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Kultur

„Was los ist? Ich sehe die Welt, das ist los“

Wir haben Hoch- und Vielbegabte gefragt, wie es ist, klüger und begabter zu sein als der Rest der Menschen.

Ein Mensch gilt als hochbegabt, wenn sein IQ 130 oder mehr beträgt. Laut landläufiger Meinung ist es ziemlich cool, hochbegabt zu sein: Einen Text nur einmal überfliegen und die Prüfung trotzdem bestehen, immer als Erster Bescheid wissen. Wer will das nicht? Es kann aber auch ganz anders laufen: Wenn nämlich niemand checkt, dass du kein neugieriger Klugscheißer, sondern einfach nur klug bist, kann sich das ziemlich belastend auf deine Kindheit auswirken.

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An diesen Punkt überschneidet sich die Gruppe der Hochintelligenten mit einer anderen Gruppe: Die Vielbegabten. Diese Menschen, sogenannte Scannerpersönlichkeiten, nehmen Reize viel stärker auf als wir Normalos. Sie sind oftmals zusätzlich hochsensibel, ihr Bewusstsein quillt quasi über vor lauter Eindrücken, Empfindungen, Ideen und Möglichkeiten. Und das führt nicht selten dazu, dass auch sie in der Schule als unkonzentriert, gelangweilt oder störend abgestempelt werden. Und die Betroffenen leiden: Unter dem Gefühl, „anders" zu sein, nicht richtig zu funktionieren. Daraus folgt dann nicht selten ein Mangel an Selbstbewusstsein, generelle Orientierungslosigkeit oder ernste psychische Erkrankungen wie Depressionen.

Das Feld rund um Hoch- und gerade Vielbegabung ist noch längst nicht abschließend erforscht, gerade wenn es um die Auswirkungen einer im Kindesalter verkannten Begabung geht. Wir haben mit drei Personen gesprochen, die genau davon betroffen sind: Bei ihnen wurde erst im Erwachsenenalter ein hoher IQ beziehungsweise eine Scannerpersönlichkeit festgestellt.

Marc Messer (33), hochbegabt

VICE: Marc, definiere bitte in einem Satz, was es für dich bedeutet, hochbegabt zu sein.
Marc Messer: Hochbegabt zu sein, hat im normalen Alltag keine besondere Bedeutung für mich, denn das Wohlergehen meiner Familie ist mir stets wichtiger und präsenter als das Wissen um meine Hochbegabung.

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Wann beziehungsweise unter welchen Umständen tauchte das erste Mal der Verdacht auf, dass du einen überdurchschnittlich hohen IQ haben könntest? Ein jetziger Freund lud mich vor vier Jahren zu einem Test bei Mensa ein. Ich habe sogar den ersten Gutschein verfallen lassen und bin erst ein Jahr später zum Test gegangen.

Wann hast du diese Tatsache für dich selbst angenommen? Und war dies ein gutes Gefühl?
Bei der Auswertung des Tests habe ich erfahren, dass ich kaum einen Fehler gemacht habe, was wohl ziemlich selten ist. Die nächsten Stunden fühlte ich mich dann etwas ätherisch und irgendwie überlegen, dann kam sofort die Frage in mir hoch, warum ich denn bei so tollen Anlagen nicht viel mehr aus meinen Fähigkeiten gemacht habe. Heute ist mir bewusst, dass in der Gesellschaft die verborgenen Spielregeln und Faktoren, die man versucht, mit „Emotionaler Intelligenz" zu beschreiben, eventuell wichtiger sein könnten.

Gibt es eine Kindheitserinnerung, von der du rückblickend denkst: Da hätte es mir/meinen Eltern klar werden müssen?
Ich war als Kind sehr neugierig und bin es immer noch. Meine Fragen waren schon immer sehr insistierend und ich wollte alles ganz genau wissen. Aber abgesehen von einer sehr blühenden Phantasie bin ich, beispielsweise in der Schule, nie durch besonders gute Noten aufgefallen – eher im Gegenteil.

Was ist dein aktueller Beruf und auf welchem Weg bist dorthin gelangt?
Nach Matura und Lehre habe ich BWL studiert und später aus Interesse oder Neugier noch Politikwissenschaften. Beide Studiengänge habe ich abgeschlossen und bin nun irgendwie seit dem Studium immer im Vertrieb tätig.

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Alleine auf deine persönliche Erfahrung bezogen: War der Faktor, dass du hochbegabt bist, bisher eher positiv oder negativ für dein Leben?
In Anlehnung an einen bekannten Spruch zum Thema Geld kann ich sagen, dass Intelligenz nicht alles ist, aber es beruhigt ein bisschen. Es gibt für mich irgendwie immer einen Anknüpfungspunkt oder ein Mosaikteilchen Wissen zu entdecken, das sich in das Gesamtbild meines bisher erworbenen Wissens irgendwo sinnhaft einfügt.

Beschreibe eine Situation, in der du es persönlich genießt, hochbegabt zu sein.
Das ist schwierig, denn oftmals muss ich mich sehr stark zusammennehmen und meine Gesprächspartner nicht zu sehr mit meinem Wissen oder meinen Ideen fluten.

