Wie Produzenten aus der ganzen Welt auf die Flüchtlingskrise reagieren
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Wie Produzenten aus der ganzen Welt auf die Flüchtlingskrise reagieren

Vom Syrer Hello Psychaleppo bis zur türkisch-deutschen DJ Ipek zeigen sich diese Acts nicht bloß solidarisch.

Mehr als eine Million Menschen haben im Jahr 2015 in Europa Schutz vor Krieg, Gewalt und politischen Unruhen gesucht. Laut des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) werden diese Zahlen noch weiter steigen. Die Meisten fliehen vor dem verheerenden Bürgerkrieg in Syrien, aber auch vor den anhaltenden Unruhen in Afghanistan, im Irak und in Eritrea. Die europäische Flüchtlingskrise hat auch zu einer wachsenden Spannung in der Europäischen Union geführt. Da die Regierungen nicht in der Lage sind, sich auf eine Lösung zu einigen, müssen wir uns mit den schlimmen Folgen auseinandersetzen. So wurde vor Kurzem zum Beispiel gemeldet, dass in den letzten zwei Jahren Tausende minderjährige Flüchtlinge verschwunden sind.

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Immer mehr Musiker aus allen Teilen der Welt setzen sich in ihren Arbeiten mit diesem Thema auseinander. Die bekanntesten Beispiele stammen von politisch interessierten Popstars wie M.I.A. oder PJ Harvey, die in ihren Texte kraftvolle Botschaften zum Ausdruck bringen. M.I.A. hat Ende letzten Jahres ihr selbstgedrehtes Video zum Song „Borders" veröffentlicht, in dessen Text sie sich solidarisch mit den Geflüchteten zeigt: „Yeah fuck 'em when we say we're not with them / We solid and we don't need to kick them / This is North, South, East and Western". Im Video ist zu sehen, was Geflüchtete durchmachen müssen, dutzende Leute rennen durch ein Brachland und klettern über Stacheldrahtzäune.

PJ Harvey macht in „The Wheel" auf das „sich drehende Rad" der Geschichte aufmerksam, im Video sehen wir erneut Massen an Menschen, die vor gewaltsamen Regimes fliehen. Der Track von ihrem bald erscheinenden Album The Hope Six Demolition Project wurde durch ihre Besuche von Dörfern im Kosovo und in Afghanistan inspiriert, die in den 90ern Opfer ethnischer Säuberungen wurden. Die Kraft des Songs liegt in Harveys Fähigkeit, die Bilder vermisster Kinder auf eindringliche Weise heraufzubeschwören: „Now you see them, now you don't / Children vanish 'hind vehicle / Now you see them, now you don't / Faces, limbs, a bouncing skull."

Hello Psychaleppo: Du weißt nicht, was du fühlen sollst

Wie diese Popstars reagieren auch Produzenten weltweit mit ihrer Musik auf die Situation. Da rein elektronische Musik nicht die deskriptive und emotionale Kraft von Lyrics bietet, wird ihre Fähigkeit, kraftvolle politische Botschaften zu liefern, oft übersehen—obwohl das Genre tiefe politische Wurzeln hat. Doch der in Syrien geborene Hello Psychaleppo, der Kanadier Poirier und die deutsch-türkische DJ Ipek sind schonungslose Beispiele dafür, wie du neue Wege finden kannst, das Unbeschreibliche zu beschreiben, und emotionale Antworten auf diese humanitäre Katastrophe aufzugreifen, die vielleicht etwas abstrakter aber genauso bewegend sind wie jene der Pop-Zeitgenossinnen.

Während die Medien sich auf außenpolitische Konflikte, etwa, wie der Krieg beendet werden kann, konzentrieren, bietet Hello Psychaleppo (alias Samer Saem Eldahr) eine etwas menschlichere Perspektive. Er zeigt, was vor Ort wirklich passiert.

