FYI.

This story is over 5 years old.

Feature

Was geht eigentlich gerade in Russland?

Auf Festivalvisite beim Present Perfect in St. Petersburg, um zu erfahren: Wie sieht die Szene ihre Zukunft? Dieses Mal ohne Polizei.

Es ist Samstag in St. Petersburg und das Wetter ist beschissen. Den ganzen Tag über hat es wie aus Eimern geschüttet. Aber jetzt plötzlich, wie auf Kommando und pünktlich zum Start des Present Perfect Festival (PPF), reißt die Wolkendecke auf. Bühne frei für eine der größten Veranstaltungen für elektronische Musik in Russland.

Keinen Monat vor dem PPF war in Moskau erst eine ganz ähnliche Veranstaltung, das Outline Festival, unter fragwürdigen Umständen von der Polizei abgesagt worden. Das Veranstaltungsverbot wurde erst wenige Stunden vor dem eigentlichen Beginn bekanntgegeben und auch ich war einer der vielen verärgerten Ticketbesitzer, denen ihre Dosis elektronischer Avantgarde-Musik und Street-Art verwehrt worden war. Aber hey, immerhin hatte ich jetzt die Gelegenheit, das beim PPF nachzuholen.

Anzeige

Das gerade mal zwei Jahre junge Festival hat sich bereits einen Namen als Autorität in Russlands aufstrebender Szene gemacht, die momentan auch in der restlichen Welt große Beachtung findet. Verortet im ausladenden Street Art Museum, einer relativ neuen und angesagten Sankt Petersburger Location, mutete das Gelände fast wie eine Kulisse aus einem Science-Fiction-Film an und passte damit perfekt zu dem futuristischen Sound, der von den Bühnen kam.

Große internationale Namen wie Plaid, King Midas Sound und AUX 88 traten auf der Hauptbühne auf, neben international bekannten Russen wie Philipp Gorbachev, der pünktlich zur Morgendämmerung sein neues Album präsentierte. Die beeindruckenden Visuals von Digitalkünstler Eon Flax ließen dazu die Bühne erleuchten.

Daneben gab es noch eine separate Boiler Room Bühne, deren Programm natürlich in die ganze Welt ausgestrahlt wurde. Mit Dasha Rush besetzte zudem eine Russin den Headliner-Slot. Die DIY-Stage konzentrierte sich voll und ganz auf einheimische Talente wie Lapti, Kedr Livanskiy und Buttechno. Und auf der Garden Stage hatte man das Gefühl, in einem Tropenhaus zu sein. Dort wurde bis in den frühen Morgen durchgetanzt.

Es war absolut die Reise wert. Aber THUMP hatte mich ja gefragt, ob ich mich mit ein paar Menschen hinter dem Festival, Künstlern und Besuchern unterhalten könnte, um zu erfahren, was das Festival für Sankt Petersburg bedeutet und wie es um die elektronische Musik in Russland bestellt ist. Und das habe ich auch gemacht. Genauso wie ein paar Fotos.

Anzeige

Dimitry Agalakov

verantwortlich für das Konzept und das Booking bei Roots United, der Agentur hinter dem Festival

Kannst du etwas über die Geschichte des Festivals erzählen?
Es begann alles vor acht Jahren mit unserer gemeinsamen Liebe für elektronische Undergroundmusik. Am Anfang haben wir unsere eigenen Veranstaltungen in mittelgroßen Hallen gemacht. Dafür haben wir große Künstler aus Detroit eingeflogen, trotzdem sind immer nur 200 bis 300 Gäste gekommen. Es gab damals in Sankt Petersburg eine Art kultureller Stagnation. Die Zeit der großen Raves war vorbei und viele große Veranstaltungsorte machten zu.

Wie ging es dann weiter?
Wir waren alle so 20 oder 21—ein paar von uns gingen noch zur Uni. Wir mussten erst noch überlegen, was wir überhaupt wollen und in welche Richtung es gehen soll. Wir brachten also weiter Künstler nach Petersburg und wechselten irgendwann in größere Läden. Wir haben dann aber bald gemerkt, dass es so nicht weiter geht, und außerdem waren wir waren es leid, 500 Gäste zu haben, die alle sofort nach dem Auftritt des Headliners wieder verschwinden.
Wir haben uns also eine Auszeit genommen, unser eigenes Label gegründet und Boiler Room bei ihrer ersten Veranstaltung in Petersburg geholfen. Vor zwei Jahren haben wir dann erkannt, dass wir ausreichend Ressourcen und Verbündete haben, um ein eigenes Festival zu organisieren. So ist das erste Present Perfect entstanden.

Anzeige

Das Festival findet auf dem Gelände des Street Art Museums statt. Warum das denn?
Das Museum war einfach eine sehr praktische Location für uns. Es eignet sich perfekt für ein Festival. Wir mussten auch nicht erst die ganze Halle nach unseren Bedürfnissen umbauen, wie das Outline es in Moskau getan hat. Wir hätten uns das auch gar nicht leisten können. Es gab da allerdings auch beidseitiges Interesse—sowohl von uns, als auch vom Museum aus.

