegewandten Kanadier verloren haben, bleiben ihnen kaum rechtliche Mittel—am erfolgreichsten sind die Tricks, die nicht schwerwiegend gegen Recht und Gesetz verstoßen, wie etwa dieser Bootstrick. Außerdem ist es schwierig, Betrüger bei grenzüberschreitenden Straftaten zu verfolgen. Und selbst wenn die Hintermänner gezwungen sind, einen der kleinkriminellen Gauner nach zu vielen Anzeigen aus dem Verkehr zu ziehen, können sie ihrem betrügerischem Geschäft innerhalb einer Woche unter neuem Namen in einem neuen Laden etwas weiter unten an der Straße wieder nachgehen.

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MARTHE CÔTÉ

PHANTOMVERMÖGEN

Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Unruhen, die ihr Land immer noch erschüttern, versuchen zahlreiche Ägypter, aus ihrer Heimat in die weniger trüben und stabileren Gefilde der USA zu fliehen. Die Bedingungen für eine legale Einreise und den Aufenthalt in Amerika sind allerdings nur schwer zu erfüllen. Du kannst ein Familienmitglied in den USA dazu bewegen, dich finanziell zu unterstützen, doch dieses Verfahren dauert etwa 15 Jahre. Es besteht zwar auch die Möglichkeit, an der Greencard-Verlosung teilzunehmen, allerdings muss man da enorm viel Glück haben. Oder du kannst ein befristetes Besuchervisum beantragen und es immer wieder verlängern.

Das Hauptproblem ist aber, dass die USA von Ägyptern, die ein Besuchervisum beantragen, eine Menge Sicherheiten verlangen—etwa auf ihren Namen eingetragene Firmen und ca. 100.000 ägyptische Pfund (etwa 10.000 Euro) auf dem Konto—um zu beweisen, dass sie als Touristen kommen, die zum Wohle der amerikanischen Wirtschaft bereitwillig ihr Geld ausgeben wollen. (Ein eigenes Unternehmen zu leiten, signalisiert dabei der Einwanderungsbehörde, dass man einen Grund hat, nach Ägypten zurückzukehren.) Die meisten Ägypter verfügen über keine dieser Sicherheiten, also nutzen Ausreisewillige die Korruption in ihrem Land zu ihrem Vorteil.

Auf meiner letzten Reise nach Ägypten im Juni, traf ich einen Anwalt, der einen Trick anwandte, um leichter an Besuchervisa zu gelangen. Gegen eine kleine Gebühr kontaktiert er einen Freund bei einer Bank und bezahlt diesen dafür, ein gefälschtes Konto anzulegen, aus dem hervorgeht, dass der Antragssteller über das für die Einreise erforderliche Vermögen verfügt. Nach der Bearbeitung des Visumantrags verschwindet das Bankkonto genauso schnell, wie es aufgetaucht ist. Alle profitieren: Der Anwalt und der Bankangestellte werden für ihre Mühen entschädigt, und ihr Kunde kann nach Amerika reisen—wo er natürlich illegal arbeiten muss, da das Visum keine Arbeitserlaubnis beinhaltet.

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ANGELINA FANOUS

OBDACHLOS IN GRIECHENLANDE

In Griechenland sind schätzungsweise 20.000 Menschen obdachlos. Sie haben ihr eigenes Wirtschaftssystem, wie ich herausfand, als ich 2007 auf den Straßen Athens landete. Kurz nachdem ich obdachlos geworden war, kam eine Bande Georgier auf mich zu und bot mir Arbeit als Drogenkurier an. Ich kenne eine ganze Menge Leute, die das gemacht haben, und sogar solche, die vorgaben, obdachlos zu sein, um Drogen verkaufen zu können—es ist schwieriger für die Polizei, dich aufzuspüren, wenn du keinen festen Wohnsitz hast. Meist passiert so etwas im Zentrum Athens. Die Banden bezahlen dich auch, wenn du bereit bist, ihre Prostituierten zu „schützen“, von denen die meisten aus Osteuropa kommen. Man muss die Nutten im Auge behalten und die Banden informieren, ob mit den Kunden oder der Polizei alles in Ordnung ist. Üblich ist es auch, Obdachlose Bankkonten eröffnen zu lassen, die die Banden zur Geldwäsche nutzen. Es kostet nur 200 Dollar, einen Obdachlosen zum Komplizen in einem Finanzdelikt zu machen.

