Die Kneipenkamera
Feral Günsav vor seiner Eckkneipe. Bild: VICE | Grey Hutton.

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Die Kneipenkamera

Vom Barbesitzer zum Helden einer Mordkommission: Feral Günsav steht zwar eine Beschwerde des Berliner Datenschutzbeauftragten ins Haus, doch die Aufnahmen seiner Kamera haben zur Überführung von Silvio S. geführt.

Manchmal öffnet Feral Günsav die weiße Lederumhüllung von seinem Handy und loggt sich über das WLAN in die Überwachungskameras seiner Eckkneipe „StromEck" ein. Dann schaut er, ob der Tresen noch steht, der Spielautomat in der Ecke noch blinkt und alle Stühle an den Tischen im Hauptraum der Bar, die er zusammen mit seiner Frau Viola betreibt, noch da sind.

Der Blick auf den Überwachungsstream ist ihm längst zur Gewohnheit geworden, seit seine Berlin-Moabiter Eckkneipe im vergangenen Jahr bereits einmal überfallen und nicht viel später zweimal in sie eingebrochen wurde. Vier Kameras hat der hauptberufliche Metallveredler mittlerweile installiert, eine draußen, drei drinnen. Am 01. Oktober jedoch sticht ihm keine nennenswerte Aufnahme ins Auge.

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„Die Kamera wird wahrscheinlich sowieso bald abgeschlagen, jetzt, wo jeder weiß, wo sie hängt."

Und doch filmte die Außenkamera seiner Kneipe an jenem sonnigen Herbsttag die vielleicht wichtigsten fünf Sekunden seit ihrer Anbringung. Es sind fünf Sekunden, ohne die die Entführung des vierjährigen Jungen Mohamed wohl bis heute nicht geklärt worden wäre: Am Donnerstag, den 01. Oktober um 14:30:31 Uhr schlenderte ein Mann mit Supermarkttüte auf dem Gehweg an der Moabiter Eckkneipe vorbei. Kurz schaute der 32-Jährige von draußen in das Lokal und wendete dabei der hochauflösenden Kamera sein Gesicht zu. Etwa 15 Minuten später und 700 Meter weiter tauchte der Mann im Aufnahmefeld einer weiteren Überwachungskamera auf. Am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) zeichnete diese auf, wie er mit einem kleinen Jungen an der Hand das Gelände verließ. Es ist der Täter Silvio S., der inzwischen gestanden hat, Mohamed entführt, vergewaltigt und getötet zu haben.

Es dauert fast drei Wochen, bis Feral und Viola Günsav die schockierende Tat in ihrer Nachbarschaft mit ihrer Kamera in Verbindung bringen. Doch die Geschichte der Kneipenkamera ist nicht nur eine Geschichte glücklicher Zufälle, sie wirft auch ein Schlaglicht auf das komplexe Verhältnis von Datenschutz, Überwachung und polizeilicher Ermittlungsarbeit. Wann ist ein Fall schwer genug, dass Polizisten auf nicht registrierte, private Überwachungskameras zugreifen dürfen? Was dient der Verbrechensaufklärung, wann greifen die Ermittlungen mit illegal erstellten Aufnahmen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein? Und warum konnte eines der meist diskutierten Verbrechen des Jahres, das mitten am Tag in einem belebten Berliner Stadtteil geschah, trotz allgegenwärtiger Kameraaufzeichnungen so lange nicht aufgeklärt werden? Warum hat die Polizei den Receiver der Kneipenkamera erst nach knapp drei Wochen gesichert?

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„Die Kollegen mussten über 500 mehrstöckige Häuser überprüfen", erklärt der Pressesprecher der Berliner Polizei, Stefan Redlich, gegenüber Motherboard. „Bei schweren Fällen wie diesem befragen die Kollegen die Zeugen in der nahen Umgebung und suchen auch nach privat angebrachten Kameras, wenn es erfolgversprechend ist."

Doch diese privaten Kameras operieren allzu oft in einer rechtlichen Grauzone—auch die Kamera des StromEcks filmte wohl weiter als die erlaubten 20 Meter in die Länge und 1 Meter in die Breite in den öffentlichen Raum. Tatsächlich liegt bereits eine private Beschwerde gegen Günsav beim Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationssicherheit vor.

Die Eckkneipe wird ihre Außenkamera deshalb wohl bald neu ausrichten und besser kennzeichnen müssen. Die Kamera, die Feral Günsav noch vom Vorbesitzer, einem Spielhallenbetreiber, übernahm, filmt im Moment fast die ganze Straße. „Bei den Aufnahmen sieht man auf den ersten Blick, dass die datenschutzrechtlich festgelegte maximale Aufnahmebreite von einem Meter nicht eingehalten wurde", bestätigt der Pressesprecher des Datenschutzbeauftragten gegenüber Motherboard. Eine Liste von privaten Überwachungskameras liegt dem Beauftragten nicht vor. Zwar überprüfen die Mitarbeiter die Kameras in Kaufhäusern, aber auf Datenschutzverstöße bei privaten Kameras stoßen sie meist erst durch einen Hinweis oder eine Beschwerde von Privatpersonen.

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Bild: VICE | Grey Hutton.

Bild: VICE | Grey Hutton.

Feral und Viola Günsav prahlen nicht. Sie sitzen mit Kaffee in ihrer Kneipe am Fenster und rauchen. Die 39-jährige Viola Günsav hat ihre Beine überschlagen und ist ihrem Mann zugewandt. Five Seconds of Fame: Der Ruhm, der dem Ehepaar für die Aufnahme von Freunden, auf Facebook und durch die Medienaufmerksamkeit entgegenschlägt, wirkt wie etwas, das ihnen plötzlich in ihre Schöße gefallen ist und bei dem sie nicht so genau wissen, wie sie es denn am besten anfassen sollen.