Wie hat sich das dieses PPF vom ersten unterschieden?
Beim ersten PPF ging es vor allem darum, alles erst mal auszuloten. Können wir das wirklich? Ist die Stadt bereit für so eine Veranstaltung? Dann haben wir daran gearbeitet, es in ein großes City-Event umzubauen—also nicht nur Partys, sondern auch ein Tagesprogramm, zu dem die Besucher auch ihre Kinder mitbringen können. Bei der nächsten Veranstaltung werden wir das Line-Up noch erweitern und auch Jazz- oder HipHop-Künstler einladen. Die einzige Bedingung lautet, dass ihre Musik mutig oder avantgarde sein muss.

Dieses Jahr gibt es eine Bühne nur für russische Künstler. Kannst du etwas über die wachsende russische Szene sagen?
In letzter Zeit sind viele neue, erfolgreiche Musiker in Russland aufgetaucht. Ihre Musik kommt von Herzen und der Westen interessiert sich dafür, was sie zu sagen haben. Auch wegen der Finanzkrise interessieren sich russische Veranstalter jetzt mehr für heimische Künstler. Ausländische Künstler sind ziemlich teuer geworden. Und die neue Clubgänger-Generation weiß die russischen Musiker auch zu schätzen, die es im Westen geschafft haben.

Anzeige

Michail Stangl

Leiter, Cheforganisator und Host bei Boiler Room Berlin

Warum hat sich Boiler Room dazu entschieden, bei einem russischen Festival mitzumachen?
Wir haben eine wirklich enge Verbindung zu Russland. Aus Russland kam ganz am Anfang das mitunter erste und positivste Feedback. Wir wollten deshalb immer schon eine Präsenz hier haben, weil das für uns wichtig ist.

Wie seid ihr auf das PPF gekommen?
Bislang haben wir noch mit keinem Festival hier zusammengearbeitet. Bei Outline hat es aus logistischen Gründen nicht geklappt, aber dann kam die Gelegenheit, mit dem Present Perfect Festival etwas zu machen. Wir haben schon mal zusammen eine Show in Sankt Petersburg gemacht, aber das ist schon lange her. Unser Partner sollte idealerweise ein junges Festival mit erstklassigem Line-Up sein—und wir wollten unsere eigene Bühne. Present Perfect Festival hat sich da einfach angeboten.

Obwohl zwischen Russland und dem Westen ein schwieriges politisches Verhältnis herrscht, betrifft das nicht die Kultur.

Bei einem Festival mitzumachen, zu dem jeder kommen kann, ist aber ein ganz schöner Unterschied zur Exklusivität normaler Boiler Room Veranstaltungen.
Das mit der Exklusivität ist ein großes Missverständnis. Als wir gerade mit Boiler Room angefangen hatten, war der Zugang nicht limitiert, weil wir irgendeine Art von VIP-Veranstaltung feiern wollten. Wir wollten stattdessen ein positives Umfeld erschaffen, in dem Musik entsteht und die Künstler sich konzentrieren können. Dementsprechend waren die ersten Menschen, die in den ersten fünf Jahren zu Boiler Room gekommen sind, Freunde der DJs. Das hat sich schließlich als erfolgreich bewiesen. Es befreit den DJ zu einem gewissen Grad von den Publikumserwartungen. Seitdem haben wir das Konzept ein wenig angepasst. DJs können immer noch ihre ganzen Freunde einladen, aber wir machen jetzt auch eine Menge RSVPs, damit auch jeder die Chance hat, Boiler Room mitzuerleben.
Auch wenn Boiler Room als Sendung angefangen hat, ist es zu einer ganz besonderen Art geworden, elektronische Musik zu erfahren und weltweit daran teilzuhaben, ohne physisch vor Ort sein zu müssen. Die Festivalpräsenz ist also eine Verlängerung davon.

Anzeige

Was hältst du von dem Line-Up?
Es gibt ein paar Künstler, die international bekannt sind, ein paar Lokalhelden und junge, aufstrebende Künstler, die gerade erst in die Szene kommen. Auf der einen Seite wird gezeigt, was in der elektronischen Musik gerade weltweit relevant ist, und auf der anderen sehen wir, was vor Ort passiert.

The one thing they don't tell you about Russia: The kids here are alright.

— Mi to the chail (@opiumhum)31. Juli 2016

Wie hast du die Absage vom Outline wahrgenommen?
Es ist verdammt schade. Die Leute in Europa haben über Moskau und dieses einzigartige Festival gesprochen, das so reich an Kunst, verspielt, auf Gemeinschaft basierend und generell erstklassig organisiert ist. Es hatten sich viele darauf gefreut und ein paar meiner Freunde hatten sich schon Tickets besorgt.

