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Warum es gefährlich ist, wenn der Notarzt bei Drogennotfällen die Polizei mitbringt

Das passiert tatsächlich – und es gefährdet Menschenleben.
Foto: imago | Reichwein

Für Anna* war es eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens. Dabei hatte sie an dem Sonntagnachmittag vor ein paar Wochen erst ziemlich gute Laune gehabt: Die 24-Jährige besuchte ein paar Freunde in deren Wohnung außerhalb von Tübingen. Die drei waren die ganze Nacht feiern und verbrachten jetzt den Tag damit, ihre Ketamin-Restbestände zu vernichten.

Anna, die selbst schon einige Erfahrung mit Ketamin hat, war ein bisschen neidisch—wegen einer Operation an der Nasenscheidewand in der Woche davor konnte sie nichts durch die Nase ziehen. Bis ihr bester Freund Thomas* auf die Idee kam, dass sie das Ketamin ja auch oral nehmen könne. Nach einer kurzen Suche auf einer einschlägigen Drogenseite einigten sie sich auf die Dosis: 350 Milligramm Ketamin wurden mit heißem Wasser aufgegossen, Anna trank die Lösung in einem Zug.

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Die Wirkung spürte die 24-Jährige fast sofort. Aber schon nach wenigen Minuten wich die anfängliche Euphorie der Panik: „Ich habe gemerkt: Das, was da auf mich zukommt, ist viel krasser, als ich eigentlich wollte", erzählt Anna. „Da hat es mir dann auch ziemlich schnell die Lichter ausgeschlagen."

Kein Wunder: Die Freunde haben die Mengenangaben auf der Webseite ziemlich falsch interpretiert. Die höchste Dosierung, die Anna mit ihren 54 Kilogramm Körpergewicht laut der Tabelle für einen „starken" Trip hätte nehmen dürfen, wäre 270 Milligramm gewesen—mit 350 war sie gefährlich weit darüber. Bei einer Überdosis kann Ketamin—das auch als Medikament in der Tier- und Humanmedizin eingesetzt wird—laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu „Herzrasen, Übelkeit und zeitweiliger Bewegungsunfähigkeit" führen. Anna erzählt, sie habe nicht nur extreme Krampfanfälle bekommen, ihr Herz habe auch „so schnell und stark geschlagen, dass es durch die Bauchdecke kam".

Vor allem aber ruft die Droge Bewusstseinsveränderungen hervor, die den Symptomen einer schizophrenen Psychose ähneln können. „Ich war überall und nirgendwo", beschreibt Anna die Erfahrung. „Meiner Meinung nach hatte ich wirklich ein Nahtod-Erlebnis. Das war auch der Punkt, wo ich wusste, dass ich die Entscheidung hatte, ob ich noch leben will oder ob ich jetzt gehe."

Ketamin-Kristalle. Foto: Gemeinfrei

Auch ihre Freunde empfanden die Lage als lebensgefährlich. Nachdem sie sie ins Bett gelegt hatten, habe Anna „nur noch gekrampft und geschrien", schildert Thomas. Dann hatte sie auch Atem-Aussetzer. „Uns war ziemlich schnell klar, dass der Krankenwagen her muss."

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Also rief Thomas die Notrufzentrale an. Weil er wusste, dass der Rettungsdienst schneller helfen kann, je mehr Informationen über den Notfall mitgeteilt werden, berichtete er am Telefon, dass seine Freundin gerade an den extremen Folgen einer Ketamin-Überdosis zu sterben droht. „Ich habe einfach alles gesagt, was ich wusste—was irgendwie helfen kann", erklärt er. Was Thomas nicht wusste: Damit löste er einen zweiten, unbeabsichtigten Vorgang aus: Nachdem der Krankenwagen losgeschickt worden war, alarmierte der Mitarbeiter der Zentrale die Polizei.

Als der Krankenwagen eintraf, machten sich die Rettungsassistenten sofort an die Arbeit—und erwähnten, dass die Polizei auch schon unterwegs sei. Keine zehn Minuten später trafen zwei Beamte ein, kurz darauf noch einmal zwei, und fingen an, die völlig schockierten Freunde zu befragen, während Anna noch verarztet wurde. „Die sind direkt auf uns los, haben uns getrennt und separat befragt, um herauszukriegen, wer alles da war, was alles da war", berichtet Thomas. Als Anna dann ins Krankenhaus gefahren werden sollte, wollte er sie begleiten. Die Rettungsassistenten erlaubten das, die Polizisten aber nicht. Stattdessen durchsuchten die Beamten über anderthalb Stunden lang die Wohnung, ohne etwas zu finden, dabei versuchten sie immer wieder, die Freunde isoliert zu befragen. Während dieser ganzen Zeit hatten sie keine Möglichkeit, irgendetwas über Annas Schicksal zu erfahren.

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Besonders unangenehm fand Thomas, dass die Beamten versuchten, den Schreck der jungen Männer auszunutzen, um ihnen Geständnisse zu entlocken: „Die haben uns direkt unterstellt, dass wir schuld wären—wenn wir sowas nicht machen würden, dann wäre das nicht passiert, wir könnten nicht auf unsere Freundin aufpassen, und so weiter", erzählt er. Irgendwann gaben die Polizisten schließlich auf und verließen die Wohnung. Die Freunde blieben tief verstört zurück—und hatten immer noch keine Ahnung, ob ihre Freundin die Krise überlebt hatte. Erst später konnten sie in Erfahrung bringen, dass Anna sicher im Krankenhaus angekommen und mittlerweile außer Lebensgefahr war.