Nicht auf alle Fragen haben die beiden deshalb gleich eine Antwort. Wozu sie klare Worte finden, ist die Tat, die der mutmaßliche Kindesentführer begangen haben soll. „Wenn man selbst Kinder hat", sagt Viola Günsav, „sieht man das alles mit anderen Augen." Der Fall geht ihnen nahe: „Hätt ich vorher gewusst, dass er hier langläuft und ihn in die Hände bekommen, hätet ich für nichts garantieren können", so Feral. Dass er stolz ist, dass seine Aufnahmen dazu beitragen konnten, den Tatverdächtigen zu fassen, sagt Feral Günsav auch.

Die Kneipe der Günsavs ist etwa 700 Meter vom Lageso entfernt. So wanderte das StromEck erst in den Radar der Ermittler, als der erste Suchradius von 500 Metern auf 700 Meter erweitert wurde. Zudem hatten die Ermittler neben der Lageso-Aufnahmen die privaten Aufnahmen von insgesamt fünf Personen sichergestellt. Die Fachleute für die Sicherung von Videomaterial mussten also „mehrere tausend Stunden Aufnahmen" durchsuchen, sagt der Polizeisprecher. Das ist auch für eine speziell eingerichtete Soko mit 50 Mitarbeitern eine Mammutaufgabe. So zeigt der Fall auch, dass es mit der reinen Installation von Kameras selten getan ist. Weder zeigten die Kameras hier die von Überwachungsbefürwortern häufig angeführte Abschreckungswirkung und hielten Silvio S. davon ab, Mohamed zu entführen, noch hatten die Kameras mit ihren Massen an Daten für die Ermittler ohne ausführliche menschliche Arbeit einen Wert, der schnell zur Erfassung des Täters geführt hätte.

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Zwar können die Technik-Experten der Polizei auch bereits überschriebenes Material wiederherstellen. Das jedoch war bei der Überwachungskamera „Goliath HDCVI" der Eckkneipe gar nicht notwendig. Ihr Receiver speichert Aufnahmen bis zu drei Wochen—die Aufnahme von Silvio S. muss also gerade noch sichtbar gewesen sein, als die Polizei den Receiver am 21. Oktober in der Eckkneipe abholte. Wenige Tage später, und die Forensiker der Polizei hätten versuchen müssen, die entscheidenden Bilder in mühevoller Kleinarbeit zu rekonstruieren.

Der Vorwurf der Datenschützer empört Feral Günsav. Seine Kamera, die etwas gefilmt hat, dass zur Ergreifung eines mutmaßlichen Mörders geführt hat, soll illegal sein? „Wenn mir jetzt eine Strafe droht, helfe ich das nächste Mal nicht mehr", sagt er. Auf der Facebookseite des StromEcks solidarisieren sich einige mit der Bar. „Völliger Blödsinn, bekommt man noch Probleme, wenn man hilft", schreibt eine Nutzerin. „Alle haben heutzutage ein Smartphone", sagt Feral Günsav. „Was soll dann der Aufwand um meine Kamera?"

Bild: VICE | Grey Hutton.

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„Jeder Mensch hat das Recht, öffentliche Straßen und Plätze unbeobachtet zu nutzen", sagt der Berliner Datenschutzbeauftragte Dr. Alexander Dix gegenüber Motherboard. „Sein Aufenthalt und Verhalten darf nicht registriert und suchfähig gespeichert werden". Seine Mitarbeiter gehen allen Beschwerden nach, die ihnen zugetragen werden und werden auch die Außenkameras des StromEcks prüfen. Dazu schauen sie sich meist unangekündigt an, ob es Hinweiszettel gibt, die auf die Überwachung aufmerksam machen. Dann lassen sie sich Aufnahmen der Kamera zuschicken. Und veranlassen gegebenenfalls eine Änderung der Kameraausrichtung oder der Speicherfrist. Die liege bei privaten Kameras bei 24 Stunden. „Schließlich geht es hier nur darum, Privaträume zu überwachen, da reicht diese Frist aus", so Dix. Und fügt hinzu: „Bußgelder vergeben wir aber in der Regel nicht."

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Bild: VICE | Grey Hutton.

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Auf der Facebook-Seite des StromEcks verspricht manch ein User dennoch, demnächst extra viel Trinkgeld zur Verfügung zu stellen, um die Kosten einer Anzeige zu verringern. Alexander Dix allerdings argumentiert, dass der Datenschutzverstoß vermutlich gar nicht nötig gewesen wäre, um den Täter zu filmen: „Es ist nicht auszuschließen, dass die Kamera auch dann relevante Aufnahmen gemacht hätte, wäre sie rechtlich korrekt angebracht worden."

Dass Kameraüberwachung überhaupt zu einer erhöhten Aufklärungsrate von Verbrechen führt, ist im übrigen noch lange nicht bewiesen, wie auch Studien bestätigen—weder in Berliner U-Bahnen und –Bahnhöfen noch in der mit CCTV-Systemen gepflasterten Londoner City.

„Die Kamera wird wahrscheinlich sowieso bald abgeschlagen, jetzt, wo jeder weiß, wo sie hängt", sagt Feral Günsav resigniert. Dann lacht er aber doch, klappt die weiße Lederhülle seines Smartphones auf, öffnet Facebook und liest die neueste Nachricht auf der Seite seiner Bar. Zusammen mit seiner Frau schlägt er den Berliner Kurier auf, der über seine Kamera berichtet hat und lacht über die Überschrift. „Die haben doch gar nicht mit mir geredet", sagt er. Das macht ihm aber nichts. Fünf Sekunden für einen gefassten Kindesentführer: Am Ende hat sich eben doch alles gelohnt.