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Popkultur

„Wenn ich arm sein müsste, dann lieber in Nordkorea als in New York City“

Der Filmemacher Álvaro Longoria hat einen Dokumentarfilm über Nordkorea gedreht und erzählt im Interview, wie es war, trotz seines exklusiven Zugangs zum Einsiedlerkönigreich in der Propaganda-Dauerschleife festzusitzen.
Auf der nordkoreanischen Seite der demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea | Foto: Metrodome Distribution

James Francos Film sollte Zac Efron witzig wirken lassen und keinen Atomkrieg heraufbeschwören. Doch es sah ein wenig so aus, als könnte das der Fall sein, als The Interview nicht nur in Hollywood, sondern auch im Weißen Haus zum Thema wurde. „Wenn jemand uns durch Einschüchterung davon abhalten könnte, einen satirischen Film herauszubringen", sagte Präsident Obama über die mutmaßliche Cyber-Attacke Nordkoreas auf Sony Pictures aufgrund der Komödie, „dann stellen Sie sich mal vor, was sie womöglich tun würden, wenn sie einen Dokumentarfilm sehen, der ihnen nicht gefällt." Und das ist das Stichwort für The Propaganda Game, den neuen Film des spanischen Dokumentarfilmers Álvaro Longoria. Mit der Doku wollte er zeigen, wie es ist unter dem „täglichen Propaganda-Bombardement" von Kim Jong-uns Regime zu leben.

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Longoria bekam exklusiven Zugang zu Nordkorea durch Alejandro Cao, einen 40-jährigen Spanier, der auch zufällig (laut eigenen Angaben) der Sonderbeauftragte des nordkoreanischen Komitees für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland ist. Cao fungiert in dem Film als eine Art Moderator, der versucht, uns davon zu überzeugen, dass Nordkorea im Vergleich zum kapitalistischen Übel des Westens ein grundguter Staat ist. Und Longoria lässt sich größtenteils von Cao führen: Der Film enthält epische Landschaftsaufnahmen, zeigt streng choreographierte Drills und Aufführungen und entspricht damit offensichtlich den Wünschen seines Gastgebers.

Alle Screenshots aus ‚The Propaganda Game'

Der Film geht darauf ein, wie Menschen in Nordkorea die internationale Wahrnehmung ihres Landes empfinden—genauer gesagt: auf die Lächerlichkeit, die Kims Regime außerhalb der Grenzen des Landes anzuhaften scheint. „Wie viele Atomwaffentests hat es in Nordkorea seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben?", fragt Cao an einer Stelle. Laut einer Infografik, die an dieser Stelle gezeigt wird, sind es drei, seit Januar vielleicht auch vier. „Und wie viele Atomtests hat Amerika in diesem Zeitraum durchgeführt?", fragt er. Die Antwort darauf lautet 1.035 (auch wenn es laut dem US Department of Energy eher 1.054 zwischen 1945 und 1992 waren).

The Propaganda Game ist Longorias Reise an einen Ort, wo der Wahrheitsgehalt einer jeden Information und Aussage angezweifelt werden muss. Indem er sich derart instrumentalisieren lässt, sagt Longoria mehr über das moderne Nordkorea als jede Doku mit versteckter Kamera. Und gleichzeitig zeigt er damit auch etwas auf, das über das Einsiedlerkönigreich hinausgeht: wie unser Leben bestimmt wird von unserer Fähigkeit, durch die Informationen, die wir verschweigen und preisgeben, zu manipulieren und manipuliert zu werden. Wir haben uns mit Longoria darüber unterhalten, wie es ist, Zugang zu Nordkorea zu bekommen und dabei seine Unabhängigkeit als Filmemacher einzuschränken.

