
Die einfachste Art von moralischer Betroffenheit konnte ich in den bundesdeutschen Leitmedien lesen, als die Katastrophe weit, weit weg passierte. Anfang Oktober kenterte vor der italienischen Insel Lampedusa ein 20 Meter langes Boot mit 545 Flüchtlingen aus Eritrea und Somalia an Bord. Ungefähr 390 Menschen ertranken und alle Welt war tief erschüttert. Papst Franziskus sprach von einem „Tag der Schande“ und keiner widersprach. Was jahrelanges politisches Engagement nicht vermocht hatte, schaffte das Unglück in wenigen Stunden. Das Thema Flüchtlingspolitik war in aller Munde und hatte es endgültig in die Schlagzeilen der großen deutschen Blätter geschafft, obwohl es doch schon lange vorher zu sehen war. Bereits im April habe ich das Protestcamp am Oranienplatz in Berlin besucht und über den schier ausweglosen Kampf der Flüchtlinge berichtet.

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„Liebe Lampedusa-Flüchtlinge, die gute Nachricht: Gestern haben es 137 von Euch heil übers Mittelmeer geschafft … auf einem nur 12 Meter langen Boot. Die schlechte Nachricht: Ihr hockt nun in einem überfüllten Auffanglager. Monatelang vielleicht. Ihr habt es geschafft und nicht geschafft. Ihr kommt mir vor wie Vögel, die gegen eine Fensterscheibe fliegen. In Lampedusa ist die freie Luft zu Ende. Ihr kriegt zu essen und zu trinken, aber in das reiche Europa, mit den maßgeschneiderten Hemden und Schuhen aus London und Mailand, dürft Ihr nicht. Die wenigsten von Euch kriegen Asyl und Arbeitserlaubnis. Die meisten sitzen im Lager, gerettet, aber irgendwie auch tot.
So viele sind ertrunken auf dem Weg zum Paradies. Am Ende steht das Auffanglager. Das ist die Situation. Was kann man tun als guter Mensch?
Ich denke, dass man sich umarmen muss. Wenn uns überhaupt etwas rettet in dieser Welt, dann ist es die Liebe. Herzlichst, Ihr F.J. Wagner“
In Berlin selbst erlebe ich seit Monaten eine kleine Medienschlacht um das von Geflüchteten errichtete Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Dabei ist ebenfalls jede Menge Gefühl gefragt, wobei „BZ“-Kolumnist Gunnar Schupelius ganz vorne im Kampf für Law and Order mitmischt. Dabei gelingt dem Springer-Mann das Kunststück, gleichzeitig Hardliner zu sein und trotzdem Mensch zu bleiben. So besuchte Schupelius das in die Schlagzeilen geratene Flüchtlingsheim in Hellersdorf persönlich. Im Sommer hatte hier die NPD eine Bürgerinitiative aus der Taufe gehoben, die lautstark gegen das Heim protestierte. „Nein zum Heim“ skandierten die Anwohner, die teilweise gar keine waren. Der Slogan prangt noch heute auf zahlreichen Aufklebern, die rund um das Heim herum verklebt wurden und auch noch bei der letzten Demo zu sehen waren, die sich Anfang Januar gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Hellersdorf wandte und bei der immerhin 200 Menschen teilnahmen.
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