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Sex

Ich habe einen Tag in der Videothek verbracht, weil ihr es nicht mehr macht

Vor fünf Jahren gab es 2400 Videotheken in Deutschland. Gerade mal die Hälfte ist heute übrig. Sie überleben von Sexfilmen.

Hmmm, Kaviar | Alle Fotos von der Autorin

Es ist 11:04 Uhr an einem schwülen Samstagvormittag. Hier sind nur Männer. Neonröhren strahlen auf uns nieder. Durch die Anlage trällert Drake und bittet, passend zur Stimmung, um einen letzten Tanz. Während ich über den grauen Industrieteppichboden zur Theke schlurfe, fühlt es sich für einen ganz kurzen Augenblick so an, als wäre ich in die Vergangenheit zurückgereist. In meine Jugend. Damals, als mich noch die lebensgroße Lara Croft aus Pappe im Schaufenster begrüßte. Damals, da ging es dieser Branche noch richtig gut. Die Brüder Uygur, 41, und Talat Aktas, 49, denen der Laden in München gehört, haben keine Lara Croft aus Pappe. Nur die Wörter "Erotik Discount – Filme kaufen ab 2.99 Euro" prominent im Schaufenster.

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Ich stehe nach zehn Jahren Abstinenz wieder in einer Videothek. Der Leihausweis machte mich damals zum Mitglied eines Clubs, der aus Menschen aller Schichten bestand. Und alle zog es zu diesem grell erleuchteten Ort, der nie zu schlafen schien, und in dem Menschen arbeiteten, die aussahen, als würden sie das genauso wenig tun.

Uygur bei der Arbeit

Der coole Player, den alle Mädels haben wollten, traf hier auf die schrägsten Geeks. Aber wer kommt heutzutage noch hier rein und vor allem warum—wo wir mittlerweile alle Filme und Serien mehr oder weniger legal jederzeit streamen können? Für mich ist die Vorstellung, ohne Wohnungstür zu leben, erträglicher als ohne Internetanschluss.

Die Videothek betritt ein vermeintlicher Farid-Bang-Fan mit falsch herum aufgesetzter Gucci-Cap und weißer Skinny-Jeans. Er heißt Steve, ist 20 Jahre alt und hat momentan noch keinen Internetanschluss in seiner neuen Wohnung. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum er schon seit mehr als 30 Minuten in der Videothek ist. "Der Typ ist voll sympathisch." Er zeigt auf Uygur hinter der Theke.

"In meiner vorherigen Wohnung hatte ich Internetanschluss, aber ich mag das einfach hier in der Videothek. Ist halt so'n Ding. Wenn du streamst, hast du oft ein Geschiss, keine so gute Qualität." Qualität scheint ihm nicht nur bei der Wahl der Kopfbedeckung wichtig zu sein. "Jetzt hab ich mich für einen Horrorfilm entschieden, werde damit die Zeit totschlagen, bis meine Freundin aufkreuzt, und dann werde ich hier noch mal aufschlagen." Steve kam nicht wieder. Der Horrorfilm scheint auch für seine Freundin funktioniert zu haben.

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Ende der 90er gründeten die Aktas-Brüder ihre erste Videothek. 2006 dann der absolute Höhepunkt: Sie kauften andere Videotheken auf, errichteten ein kleines Imperium mit deutschlandweit 80 Filialen. Uygur zündet sich hinter seiner Theke eine Zigarette an. Inmitten von bunten Erotik-Covern, die—egal wann erschienen—anmuten, als wären sie aus den 70er Jahren: Throat fuck gangbang, White sluts, black nuts - Teil 4 und Facial fest - part 5. Mit 15 sind meine Mädels und ich kichernd an den undurchsichtigen Vorhängen vorbeigehuscht und haben jedes Mal, wenn jemand reinging, versucht, einen Blick zu erhaschen, als wäre dahinter der gemeinsame Backstagebereich von *NSYNC und den Backstreet Boys.

"Sterben Videotheken aus?", frage ich. "Momentan sind wir nur noch in München", sagt Uygur. Innerhalb von zehn Jahren mussten sie von 80 Filialen 76 schließen. "Diese hier haben wir vor drei Jahren aufgemacht", sagt Uygur. Er zieht an seiner Zigarette. Von den Top-Blockbustern hatten die Aktas-Brüder früher pro Titel mindestens 30, 40 Stück auf Lager, die alle innerhalb eines Tages weggingen. Heute haben sie von jedem Film höchstens sieben Stück da, mit Blu-rays zehn.

