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Popkultur

Wir haben mit einem Wahrnehmungsforscher darüber gesprochen, welche Farbe dieses Kleid jetzt wirklich hat

Das Internet explodiert, weil kein Mensch sagen kann, ob dieses Kleid jetzt weiß-gold oder blau-schwarz ist. Wir haben einen Fachmann gefragt.

Das Internet übertrumpft sich zur Zeit mal wieder selbst. Auf Tumblr wurde ein Bild eines Kleides gepostet und der dazugehörige Text klingt ziemlich verzweifelt: „Leute, bitte helft mir—ist dieses Kleid weiß-gold oder blau-schwarz? Meine Freundinnen und ich können uns nicht einigen und wir drehen hier gerade richtig durch."

Ein Bekannter schickte mir den Link. „Welche Farbe hat das Kleid?", fragte er. „Das ist eindeutig blau und schwarz", antwortete ich. Dann habe ich meinen Kollegen Mike Pearl nach seiner Einschätzung gefragt, denn ich wollte auf Nummer sicher gehen. Erschreckenderweise sagte er in überzeugtem Ton, dass das Kleid für ihn die Farben Weiß und Gold hätte.

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Zuerst dachte ich, dass er mich verarschen wollte, und fing deshalb an, jeden meiner Mitarbeiter zu dem Kleid zu befragen. Die eine Hälfte ist Team Blau-Schwarz zuzuordnen, die andere Hälfte Team Weiß-Gold (Letztgenannte sind minimal in der Mehrheit).

Auch Hunderte andere Menschen haben sich in die Diskussion eingeschalten. Der Original-Tumblr-Post wurde zigmal weiterverbreitet und dabei über die Farbe gerätselt. Und schon war auch der Hashtag #Dressgate geboren. Die ganze Sache erinnert mich an damals, als auf Reddit das Thema „Ungefähr die Hälfte aller Männer wischt sich nach dem Kacken im Stehen ab, die andere Hälfte im Sitzen und den meisten Menschen ist nicht klar, dass die jeweils andere Gruppe existiert" angesprochen wurde.

Eine Buzzfeed-Umfrage ergab, dass ungefähr zwei Drittel der Teilnehmer das Kleid als weiß-gold ansehen, was mich an meiner geistlichen Gesundheit zweifeln ließ. Ich habe das Bild in verschiedenen Browsern geöffnet, es auf meinem Laptop und auf meinem iPhone betrachtet und schließlich sogar ausgedruckt. Für mich hatte es immer noch die Farben Blau und Schwarz. Letztendlich setzte ich mich mit Dr. Jay Neitz in Verbindung, einem Farbwahrnehmungsforscher an der University of Washington.

Ich ließ ihm den Link zu dem Tumblr-Post zukommen und fragte, welche Farbe das Kleid für ihn hätte. „Weiß und Gold", sagte er sofort. „Warum fragen Sie?"

Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass das Kleid für mich blau und schwarz wäre, fragte er einen Mitarbeiter in seinem Sehlabors nach einer zweiten Meinung. „Blau und Schwarz", antwortete der Student. Es folgte eine lange Stille am anderen Ende der Leitung.

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„Was ist hier los? Ich habe keine Ahnung", meinte Dr. Neitz zu mir. „Das ist eines der faszinierendsten Farbwahrnehmunsphänomene, die mir je untergekommen sind."

Man muss hier anmerken, dass Dr. Neitz jetzt schon seit ungefähr 35 Jahren im Bereich der Farbwahrnehmungslehre arbeitet. Er leitet ein renommiertes Labor namens Neitz Color Vision Lab. Er hat seine eigene Wikipedia-Seite. Und er hat keinen blassen Schimmer, was bei diesem Foto eines Kleides abgeht.

Ich habe Dr. Neitz darauf aufmerksam gemacht, dass es noch ein anderes Bild gibt, auf dem das Kleid von seiner Besitzerin getragen wird. Hier stimmte mir Dr. Neitz (und jede andere Person, die wir gefragt haben) zu und meinte, dass es in diesem Fall eindeutig blau-schwarz sei.