Frauke (62), vielbegabt und hochsensibel; Mutter eines ebenfalls vielbegabten Sohnes

VICE: Bitte definiere für uns kurz die prägnantesten Unterschiede zwischen viel- und hochbegabt.
Frauke Eilers: Hochbegabung wird üblicherweise mit dem IQ gemessen. Die „Vielbegabten" sind die Multitalente, deren Vita zickzackförmig, mit vielen Sprüngen und Umwegen verläuft. 1983 hat der Psychologe Howard Gardner in seinem Buch Frames of Mind Multiple Intelligenzen vorgestellt. Er sagte darin, dass die intellektuelle Kompetenz ein Sortiment von Fähigkeiten beinhalte, die es ihrem Inhaber ermöglichen, echte Probleme zu lösen oder zu schaffen, um die Basis für neues Wissen zu legen. Das ist Evolution.

Wann beziehungsweise unter welchen Umständen tauchte das erste Mal der Verdacht auf, dass du vielbegabt sein könntest?
Nachdem ich im September 2014 mit Hilfe der EVOPÄD®-Methode balanciert wurde und seitdem zu kognitiven Hochleistungen fähig bin! Ludwig Koneberg hat diese Methode entwickelt, mit deren Hilfe die sieben verschiedenen Entwicklungsstufen des Gehirns in Balance gebracht werden können. So können die Multitalente, die aber in der Schule die Klassenclowns oder Lerngestörten waren, zu ihren Talenten finden. Und das ist unschätzbar wichtig, da diese Leute oft nur spüren, dass da noch mehr geht, und nicht wissen, wie sie zu ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen „durchdringen" können.

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Wann konntest du diese Tatsache für dich selber annehmen? Was hat dir dabei geholfen?
In dem Moment, Anfang Januar dieses Jahres, als ich zufällig den Kontakt zu Anne Heintze und ihrer Open Mind Akademie hergestellt bekam. Da verstand ich plötzlich, dass ich nicht nach meiner Geburt vertauscht worden war! Dass ich nicht nicht in meine Ursprungsfamilie gehörte. Ich bin nur „ein buntes Zebra", das hochsensibel (wir betreten einen Raum und nehmen sofort existierende Spannungen wahr) und hochsensitiv ist (wir sind Visionäre, die Eingebungen haben, wie die weitere Entwicklung aussehen wird), das schneller bestimmte Zusammenhänge erkennt (auch schneller als Menschen mit einem hohen IQ).

Hat deine besondere Fähigkeit dazu geführt, dass du im Teenageralter andere Schwierigkeiten hattest als deine Altersgenossen?
Nein. Eigentlich war die Teenagerzeit die leichteste. Als Kind wurde ich ja von den Mädchen gemobbt. Keine wollte mit mir spielen. Als Teeny war ich anders, interessierte mich für unterschiedliche Religionen und suchte eine Kirche, in der ich mich wiederfinden konnte.

Wie ist dir aufgefallen, dass dein Sohn vielbegabt ist? Gab es einen bestimmten Moment? Und was war das Erste, das du dann unternommen hast, um ihn zu fördern?
Es gab dieses Wissen um die Multitalente damals noch nicht. Er sollte mit sechs Jahren noch ein Jahr länger den Kindergarten besuchen. Da er aber schon im Alter von fünf Jahren Fischertechnik-Baukästen zusammensetzte, mit Hydraulik und Elektrizität und das alles, ohne die Baupläne lesen zu können, hielt ich dies für absolut nicht gerechtfertigt. Grund für die Rückstellung: Er spiele immer alleine in der Ecke und baue nur Technik zusammen.

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Ab da begann das heutzutage Typische: Klassenclown, keine Hausaufgaben. Als das Kind elf Jahre alt war, sagte sein Chemie-Lehrer am Gymnasium: „Jan in einer Klasse mit fünf Schülern ist super! Er ist sensationell! Aber in einer Klasse mit 30 Schülern ist er der Horror!"

Wir sprachen am Telefon bereits über das erhöhte Burnout-Risiko vielbegabter Menschen. Kannst du uns beschreiben, wie diese Krankheit bei dir ablief?
Ich arbeitete zum Schluss nur noch und achtete nicht mehr auf mich. Am Tag des Burnouts hatte ich für ein geschäftliches Telefonat im Auto angehalten und da es für mich keine Möglichkeit der Reaktion mehr gab, der Akku war leer, fiel ich in eine Starre. Ich konnte mich nicht mehr wehren, der Stoffwechsel brach zusammen, die Blutwerte zeigten dies an, die Haare gingen aus, die Fingernägel brachen ab, die Haut schuppte, meine Migräne breitete sich nun im Hirnstamm aus, wo dadurch dann das Gleichgewicht betroffen war. Und das alles innerhalb weniger Stunden nach dem Telefonat, als ich das Gefühl hatte, ich sei ein Luftballon, aus dem stetig die Luft entweicht.