Um 12:32 Uhr betritt ein Brillenträger in Adidas-Streifenjacke die Videothek. Er fragt Uygur, wie viel er für den Film Deadpool im Verkauf verlangt. Bei Amazon würde dieser gebraucht mit Versand 13 Euro kosten. "8,90 Euro kostet er bei uns", sagt Uygur. "OK, ich hole ihn dann irgendwann." Der Typ läuft raus. Solche wollen halt versuchen, ein Schnäppchen zu schießen, sagt Uygur. "Früher, als es nur Videotheken und Kinos gab, hatten wir Kunden, die zigtausend Euro gezahlt haben, weil sie Filme nicht zurückgebracht haben. Das war halt so damals." Heute nicht mehr.

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2008 gab es noch rund 2.900 Videotheken in Deutschland. 2015 waren es nur noch knapp 1.200. Auch in Österreich ist die dreistellige Zahl an Videotheken innerhalb von 20 Jahren auf knapp 300 überlebende Geschäfte geschrumpft. Ganz anders sieht es mit den Video-on-Demand-Angeboten (VoD) im Netz aus. Den Branchenverbänden Bitkom und IHS Screen Digest zufolge erzielte VoD in Deutschland 2015 einen Umsatz von 579 Millionen Euro, knapp zwei Drittel mehr als Videotheken im selben Zeitraum. Auf dem österreichischen Markt für VoD zeigt sich eine ähnliche Tendenz: Die Nachfrage wird in den nächsten Jahren kontinuierlich steigen.

Ohne Erotik würde es laut Uygur keine Videotheken mehr geben.

Survival of the Fittest—oder ein Tribut an unsere Faulheit. Wie kommt es, dass seine Videothek im Münchner Stadtteil Sendling eine von den vier Überlebenden ist? "Wir haben hier viel mehr Erotikfilme. Wenn die Situation sich noch weiter verschlechtern sollte, machen wir halt die Spielfilmabteilung zu und verkaufen nur noch Pornos", sagt Uygur. Ohne Erotik, sagt er, würde es laut ihm gar keine Videotheken mehr geben. Sexfilme machen insgesamt 80 Prozent ihres Umsatzes aus. Über die genauen Zahlen möchte Uygur aber nicht sprechen. Von Spielfilmen alleine könnten sie jedenfalls nicht leben. "Wir haben gerade eine neue Filiale in der Landsberger Straße aufgemacht, die 500 Quadratmeter hat. Wobei 400 Quadratmeter Erotik und 100 Quadratmeter Spielfilme sind." Klingt, als müsste der Ausbildungsberuf Einzelhandelskaufmann/frau für "Home Entertainment" bald in "Adult Entertainment" umbenannt werden.

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Hier im Laden haben sie 20.000 Erotikfilme im Angebot und 10.000 reguläre Spielfilme. Dass ausgerechnet das Sexfilm-Geschäft nicht unter der Online-Konkurrenz leidet, wirkt paradox. Einige Kunden, sagt Uygur, haben ihm erzählt, seien abgemahnt worden, nachdem sie illegal Pornos streamten. Die meisten störe allerdings die schlechte Qualität und die unstetige Verfügbarkeit der Schmuddelstreifen. Selbst junge Männer kommen für die Sexfilme in den Laden, allerdings leihen die wenig und kaufen eher. Sie wollen auf Nummer sicher gehen, keine Spuren hinterlassen, anonym bleiben. Die Videothek als sicherer Hafen. Sie sind nicht geizig. 25 bis 30 Euro kostet ein Film. Die ältesten Kunden sind 80. Ein Rentner reist an Wochenenden sogar aus dem 80 Kilometer entfernten Ingolstadt an, um 15 bis 20 Erotikfilme auf einen Schlag mitzunehmen.

Fetischfilme seien besonders beliebt. "Je schräger, desto besser", sagt Uygur. Er zeigt mir ein Regal mit Titeln wie: Oh, I need to puke. Sie sind alle mit dem Datum beschrieben, damit der Kunde ganz genau weiß, wann der Streifen erschienen ist. Hier gebe es richtige Connaisseure, die sich gerne mit Gleichgesinnten zum Beispiel zu den neusten Trends im Genre "Kaviar" austauschen. "Zu den guten Zeiten wurden 100 neue Spielfilme im Monat angeboten. Jetzt sind es bestenfalls noch 60. Im Erotiksektor sind es 20 pro Tag. Im Schnitt haben wir da 400 Neuheiten im Monat."