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Samer verließ seine syrische Heimatstadt Aleppo 2012 in Richtung der libanesischen Hauptstadt Beirut. Zu dieser Zeit mündeten die Proteste gegen das gewaltsame Regime von Präsident Bashar al-Assad in offenen Auseinandersetzungen, was letztendlich zu einem Bürgerkrieg führte. In einem Interview mit dem Blog Subbak erklärte Samer, warum er fliehen musste: „Die Situation dort einfach immer schlimmer wurde". Er war einer der geschätzt 170.000 Syrer, die laut UN in jenem Jahr infolge des Kriegs das Land verlassen haben. Seither wurden laut Amnesty International ungefähr elf Millionen Syrer—die Hälfte der Einwohner des Landes—aus ihrer Heimat vertrieben.

Die zerrissene, hektische und dennoch merkwürdig tröstliche Musik, die Samer als Hello Psychaleppo seit seiner Flucht in den Libanon und seinem vor einem Jahr erfolgten Umzug in die USA produziert hat, fängt ein, wie es sich anfühlt, in einem Zustand der Verdrängung zu leben. Auf „Beirut", einer Single, die er im März 2015 selbst veröffentlicht hat, erschafft ein abgehackter Beat ein hektisches Tempo. Arabischer Gesang treibt den Track voran, dieser wird jedoch von verzerrten Synthies durchdrungen, die seinen Fluss unterbrechen. Du weißt nicht, was du fühlen sollst—ermutigt, dann aufgebracht, dann wieder ermutigt. Indem er den Gesang mit einem bebenden Bass und hastigen Synthies verbindet, spiegelt Samar die kulturellen Traditionen seines Landes wieder. Durch die Verwendung des elektronischen Elements schaut er aber auch—oft mit hoffnungsvollen Augen—in dessen Zukunft.

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Was du nun wirklich nicht über Samer Musik sagen kannst, ist, dass sie niedergeschlagen ist. Es finden sich darin Momente der Hoffnung, der Anflug von Leichtigkeit. Selbst auf oberflächlicher Ebene ist seine Vermischung traditioneller Beduinen-Melodien und dubbiger Electro-Beats eine Anspielung auf die utopischen Wurzeln der elektronischen Musik—und wie diese Musik Lücken zwischen Genres, Kulturen und Philosophien schließen kann.

Poirier: Begriffe sind entscheidend

Auf dieselbe Weise, mit der PJ Harvey in „The Wheel" frühere Momente des zivilen Ungehorsams mit dem, was heute passiert, verbindet, erforscht der kanadische Produzent Poirier in seinen Arbeiten diese Idee der zyklischen, miteinander verbundenen Natur der Migration. 8.000 Kilometer von Syrien entfernt macht der Musiker aus Montreal Platten, die mit unterschiedlichen Themen spielen—von Bewegung, verschmelzenden Kulturen und damit, wie die Leute zusammenarbeiten müssen, um Wandel herbeizurufen.

Poirier schreibt per Email gegenüber THUMP, er habe sein neuestes Album Migration, das im März erschien, im Sommer 2015. Damals verbreiteten sich die schockierenden Schlagzeilen über Menschen, die versuchen, Europa zu erreichen. Das Ereignis hat seinen Gemütszustand nachhaltig beeinflusst und allein die Tatsache, dass er das Album „Migration" genannt hat, ist ein Statement—schließlich gibt es eine Debatte darüber, wie die Leute, die nach Europa kommen, bezeichnet werden sollen und ob „Flüchtlinge" gegenüber „Migranten" zu bevorzugen ist.

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Der Name Migration lädt die Platte aber auch deswegen sofort politisch auf, da das Wort nicht länger nur die Bewegung von Leuten von einem Gebiet in ein anderes bezeichnet, sondern mittlerweile auch das Gewicht jahrzehntelanger Vorurteile bezüglich der vermeintlichen Bedrohung durch Außenstehende mit sich trägt. „Mein Album ist nur ein kleiner Teil, ein kleiner Baustein im System, mit dem ich hoffe, ein besseres Wissen und ein besseres Verständnis über die Leute um uns herum, über unsere Nachbarn, zu erschaffen und Vorurteile abzubauen", so Poirier.

Beim ersten Hören wird nicht direkt deutlich, dass es auf Migration um die Flüchtlingskrise geht. Tatsächlich ist der offensichtlichste Einfluss jamaikanisch—harter Dancehall, fröhlicher Soca und angenehme Reggae-Obertöne.