Dann sind da noch die Profi-Bettler. In Athen sind das meistens sehr geübte Roma aus Rumänien, Albanien und Südbulgarien. Sie operieren in Gruppen, arbeiten in bestimmten Gegenden und leben in Mietwohnungen oder Romasiedlungen. Wenn du keiner von ihnen bist und trotzdem in ihrem Revier zu arbeiten versuchst, bekommst du richtig Ärger. In einigen Gegenden kann man mit dem Betteln 3.000 Euro im Monat verdienen. Vor allem in der Urlaubssaison mischen sich auch Taschendiebe unter die Bettler. Es sind hauptsächlich Frauen, die deine Handtasche mit Rasierklingen aufschlitzen und dir das Portemonnaie unter der Nase wegstehlen.

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ANTONIS DINIAKOS NACH EINER GESCHICHTE VON „THANASSIS“

VERLORENES GEPÄCK

Mit einer Jugendarbeitslosigkeitsrate von 56 Prozent hat Spanien motivierten jungen Menschen nach der Finanzkrise nur wenig zu bieten. In diesem wirtschaftlichen Klima ist es für die Kids selbstverständlich, sich illegaler Mittel zu bedienen, um ihre Ferien zu finanzieren. Laut einer im Juni veröffentlichten Studie von VFM Services, einer auf Betrugsbekämpfung spezialisierten Firma, nimmt der Reisever­sicherungsbetrug weltweit zu. Eine 26-Jährige aus Barcelona, wir nennen sie Olivia, erklärte uns, wie sie das System ausgetrickst hat.

„Als wir landeten, ging meine Freundin als Erste zur Gepäckausgabe, nahm ihr und mein Gepäck und verließ den Flughafen. Nachdem ich eine Weile missmutig herumgestanden hatte, ging ich zur Information, machte eine Szene [wegen des „verschwundenen“ Koffers] und erhielt ein Formular zum Ausfüllen. Es macht keinen Sinn, Dinge wie iPads oder Schmuck aufzulisten, da die meisten Versicherer nur Kleidung ersetzen. Der nächste Schritt besteht darin, Freunde und Familie um Quittungen ihrer teuersten Einkäufe zu bitten. In meinem Fall erhielt ich einige Monate später einen Brief mit einem Check über 1.300 Euro, was nicht schlecht ist.“

PAUL GEDDIS

LIEBESTOLL

Mein früherer Job [in Lagos, Nigeria] war sehr anstrengend. Ich arbeitete von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends in einer Fabrik und erhielt für einen Monat Arbeit 7.000 Naira (32 Euro). Könnt ihr euch vorstellen, wie hart das war? Manchmal fuhr ich nicht mit dem Bus, um Geld zu sparen. Ich musste den ganzen Weg von zu Hause zu Fuß gehen. Eines Tages erzählte mir ein Freund vom Internetbetrug und wie man damit Geld verdienen kann, und ich stieg ein. Ich machte das nicht regelmäßig; mal hier, mal da. Nachts treffen sich [die Typen] online mit anderen Typen und geben sich als Frauen aus. Sie gaukeln ihnen vor: „Ich liebe dich, ich will zu dir kommen und dich kennenlernen.“ Hat der weiße Mann sich erst mal verliebt, ist er einverstanden und sagt dann: „OK, ich möchte, dass du kommst. Was brauchst du, um hierherzukommen?“ Und sie antworten: „OK, ich brauche ein Visum, einen Pass und ein Ticket und so.“ „Aber wie viel wird das kosten?“ „Vielleicht ein paar Tausend Dollar.“ Der Typ überweist das Geld und hört nie wieder von ihnen. Ich habe es einmal geschafft, dass ein Typ sich innerhalb von zwei Tagen in mich verliebt hat. Ich verstehe ihr weißes Leben so gut, dass ich es gegen sie verwenden kann. Sie kommen gar nicht auf die Idee, mir zu misstrauen.“

ANDY CAPPER NACH EINER GESCHICHTE VON JOE

Alle illustrationen von Sam Taylor.