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VICE: Was wolltest du mit dem Film erreichen?
Álvaro Longoria: Ich wollte untersuchen, wie Propaganda funktioniert und wie sie eingesetzt werden kann. In Nordkorea ist Propaganda ein Masseninstrument, das gegen das gesamte Volk eingesetzt wird. Vom Tag ihrer Geburt an werden sie die ganze Zeit mit denselben Vorstellungen bombardiert. Aber das wird auch mit Außenseitern gemacht, um die Botschaft noch weiter zu verbreiten. Ich stellte fest, dass ich selbst auch vom Westen manipuliert worden war. Es gibt so gut wie keine zuverlässigen Informationen zu Nordkorea, also kann man einfach alles Mögliche schreiben und die Leute glauben es. Nordkorea ist der extremste Ort, was Propaganda angeht, und manchmal können Extreme etwas besonders gut verdeutlichen.

Wie sehr hast du dich auf westliche Darstellungen von Nordkorea verlassen, um an Informationen zu gelangen?
Ich habe schon viel davon gesehen. Ich beschloss, dass ich mich von dem „Versteckte Kamera"-Stil des Filmemachens fernhalten wollte. Ich wollte keinen Film machen, der behauptet, etwas zu offenbaren, wenn es ehrlich gesagt eigentlich sehr schwer ist, neue Informationen über Nordkorea zu enthüllen. Und es kann einem sehr leicht passieren, dass man von Propaganda beeinflusst wird. Jedes Argument lässt sich belegen, wenn man will. Der einzige Einfluss, den ich hatte, waren nordkoreanische Propagandafilme aus den 1920ern und 30ern—einfach nur im Hinblick auf die Ästhetik. Ich wollte Propaganda als Propaganda zeigen, sodass sie schön und prächtig aussieht.

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Es gibt Szenen in dem Film, in denen sich Nordkoreaner mit dir treffen, um darüber zu sprechen, wie es ist zu wissen, dass viele Menschen in aller Welt unwahre Geschichten über ihre Heimat glauben. Wie bist du persönlich damit umgegangen, dich zu keinem Zeitpunkt auf die Aussagen deiner Gesprächspartner verlassen zu können?
Ich hatte das Gefühl, die ganze Zeit in einer Schleife festzustecken. Wenn jemand dauernd versucht, dich zu manipulieren, dann wirst du letzten Endes auch irgendwann manipuliert sein. Ich wollte also, dass das Publikum mich dabei begleitet und zu einem Teil dieser Manipulation wird. Ich wollte damit so weit gehen wie möglich und sehen, was passiert.

Was hat dich an Nordkorea überrascht?
Ich wusste, dass man mir Nordkorea von seiner besten Seite zeigen würde. Ich wusste, dass man mich für Propaganda benutzen würde. Das war offensichtlich. Die Frage war aber, ob ich in der Lage sein würde, ihr zu widerstehen. Ich war ein bisschen überrascht, denn ihre Propaganda war eigentlich sehr unbeholfen. Ich habe damit gerechnet, dass sie viel geschickter sein würden. Sie sind so isoliert vom Rest der Welt und den westlichen Medien, dass sie kein besonders fortgeschrittenes Verständnis davon haben, wie Medien funktionieren.

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Hast du dich davon überhaupt beeinflussen lassen?
Das habe ich. Ich bin kein Nachrichtenjournalist; ich wurde zum Opfer. Ich habe Stockholm-Syndrom bekommen. Nach 10 Tagen, in denen ich riesigen Mengen Propaganda ausgesetzt war, konnte ich fühlen, wie es anfing zu wirken. Ich habe mich weiterhin entgegenkommend verhalten, weil ich wollte, dass sie sich entspannen und mir gegenüber ehrlich sind. Dazu musste ich ihnen in manchen Situationen zustimmen.