Jamaika ist jedoch in vielerlei Hinsicht ein Beispielland für internationale Migration, weil sie ein zentraler Teil der Kultur und Identität des karibischen Landes ist. Und indem er jamaikanische Klänge auf einem Album über Migration verwendet, bringt Poirier erneut den Punkt an, dass Migration mehr ist als die Bewegung von Leuten, sondern der Aufbau neuer Kulturen. In einem früheren Interview zur Veröffentlichung des Albums sagte Poirier gegenüber THUMP, dass sein Interesse an Migration zum Teil auf den Auswirkungen basiert, die ihre neuen Heimaten auf die Migranten haben.

„Du kannst die Effekte von Leuten, die von einem Land in ein anderes ziehen, durch meine Musik hören", sagte er.

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Auf dem Album sind einige Gastproduzenten vertreten, wie der langjährige Kollaborateur Face-T, der Dancehall-Lieferant Red Rox und der amerikanische Produzent Machinedrum. Das weist darauf hin, dass der kreative Prozess eine kollaborative Angelegenheit ist, aber auch auf die Vorstellung, dass zu Fortschritt gehört, verschiedene Arten von Leuten mit demselben Ziel zusammenzubringen. „Musik bedeutet einen Dialog zwischen Menschen und Kulturen und nicht zu ignorieren, was um uns herum und auf der Welt passiert, ist bereits wichtig", so Poirier.

DJ Ipek Ipekçioglu: Tunes für die „Rojava Revolution"

Eine weitere Künstlerin, die durch ihre Musik ein soziales Bewusstsein erschaffen will, ist DJ Ipek (alias Ipek Ipekçioglu). Sie unterscheidet sich von Poirier und Hello Psychaleppo, da sie durch die Krise nicht nur inspiriert wurde, sondern ihre Musik auch mit einem wohltätigen Beiträg verknüpft.

Ipek wurde in Deutschland geboren, ihre Eltern sind türkischer Herkunft und sie wuchs zwischen den beiden Ländern auf. Ihre Musik ist stark von der traditionellen Musik des mittleren Ostens beeinflusst und gegenüber THUMP sagte sie, dass sie eine der ersten war, die orientalische, türkische und kurdische Dance-Musik in Deutschland gespielt hat.

Als langjährige musikalische Aktivistin sieht Ipek Musik als politisches Mittel mit dem Potential, Veränderungen voranzutreiben. „Wenn ich das System nicht mag", sagt sie, „dann sollte ich es ändern, anstatt mich immer zu beschweren". Zu diesem Zweck hat Ipek zusammen mit elf anderen Produzenten die Compilation „Rojava Revolution"über Krieg und Widerstand zusammengestellt, die am 8. März erschienen ist. Ihre Einnahmen gehen an die kurdischen Kämpferinnen und Aktivistinnen in der nordsyrisch-kurdischen Provinz Rojava.

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Ipek will besonders das Vorurteil in Frage stellen, dass Dance-Musik nichts mit Politik am Hut hat. „Wenn wir an die EDM-Szene denken, ist sie sehr konsumorientiert", sagte sie per Email und erklärte, dass die Electro-Community in Wahrheit sehr vielfältig ist. „Ich würde auf der einen Seite gerne zeigen, dass Electro-Musiker nicht nur hinter ihren Computern sitzen und sich für nichts interessieren, aber ich möchte unsere Vielfalt auch in kultureller Hinsicht zeigen."

Da die Flüchtlingskrise die Welt weiter im Griff hat, hinterlässt sie Wunden, deren Heilung Jahrzehnte benötigen wird.

Die genannten Musikerinnen und Musiker erschaffen ein Bild davon, wie diese Wunden aussehen, damit zukünftige Generationen sie untersuchen können. Die Tatsache, dass sie sich nicht mit Texten ausdrücken, sondern durch die synthetischen Klänge elektronischer Produktionen, nimmt ihnen nicht ihre Signifikanz. Stattdessen betonen sie dadurch, dass manchmal etwas benötigt wird, was über Worte hinausgeht, um einer Sache eine Stimme zu verleihen.

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