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Eine FDP-Politikerin fordert scharfe Munition bei Polizeieinsätzen gegen Linksextreme

Was die FDP-Ortspräsidenten von Konolfingen dabei vergisst: Bern ist kein Ghetto und Schüsse bringen keine Sicherheit.
Foto vom Autor

Am 09. August 2014 erschoss ein weisser Polizist in der US-Stadt Ferguson den schwarzen Jugendlichen Michael Brown, der unbewaffnet in eine Polizeikontrolle geriet. Am vergangenen Sonntag jährte sich der Tod von Brown zum ersten Mal. Der Fall löste in den USA Unruhen und eine Debatte über rassistische Polizeigewalt aus.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später fordert im beschaulichen 4.700 Seelen-Dorf Konolfingen die örtliche FDP-Präsidentin Christine Kohli, dass Polizisten in der Schweiz ihre Autorität gegenüber Linksextremen mit Schusswaffen durchsetzen dürfen.

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Bin für — Christine Kohli (@ck_info)10. August 2015

Dieses Statement aus ihr herausgekitzelt hat nicht etwa ein verhinderter Terroranschlag—der aus Gründen irgendeiner abstrusen Sternenkonstellation oder plötzlicher Internet-Zensur unbemerkt an uns vorbeigezogen ist—, sondern die Ereignisse an einer Party des Projekts „Strafbar" vom vergangenen Samstagabend (wir berichteten).

Dutzende Jugendliche feierten mit einem Sound-Mobil, Essen und Trinken für mehr Freiräume. Gegen 22:00 Uhr trafen sie auf die Polizei, die anscheinend keine Lust zu feiern hatte und die politischen Party-Gänger wegen einem in der Innenstadt stattfindenden Festival nicht dorthin lassen wollte. Ab da gehen die Versionen der Geschichte auseinander. Die Polizei spricht von „massiven Angriffen" von Seiten der teils vermummten Aktivisten, die Aktivisten von „selten brutalem und unverhältnissmässigem" Vorgehen der Polizei. Klar ist: Trotz kurzer Auseinandersetzung mit Pfefferspray und Gummischrot auf der einen und „erhobenen Fahrrädern" auf der anderen Seite wurde niemand verletzt.

Das hätte aber auch anders kommen können. Ich stelle mir vor, wie zwei Gruppen von Menschen, die sich schon ganz grundsätzlich nicht wohlgesinnt sind, aufeinandertreffen. Die einen vermummen und bewaffnen sich vor Ort, die anderen erscheinen schon vermummt und bewaffnet. Die einen nutzen Fahrräder als Waffen, die anderen scharfe Pistolen. Irgendwann machts Boom und die Aggressionen der beiden Gruppen entladen sich. Was nach dem feuchten Traum von Krawallromantikern, Polizeistaat-Fans und apokalyptischen Hollywood-Regisseuren klingt, lässt mich wieder einmal zur einfachen Erkenntnis kommen: Aggressionen und tödliche Waffen sind keine gute Kombination.

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Klar, die Polizei hat die Aufgabe, die Sicherheit zu erhalten. Aber was bedeutet Sicherheit? Für mich in erster Linie, dass möglichst keine Menschen verletzt oder sogar getötet werden. Kohli glaubt, die Polizei müsse zur Erhaltung der Sicherheit die Möglichkeit haben, mit Schusswaffen vorzugehen. Das lässt mich nicht nur an ihrem Konzept von Sicherheit zweifeln, sondern auch an ihrem Vertrauen in die Polizei und die Schweiz. Traut sie Polizisten nicht zu, solche Mini-Mini-Krawalle ohne tödliche Waffen zu lösen? Traut sie der Schweiz nicht zu, eine kleine Gruppe von Abweichlern auszuhalten?

Auch in anderen Aspekten nimmt Kohlis Forderung absurde Züge an. Auf ihrer Homepage rühmt sie sich etwa damit, für die Schwächsten einzustehen. In einer Situation, in der mit Velos (!) bewaffnete Jugendliche auf gepanzerte Polizisten mit Pfefferspray, Gummischrot-Gewehren und nach Kohlis Wunsch auch scharfer Munition gegenüberstehen, dürfte ungefähr sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten klar sein, wer der Schwächere ist—Tipp: Die mit den Schiessgewehren sind es meistens nicht.

Das hat schon mein siebenjähriges Ich erkannt. Ich erinnere mich, dass ich damals meine Mama ganz naiv gefragt habe, warum es überhaupt Waffen gibt. Ob wir nicht einfach damit aufhören könnten, welche zu produzieren und dadurch die ganzen schrecklichen Bilder im Fernsehen verschwinden lassen könnten. Die Erkenntnis meines 7-jährigen Ichs (Waffen = Tote) scheint sich aber auf dem weiten Weg zur 36-jährigen FDP-Ortspräsidentin in Konolfingen verirrt zu haben.

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Obwohl Kohli in einem Facebook-Kommentar beteuert, zu ihren Worten zu stehen—ihren Wahl-Slogan „Fürs Land in die Stadt!" scheint sie bislang nicht sonderlich konsequent befolgt zu haben. Sonst hätte sie höchstwahrscheinlich bemerkt, dass Bern kein Ghetto ist, in dem Polizisten anspucken und bedrohen zu den grössten Hobbys der Bewohner zählen—sondern dass Bern eine beschauliche Stadt ist, in der sich Menschen eben nicht nur im Bundeshaus, sondern auch auf der Strasse politisch engagieren.

Ihr Wort zu halten scheint für Kohli auch sonst schwierig zu sein. In der Diskussion zu ihrer Forderung krebst sie in einem Facebook-Kommentar zurück, sie habe natürlich „Gummischrot, Farbkapseln, Warnschüsse oder mehr" gemeint—nur um zwei Sätze später die Relativierung gleich wieder zu relativieren „Aber es muss eine ultimo ratio geben dürfen … Damit "Halt oder wir schiessen!" auch irgend einen Wert hat :)"

Screenshot Facebook

Ich verstehe, dass die staatliche Toleranz Grenzen kennt. Ich verstehe auch, dass der Wahlkampf in diesem Jahr hart und radikal abläuft und dementsprechend von der SVP dominiert wird. Was ich nicht verstehe: Wie kommt man auf die Idee, das als Freibrief für solche Bullshit-Forderungen zu verstehen? Dass das ziemlich dumm war, sollte mittlerweile selbst Kohli bewusst geworden sein. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als sogar Blick-Kommentatoren sich dazu verpflichtet fühlten, ihre radikale Law-and-Order-Forderung abzuschwächen—„Muss ja nicht gerade scharf geschossen werden, gefärbtes Wasser würde es auch tun."

Sebastian auf Twitter: @nitesabes

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