Glaubst du, dass sich dieser Vorfall auf die Zukunft der russischen Szene auswirken wird?
Ich hoffe es nicht, denn in den letzten Jahren hat Russlands elektronische Musikszene unglaublich viel internationale Beachtung gefunden—mit einer Menge guter Reviews und einer ganzen Reihe Künstler, die ziemlich erfolgreich geworden sind: Nina Kravitz, Philipp Gorbachev, Pixelord, Lapti, Hyperboloid Crew und viele mehr. Die Menschen schauen interessiert auf Russland. Obwohl zwischen Russland und dem Westen ein schwieriges politisches Verhältnis herrscht, betrifft das nicht die Kultur. Die Menschen sind generell sehr interessiert an allem, was in Russland geschieht.

Anzeige

Pavel Milyakov aka Buttechno

russischer Künstler und Teil des Line-ups

Was hältst du vom Present Perfect Festival?
Meiner Meinung nach ist das alles ein großartige Leistung. Das Line-Up, die Organisation und wie an Publikum und Künstler herangegangen wird, so was gibt es in dieser Form nur sehr selten in Russland.

Hast du schon bei ähnlichen Festivals in Russland gespielt?
Ja, beim Save.

Wie unterscheidet sich das PPF?
PPF ist anders, weil es in Sankt Petersburg stattfindet. Die Stadt hat ihre eigene Atmosphäre, und das mag ich wirklich.

Auf welche Künstler hast du dich besonders gefreut?
Ich fand vor allem die lokale Szene interessant, die man auf der DIY-Bühne sehen konnte: Flaty, Nocow, Dices und ein paar mehr. Es war eine Art Festival im Festival. Ein sehr gutes Line-Up mit spannenden aber unbekannten Künstlern. Es war in gewisser Weise die aufregendste Bühne des Festivals.

Wen hälst du für die besten elektronischen Künstler Russlands derzeit?
Vtgnike, Flaty und jeder auf GOST Zvuk.

Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Hart arbeiten, neue Musik schreiben!

Kedr Livanskiy

Alisa Blinova

Festivalbesucherin

Wie hat dir das Festival gefallen?
Sehr! Die Stimmung war großartig und die Musik auch ziemlich gut—obwohl ich kein großer Fan von elektronischer Musik bin. Ich war wirklich überrascht darüber, wie viele Menschen hier waren—und dann auch noch so nette.

Hast du also einen guten Eindruck von der russischen Elektroszene bekommen?
Ich habe sie quasi hier beim Festival entdeckt. Kedr Livanskiy hat mir am meisten gefallen. Das ist genau meine Musik.

Anzeige

Gab es auch Negatives?
Ich hätte mir gewünscht, dass das Line-Up auf dem Festivalgelände ausgehangen gewesen wäre. Ich musste ständig auf mein Handy gucken. Und manche Sachen waren echt schwer zu finden.

Glaubst du, dass es zum größten Sommerfestival der Stadt werden könnte?
Nun, Sankt Petersburg ist ein Ort, an dem Joseph-Brodsky-Lesungen hunderte Menschen anziehen. Also, auch wenn das kein Mainstream ist, denke ich, dass da Potential für Wachstum ist.

Würdest du auf noch mehr solche Festivals gehen?
Ja, wenn es nicht teurer wird.

Misha Slyusarev

Festivalbesucher

Wie hat dir das Festival gefallen?
Es war überraschend gut. Ich mochte wirklich alles: von der Organisation bis zu den Künstlern. Es gab eine riesige Bandbreite an Musik auf den verschiedenen Bühnen. Du konntest dir entweder einen der Headliner auf der Hauptbühne angucken oder drinnen bleiben und den Boiler Room DJs zuhören. Die Garden Stage hat mir am besten gefallen. Ich war auch verwundert, eine Menge meiner Freunde hier zu treffen. Das Essen war ebenfalls super.

Findest du, dass das Museum of Street Art eine gute Location für das Festival war?
Ich bin jetzt zum ersten Mal hier und habe es mal etwas ausgekundschaftet. Es ist ein wirklich großes Gelände und ich würde gerne noch mal für eine Ausstellung herkommen.

Ich war verwundert, eine Menge meiner Freunde hier zu treffen.

Welcher Auftritt hat dir am besten gefallen?
Ich war wirklich beeindruckt von Philipp Gorbachev. Ich habe seine Musik zum ersten Mal vor etwa einem Jahr gehört und wollte ihn unbedingt mal live sehen.

Bist du vorher schon mal auf so einem Festival gewesen?
Ich war beim Lollapalooza in Buenos Aires und beim Picnic Afishi in Moskau. Aber ich bin noch nie auf einem Festival für elektronische Musik gewesen.

Würdest du auf mehr solche Festivals gehen?
Ich bin mir nicht sicher. Elektronische Musik ist nicht wirklich meine Szene.

**

Andrei lebt und arbeitet als Musikjournalist in Moskau—und er twittert. THUMP auch. Folge uns auf Twitter, Instagram und unserer neuen Facebook-Seite.