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Doch ich muss zugeben, dass mir langsam gefiel, was ich da sah, und das nach nur 10 Tagen. Was würde mit mir passieren, wenn ich dort leben würde? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die meisten von uns stark bleiben würden. Die Propaganda ist pausenlos. Sie ist brutal, sie hört nicht auf und sie toleriert keine Diskussion. In anderen kommunistischen Ländern hat man im Gespräch mit den Menschen den Eindruck, dass es Dissidenten gibt. Die Leute haben ihre Meinungen, sie beschweren sich. Nordkorea dagegen ist ein Felsen. Es gibt keinen Raum für Dissidenz—nicht einmal für positive oder konstruktive Kritik.

Gibt es in Nordkorea etwas, das besser ist als im Westen? Haben sie es in irgendeiner Hinsicht besser?
Wer ist glücklicher? Nordkoreaner, denen nicht klar ist, dass sie in einer falschen Welt leben, die nichts von der Welt jenseits der Landesgrenzen wissen, und die wahrhaft an ihr System glauben? Oder die westlichen Menschen, die immer am Ball bleiben müssen und kein kollektives Erleben haben? Nordkoreaner sind glücklich, weil sie nichts wissen. Wir sind unglücklich, weil wir zu viel wissen. Wenn ich arm sein müsste, dann glaube ich, dass ich das lieber in Nordkorea als in New York City wäre.

Du hast durch Alejandro Cao Zugang zu Nordkorea bekommen. Wie ist er so?
Ich glaube, es hat noch nie einen so völlig bekehrten westlichen Menschen gegeben wie Alejandro. Er hat im Alter von 16 in Madrid seine ersten Bekanntschaften mit Nordkoreanern geschlossen. Er wurde intensiv ausgebildet und macht seine Arbeit sehr gut. Manchmal unterhält man sich mit den Leuten ja auch inoffiziell—man geht etwas trinken und sie entspannen sich und werden ein bisschen zugänglicher. Das hat er kein einziges Mal getan.

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Ich war bei ihm zu Hause, habe seine Eltern kennengelernt. Ich bin mit ihm um die Welt gereist, und er ist kein einziges Mal von seiner Botschaft abgerückt. Er ist eine hocheffiziente Maschine. Sie nennen ihn den „spanischen Soldaten". Dort drüben ist er ein Star, und er ist der Meinung, auf einer Mission zu sein. Im Westen wird er ständig mit Fragen durchlöchert, doch er ist eindeutig entschlossen, sein Wahlheimatland zu verteidigen. Er scheint nichts zu bereuen.

Gab es etwas, das du nicht in den Film aufnehmen konntest?
Wir haben die deutsche Botschaft in Pjöngjang besucht, die sich in einer Art überdimensionalem Safe befindet. Sie haben die Tür hinter uns geschlossen und gesagt, dies sei der einzige abhörsichere Ort in Nordkorea. Zwei Stunden lang erzählten mir deutsche Geheimdienstmitarbeiter, was vor sich geht. Viele dieser Geschichten hatte ich noch nie gehört und habe ich auch seither nicht mehr gehört. Ich wollte sehr gut aufpassen, mich von keiner Seite manipulieren zu lassen. Aber ich wünschte, ich hätte das Gespräch aufgezeichnet. Sie haben unter anderem betont, dass Kim Jong-uns Position nicht so sicher ist, wie sie scheint.

Die Nordkoreaner halten nicht damit hinterm Berg, dass sie Propaganda einsetzen. Sie versuchen nicht, es zu verstecken. Wir werden im Rest der Welt ja auch Propaganda ausgesetzt. Wolltest du das auch zeigen?
Das ist die zentrale These meines Films. Die Leute sagen mir oft, wie gefangen die Menschen in Nordkorea sind, und ich sage dann: „Ja, sie sind unfrei. Aber die Frage ist: Sind wir frei?" Du bist nur frei, wenn es in deiner Macht steht, eine Entscheidung zu treffen. Und du kannst erst Entscheidungen treffen, wenn du genug Informationen hast. Wie oft erhalten wir diese Informationen? Manchmal ist es schwer zu beurteilen, ob es hier wirklich so anders ist als dort.