Beschreibe eine oder zwei Situationen, in denen du es persönlich genießt, vielbegabt zu sein.
Ich bin schnell im Denken und im Erkennen von Zusammenhängen! Das, gepaart mit der Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und mit einem sehr hohen Maß an Empathie, dem Erspüren von Gefühlen anderer, der Fähigkeit, Visionen zu entwickeln und Netzwerke zu erstellen für deren Umsetzung, macht mich zu einem interessanten Team-Mitglied für Projekte.

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Das auf dem Foto ist nicht Mia. Foto: barockschloss | Flickr | CC BY 2.0

Mia (25), vielbegabt und hochsensibel

VICE: Wann beziehungsweise unter welchen Umständen tauchte das erste Mal der Verdacht auf, dass du vielbegabt sein könntest?
Mia: Durch meine letzte Schulpsychologin im Sommer 2013.

Gibt es eine Kindheitserinnerung, bei der du rückblickend denkst: Da hätte es meinen Eltern oder irgendwem anders klar werden müssen?
Das ist schwierig zu sagen. Ich habe immer bewusst versucht, nicht aufzufallen, „normal" zu wirken, indem ich normale Verhaltensweise nachahme und verinnerliche. Das hat an einigen Stellen nicht richtig funktioniert, sodass meinen Eltern zum Beispiel natürlich schon „irgendwas" aufgefallen ist. Es hat einfach lange niemand die richtigen Fragen gestellt.

Beschreibe kurz, mit welchen Schwierigkeiten du im Kindesalter zu tun hattest.
Verdrängung, egal ob meine Gefühle oder die von anderen. Ich wollte sie nicht wahrnehmen und spüren, vor allem nicht so intensiv. Ich „durfte" nicht, denn sonst nannte man mich ein Sensibelchen. Und ich kam ich mir echt dumm vor, wenn ich weinen musste. Entweder konnten die anderen nicht verstehen, was los ist, oder sie haben gemerkt, dass ich „leide", im Sinne von: Eigentlich nicht weinen mag und mir das peinlich ist. Dann hat man hat mich getätschelt oder bemitleidet, was es meist noch verschlimmert hat.

Und Schule, dieses ganze Themenfeld, war irgendwie … enttäuschend. Im Unterricht konnte ich nur auf wenige Fragen Antworten finden. Wenn man nachgefragt hat, warum Sachen so sind, wie sie sind, hieß es zu oft: Das ist einfach so. Andere Lösungswege werden selten angenommen und selbst wenn das Ergebnis stimmt, leidet die Note insgesamt drunter. Dann noch das Sitzen. Der Lärm. Permanent Menschen um mich rum. Die Schule hat mir einfach meine ganze Energie „weggesaugt", weil ich ja permanent busy damit war zu verstecken, wie ich wirklich bin. Ich musste da hocken, die Jahre vergingen und ich konnte mich gar nicht weiterentwickeln, im Gegenteil: Mein Körper wurde immer schwächer und mein Selbstvertrauen sankt jeden Tag.

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Wann konntest du die Tatsache, dass du „anders" bist, für dich selber annehmen?
Ich versuche, es gar nicht anzunehmen, denn ich bin nicht „anders"—mir ist nur alles bewusst. Sehen zu können, worauf die Dinge hinauslaufen, wie alles wird, ist sowohl treibend als auch hemmend.

Was ist das Problem, mit dem du heutzutage am meisten zu kämpfen hast? Sie fragten: „Was ist los?" Was los ist? Ich sehe die Welt, das ist los.

Ich weiß nicht, wohin ich auf dieser Welt gehen soll, um einen Ort zu finden, an dem ich den Verfall des Lebens nicht mehr wahrnehmen muss. Alles ist zu viel. Ich müsste nicht nur lernen wegzusehen, sondern auch wegzuhören, wegzuriechen, wegzufühlen. Also aufhören, meinen Verstand zu benutzen. Aber das möchte ich eigentlich nicht: Mein Gehirn ist ein Ferarri, nur: Wo im Leben kann ich gefahrlos probieren, wie es ist, 300 Sachen zu fahren?

MOTHERBOARD berichtet auch von schlauen Menschen. Und merkwürdigen.

Beschreibe eine Situation, in der du es persönlich genießen kannst, vielbegabt zu sein.
Jeden Moment, in dem ich keine „falschen" Menschen um mich rum habe. Aber gut ein konkretes Beispiel: Mein Körper. Ich weiß meist ganz genau, vielleicht zu genau, was für Essen ich brauche. Auch wenn ich krank werde oder so. Ich spüre meinen Körper so genau, das kann sich schlimm oder unheimlich gut anfühlen. In den guten Momenten wünschte ich immer, dass ich dieses Gefühl oder Glück mit jedem auf der Welt teilen könnte.

Deine eigene Definition von Glück:
Eine Ampel, die „für mich" grün wird, so dass ich nicht stehen bleiben muss. Ich sage oder denke dann auch immer: Danke.

Auch von uns: Danke.


Titelbild: Mark Fischer | Flickr | CC BY-SA 2.0