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Um 15:46 Uhr kommt ein schlaksiger Mann in kurzer grauer XXL-Jogginghose und Sneakern in den Landen, seine hochgerollten Ärmel legen seine vielen Tattoos auf seinen Oberarmen frei: "Ich habe über eure App fünf Filme reserviert", sagt er. "Die will ich abholen." Uygur hat nur drei der fünf Filme da. Der Volltätowierte wirkt leicht genervt. Dann geht alles ganz schnell. Diskussion. "Ich kann den Kunden nicht anrufen und sagen: 'Bring die Filme zurück. XY will sie sehen.' Der Kunde kann die Filme so lange behalten, wie er möchte", erklärt Uygur mit ruhiger Stimme. "Ey Alter! Was ein Saftladen, ey. Ich komme nie wieder hierher." Er wendet sich ab. Der Typ verlässt nach seiner Offline-1-Stern-Amazon-Bewertung die Videothek. Uygur zündet sich eine Zigarette an. "Manche meine, dass sie hier jetzt den großen Mann spielen dürfen, weil es nicht mehr so viele Videotheken gibt."

17 Uhr ist Stoßzeit in der Videothek. Väter und Söhne holen sich ihren Animationsfilm für den Abend, Pärchen ihre Liebeskomödien. Ich zähle gegen 17:19 Uhr neun Menschen in der Videothek. Alle grüßen mich freundlich. Darunter auch Alexandra, 29. Strahlend beichtet sie mir, ein leidenschaftlicher „Filmjunkie" zu sein. Wenn Videotheken aussterben, würde sie das furchtbar finden, sagt sie mehrmals, mit ein wenig Pipi in den Augen. Obwohl sie Filme ab und zu auch online streame. Alexandra lasse sich gerne von Uygur beraten, ihm vertraue sie: "Wenn er sagt, der Film ist gut, nehme ich ihn mit. Wenn er nix war, sag ich: 'Der war scheiße.'"

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Ich beschließe, zum Abendessen eine Pizza beim Lieferanten nebenan zu holen. Der Lieferant ist Geschäftspartner von Uygur und Talat. Die beiden haben beschlossen, eine Kooperation mit dem Lieferservice einzugehen, um deren Kunden DVDs zum fettigen Essen liefern zu können. Der Service sei aber nicht so angenommen worden, wie man sich das erhofft hatte. Vielleicht weil der Film nun mal trotzdem zurückgebracht werden muss, was leider mittlerweile selbst für mich nach einem unverhältnismäßig hohen Aufwand klingt.

Um 20:43 Uhr passiert ein Pärchen den Vorhang in den Erwachsenenbereich. Martin und Anka, beide 24, kommen circa ein bis zwei Mal pro Monat in den Laden. Sie haben Spaß daran, sich neue Impulse für das eigene Liebesspiel aus Uygurs und Talats Erotikabteilung zu holen. Die beiden wirken unfassbar gelassen und schauen sich in dem reichhaltigen Sortiment um.

Ich verlasse den Laden ohne DVD, kaufe dafür aber noch eine Packung Pringles.

Sie prusten los, als sie Titel entdecken wie I blackmailed my stepdaughter's ass oder Angepisst fickt es sich am geilsten. Das Studentenpärchen ist seit gut drei Jahren zusammen. "Für uns beide war eigentlich schon von Anfang an ein natürlicher Umgang mit Pornos ganz normal. Ich find das schon geil, wenn wir uns zusammen 'nen Filmchen anschauen und genau wissen, dass wir in jedem Moment übereinander herfallen können", sagt Anka und grinst Martin an. Er nickt zustimmend. Nach circa 20 Minuten verlassen die beiden Arm in Arm den Laden mit einer DVD in einer weißen Papierhülle: The art of sex - Teil 3.

Um 22 Uhr ist außer Uygur und mir niemand mehr in der Videothek. Den ganzen Tag zwischen all den bunten DVD-Covern sticht mir die ganze Zeit der Film The Interview mit Seth Rogen und James Franco ins Auge, den ich immer sehen wollte, aber nie dazu gekommen bin. Kurz bevor ich mich gegen 23:45 Uhr verabschiede, stehe ich wieder vor dem Film. "Na, magst den mitnehmen?", fragt Uygur. Es muss wie die billigste Ausrede der Welt geklungen haben, als ich sage: "Ich habe gar keinen DVD-Player." Aber es stimmt. "Dann streamst dir den heute Abend noch schön bei Amazon für 5 Euro", sagt er und grinst mich dabei an. Er sollte Recht behalten. Vermutlich ist es mein schlechtes Gewissen, das mich dazu treibt, ihm wenigstens noch eine Packung Pringles abzukaufen, bevor ich nach Hause gehe.