Was Zürcher vom Leben auf dem Land lernen können
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Was Zürcher vom Leben auf dem Land lernen können

So viel besser, wie sie denken, sind die Stadtkinder nicht.

In der Schweiz gibt es wohl nur zwei Dinge, die mindestens so beständig sind wie der Röstigraben: das Gefühl der Städter, irgendetwas besser zu können als die Ländler und die Empörung der Ländler über dieses Gefühl. Ein Lieblingshobby der Zürcher ist es dementsprechend wohl, herauszufinden, ob Menschen wie die Betrunkenen, die sie auf der Hardbrücke nach dem Weg zum Hive fragen, AargauerInnen oder ThurgauerInnen sind, die sich über-szenig stylen, um einen möglichst zürcherischen Eindruck zu hinterlassen. Auf dem Land wiederum sitzen zeitgleich wohl die Freunde der Betrunkenen zusammen, um lästernd über die gleichen Leute herzuziehen, weil diese so sehr versuchen, in der Stadt anzukommen.

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Auch ich bin vor Jahren vom Land nach Zürich gezogen, wie es gemäss einer Berechnung des Tages-Anzeiger rund vier Fünftel der Stadtbewohner irgendwann getan haben. Trotzdem ertappe ich mich mittlerweile dabei, wie ich auf die Frage, woher ich komme, mit "aus Zürich" antworte. Mit der Zeit habe ich Stadt und Land kennengelernt und kann beides irgendwie schätzen—anstatt zu sagen, etwas von beiden sei besser, könnten wir auch einfach auf das achten, was wir vom Gegenüber mitnehmen können. Wie zum Beispiel diese Dinge:

Seine Meinung verteidigen

Als Stadtbewohner hast du etwas mit einem Nutzer sozialer Medien gemeinsam: Du lebst wahrscheinlich in einer Blase. Auf Facebook likst du Dinge, die dir gefallen, in der Stadt gehst du mit Leuten, die dir gefallen, an Orte, die dir gefallen. Du umgibst dich wohl mit Leuten, die ähnlich denken und ähnliche Interessen haben wie du.

Auf dem Land ist das anders. Du bist umgeben von Leuten, die anders ticken als du—bis hin zu extremen Rechten—und du bist gezwungen, mit ihnen irgendwie auszukommen, wenn du deine Jugend überleben willst. Das hat mich gelehrt, mit Andersdenkenden umzugehen. Ohne die endlosen und nervenaufreibenden Diskussionen auf dem Pausenplatz oder am Dorffest, könnte ich heute meine Meinung bestimmt weniger erfolgreich durchboxen.

Auch meine Argumentationsweise wurde dank ihnen so optimiert, dass ich heute um einiges gelassener meinem Gegenüber Fakten unterbreiten kann. Ich habe beispielsweise gelernt, meinen Diskussionspartner so lange reden zu lassen und auf meine Fresse zu sitzen, bis er sich verzettelt. Auf seine wirre Argumentation dann mit einem gehaltvollen, kurzen Satz zu kontern, ist meist eine erfolgreiche Strategie. Generell ist es wohl einfacher, sich in einer Stadt Gleichgesinnte zu suchen, als auf dem Land gegen die Masse der Andersdenkenden anzuschwimmen.

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Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt

"Niemand existiert aus einem Grund, niemand gehört irgendwohin, jeder wird sterben. Komm TV schauen", ist das wohl bekannteste Zitat aus Rick and Morty und verdeutlicht trotz seiner Radikalität sehr gut, was in Städtern oft abgeht. Um dich wirklich in der Stadt zu integrieren, musst du dir auch das Gefühl zu eigen machen, du hättest Anspruch darauf, dass alle fünf Minuten ein Bus kommt, dass an der Migros-Kassa pro Sekunde ein Produkt über den Scanner rast und dass du selbst morgens um 05:00 Uhr noch Einkaufen gehen kannst. Auf dem Land läuft das anders.

Dort gibt es kein "kurz Einkaufen gehen". Im Dorfladen kennst du immer irgendjemanden, der dich in ein "Hast du schon gehört"-Gespräch verwickelt oder einen Kassierer, der mit der Oma vor dir über das Wohlbefinden all ihrer 20 Enkel tratschen muss. Einen Bus zu verpassen heisst, mindestens eine halbe Stunde an Ort und Stelle auf den nächsten warten zu müssen—und nicht fünf. Und denk gar nicht erst daran, über Mittag ein Paket zur Post zu bringen, du wirst vor dem Eingang der Post warten müssen.

In der Stadt würde etwas mehr Geduld durchaus das Gemeinwohl begünstigen. Wenn sich die Kassiererin im Migros in ein nett gemeintes Gespräch mit einer Oma verwickelt, stöhnt die ganze Schlage sofort auf. Wenn am Sonntag nur jeder vierte Laden geöffnet hat, sind manche fast schon dazu geneigt, eine Revolution in Gang zu setzen. Das ist unnötig vergeudete Energie.

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Eine eigene Realität schaffen

Die Stadt wird oft als kreativer Pool verschrien. Hier eine Vernissage, dort ein Pop-up-Restaurant und dazwischen eine frisch aus dem Boden gestampfte Party-Reihe—täglich wirst du von Angeboten aus der sogenannten Kreativbranche überflutet. So schön dieser Überfluss auch sein mag, er hat auch seine Schattenseiten.

Willst du In der Provinz etwas unternehmen, das nichts mit Zeltfest zu tun hat, musst du selbst dafür sorgen, dass es entsteht. Wer im Aargau keinen Bock auf das Argovia-Fäscht hat, muss sein eigenes Festival starten—oder eben in die Stadt flüchten, wo Angebot im Überfluss besteht. Provinzler sind also dazu gezwungen, kreativ zu sein. Städter können Konsumenten bleiben.

Spring über deinen Schatten

"Grüss immer schön die Leute auf der Strasse", hämmerte mir meine Mutter regelrecht ein, bevor ich mich auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Damals nervte es mich, dass man von mir ein dummes Grüezi erwartet. Später, als ich gerade frisch in die Stadt gezogen war, grüsste ich die Leute in der Quartierstrasse wie selbstverständlich und war verwirrt, wenn ich keine Antwort bekam. Heute stimme ich meiner Mutter vollends zu.

In der Stadt, selbst in einem ruhigen Quartiergässchen, zieht man die Anonymität vor, als einer vorbeigehenden Person kurz in die Augen zu schauen. Schade eigentlich, denn ein "Grüezi" verbunden mit einem ehrlich gemeinten Lächeln kann jemand anderem tatsächlich den Tag versüssen. Wer weiss, mit was für Sorgen sich die Person gerade noch bei der Arbeit herumgeschlagen hat—in der Stadt sind schliesslich immer alle total beschäftigt—und so etwas Unerwartetes würde sie bestimmt gleich auf andere Gedanken bringen. Darum: Nick doch den vorbeigehenden auf deiner Strasse wenigstens zu, wenn du heute Abend nach Hause gehst. Das tut weder weh noch kostet es dich etwas.

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Richtiges Abstürzen

Nur ein Wort: U-Boot.

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