Das Hauptproblem an dieser Geschichte ist aber nicht, dass die Polizisten unfreundlich oder rücksichtslos waren—sondern dass überhaupt Polizisten auftauchen, nachdem man einen Notruf abgesetzt hat. Nach ein bisschen Recherche wird deutlich: Dass der Mitarbeiter der Tübinger Notrufzentrale die Polizei alarmierte, weil im Gespräch illegale Drogen erwähnt wurden, ist kein Einzelfall. Im Internet finden sich immer wieder Meldungen, bei denen ein zu Hilfe gerufener Notarzt auch einen Polizeieinsatz und anschließende Strafverfolgung mit sich brachte.

Das Verwirrende daran ist, dass es keine klare Regelung zu geben scheint, wann die Notrufzentrale die Polizei einschaltet und wann nicht. Eindeutige Informationen dazu sind schwer zu bekommen: Auf Anfragen reagierten weder die Feuerwehrleitstelle Tübingen noch die Staatsanwaltschaft, eine Pressesprecherin des Roten Kreuzes hatte noch nie davon gehört, dass RK-Zentralen die Polizei alarmieren.

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Trotzdem passiert es, und das ist ein ziemliches Problem. „Das ist ein Thema, was uns schon seit Jahren immer wieder beschäftigt", erklärt Kerstin Dettmer, die als Ärztin bei dem Berliner Verein „Fixpunkt" arbeitet, der sich um Menschen kümmert, die illegale Drogen konsumieren. „Das größte Problem sehe ich darin, dass die Drogengebraucher keinen oder eben viel zu spät den Notarzt rufen—aus Angst davor, dass die Polizei mitkommt."

Laut Dettmer gebe es in Berlin eine ganz klare Anweisung der Staatsanwaltschaft an die Feuerwehrleitzentrale, bei Drogennotfällen „automatisch" die Polizei einzuschalten. (Auf Anfrage von VICE reagierte die Staatsanwaltschaft nicht.) „Das ist fatal, da Menschen gefährdet werden oder sterben, weil die Leute Angst haben." Für Dettmer ist das kein theoretisches Problem: „Ich kenne Geschichten, wo Menschen gestorben sind, weil man keinen Notarzt gerufen hat."

Tatsächlich kursieren in den einschlägigen Drogenforen Warnungen, dass man beim Notruf niemals Drogen erwähnen soll—stattdessen soll man von „Bewusstlosigkeit ohne Fremdeinwirkung" sprechen oder die Symptome beschreiben. Wenn der Notarzt erstmal da ist, unterliege er nämlich der ärztlichen Schweigepflicht. Dass solche Warnungen Drogennutzer in Stresssituationen eher noch weiter verunsichern, liegt auf der Hand.

Zwar lege man den Drogennutzern immer wieder ans Herz, in Notfällen den Rettungsdienst zu rufen. Aber: „Wir können uns da den Mund fusselig reden und versuchen, die zu überzeugen—es hilft nichts, solange die Angst besteht, dass die Polizei mitkommt; gerade, wenn es in Privatwohnungen war." Die Ärztin Dettmer fällt ein klares Urteil: „Für eine effektive Todesfallprävention ist das eine Katastrophe. Da sollte man wirklich sagen, da zählt das Menschenleben mehr als alles andere."

Der Berliner Rechtsanwalt und Mitglied des Abgeordnetenhauses Benedikt Lux (Grüne) sieht die Praxis ebenfalls kritisch: „Grundsätzlich fällt die Kenntnis von Drogenbesitz unter die ärztliche Schweigepflicht und bindet den Notarzt als auch den Rettungsdienst. Er darf auch nicht zur Anzeige von Drogenbesitz verpflichtet werden", schreibt er. „In keinem Fall darf die Polizei Druck auf Ärzte machen, den einfachen Drogenbesitz anzuzeigen. Es ist unnötig und gefährlich, Menschen in diesen akuten Notlagen mit einer möglichen Strafverfolgung abzuschrecken." Lux will sich in seiner Funktion als Politiker auch weiter mit dem Thema befassen—und die Praxis wenn möglich beenden.

Für Anna ist die Geschichte noch glimpflich ausgegangen, und auch ihre Freunde werden wohl nicht mit einer Strafverfolgung rechnen müssen. Allerdings verlieren sie die Wohnung—dem Vermieter war der Polizeieinsatz zu viel.

Noch mehr Sorgen machen Anna allerdings die möglichen Konsequenzen für andere, die sich in derselben Situation befinden—allerdings mit nicht ganz so guten Freunden: „Es gibt so oft Geschichten, wo primär Mädchen mit Überdosis auf der Straße gefunden werden", sagt sie. „Wenn das irgendwo bei Leuten passiert, wo noch mehr Drogen zu finden wären—die nehmen die Mädels und schmeißen die einfach auf die Straße, die haben keinen Bock auf die Konsequenzen."

„Ich fand es völlig verantwortungslos", beurteilt Thomas das Handeln der Polizei. „Jeder macht Fehler. Ja, Drogen sind illegal, das steht außer Frage. Aber in dem Fall sollte es einfach ums Überleben gehen."