Einige meiner Mitarbeiter haben im Originalfoto zuerst kein Blau erkennen können, was sich änderte, nachdem ich ihnen das zweite Bild gezeigt hatte. Andere sahen immer noch keine blaue Farbe, selbst als ihnen erklärt wurde, dass dem so sein müsste. In einem TED-Talk wies der Neurowissenschaftler Beau Lotto einmal darauf hin, dass sensorische Informationen ohne Kontext im Grunde wertlos seien—das Gehirn „hat sich eigentlich nicht dahingehend entwickelt, um die Welt so zu sehen, wie sie eigentlich ist. Das ist uns gar nicht möglich. Stattdessen hat sich das Gehirn so entwickelt, dass wir die Welt so sehen, wie es für uns in der Vergangenheit nützlich war."

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Obwohl Dr. Neitz ziemlich überrascht von dem war, was passiert ist, stellte er ein paar Theorien auf. Als Erstes schlug er vor, dass unsere unterschiedliche Wahrnehmungsweise vielleicht mit dem Alter zu tun hat. „Die Linse unseres Auges verändert sich im Laufe unseres Lebens und je älter man wird, desto weniger sensibel wird man gegenüber blauem Licht." Das erklärt vielleicht, warum Dr. Neitz weiß und seine Studenten blau gesehen haben. Hier in unserem VICE-Büro gingen die Wahrnehmungsunterschiede aber quer durch alle Altersklassen. Die Theorie ist also nicht wirklich wasserdicht.

Eine bessere Theorie könnte sein, dass es mit dem Licht zu tun hat. Menschen sind mit einer Fähigkeit ausgestattet, die sich „Farbkonstanz" nennt. Das heißt im Grunde, dass die Farbe Rot auch in dunklem oder hellem Licht rot aussieht. Wenn das Licht selber allerdings farbig ist, passieren komische Sachen.

„Wenn ich in einem Raum rotes Licht anmache, dann werden die ganzen weißen Flächen das rote Licht reflektieren", erklärte Dr. Neitz. „Wenn du aber etwas Rotes hast, dann wird auch das Rote das rote Licht reflektieren." Wenn also dein Gehirn versucht, die tatsächliche Farbe von etwas zu erraten, wird es wahrscheinlich weiß sagen—auch wenn der Gegenstand unter normalem Licht rot ist.

„Ich hatte mal einen roten Volkswagen", erzählte mir Dr. Neitz. „Einmal war ich draußen, es war dunkel und ich stieg gerade in mein Auto. Jemand neben mir war auch gerade in sein Auto gestiegen und hatte die Bremslichter angemacht. Als das passierte, war mein Auto nur von den Bremslichtern angeleuchtet—und mein Auto sah weiß aus!"

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Das ist vielleicht auch das, was hier auf dem Foto passiert ist: Das Bild wurde wahrscheinlich in einem bläulichen Licht aufgenommen und dein Gehirn folgert daraus dann, dass das Kleid eigentlich weiß ist. Das ergibt Sinn. Was allerdings keinen Sinn ergibt: Die Gehirne einiger Menschen verarbeiten es als blau und andere als weiß. Der Forschungsschwerpunkt von Dr. Neitz liegt in den Wahrnehmungsunterschieden zwischen verschiedenen Menschen, aber bislang war ihm noch nie etwas Vergleichbares untergekommen.

„Ganz generell sieht man Dinge anders als die Person neben einem. Das hier ist aber ein Riesenunterschied. Das schießt wirklich den Vogel ab."

Mit der Erklärung von Dr. Neitz im Hinterkopf begannen wir, in unserem Office ein paar Experimente durchzuführen. Mike Pearl, für den das Kleid weiß-gold war, druckte das Foto aus und schaute es sich eine ganze Weile an. Er stellte dann irgendwann fest, dass er weiß sah, wenn er es von vorne betrachtete, und blau, wenn er von der Seite draufschaute.

Als ich anfing, diesen Artikel hier zu schreiben, sah das Kleid für mich noch immer blau-schwarz aus. Dann passierte aber die komischste Sache überhaupt: Plötzlich war das Kleid für mich weiß-gold. „Hast du das Bild verändert?", fragte ich Mike. Hatte er nicht. Tatsächlich hatte ich noch nicht mal die Seite neu geladen. Ich hatte ein Bild hochgeladen, das blau-schwarz aussah—und jetzt plötzlich war es weiß-gold.

Wir wissen immer noch nicht genau, was hier eigentlich los ist. Dr. Neitz schien von dem Phänomen allerdings wirklich fasziniert zu sein.

„Jetzt werde ich für den Rest meines Lebens daran arbeiten", sagte er mir. „Ich dachte, ich würde eines Tages mal Blinde heilen, aber jetzt werde ich wohl das hier machen."