"Die Aufklärung in Österreich liegt im Argen"

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Sex

"Die Aufklärung in Österreich liegt im Argen"

Mit Lehrern und Eltern sprechen Jugendliche nur ungern über Sex. So wird die eigene Aufklärung oft den Jugendlichen selbst überlassen.

Foto via Shutterstock

Wahrscheinlich erinnert sich jeder noch an diese eine Biologiestunde, in der die Lehrerin über Fortpflanzung gesprochen hat und spätestens beim Wort "Samenerguss" alle zu lachen begonnen haben. Sich von Lehrenden – also von Autoritätspersonen, die einen später auch noch benoten sollen und sowohl einen selbst, als auch die eigenen Eltern meist über Jahre hinweg kennen – Sex erklären zu lassen, ist fast er Definition zum Scheitern verurteilt.

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Laut Grundsatzerlass zur Sexualerziehung aus dem Jahr 2015 ist es Aufgabe der Schule, im Zusammenwirken von Lehrkräften, Schülerinnen und Eltern, Schüler in ihrer gesamten Persönlichkeit zu fördern. "Sexuelle Entwicklung ist Teil der gesamten Persönlichkeitsentwicklung des Menschen und verläuft auf kognitiver, emotionaler, sensorischer und körperlicher Ebene", heißt es weiter.

Durch zeitgemäße Sexualpädagogik sollen Kindern und Jugendlichen also Informationen und Kompetenzen vermittelt werden, "um verantwortungsvoll mit sich und anderen umgehen zu können." Wie der an sich ja löbliche Inhalt dieses Erlasses in der Praxis umgesetzt wird, ist aber dem Anschein nach – vorsichtig ausgedrückt – nicht immer optimal.

Wie eine Mittelschullehrerin, die anonym bleiben möchte, gegenüber VICE erzählt, bleibt der Sexualkundeunterricht in der Praxis oft gleich ganz auf der Strecke. Manche Lehrer würden diesen Teil des Stoffs immer weiter vor sich her schieben, bis das Schuljahr schließlich vorbei ist – weil es ihnen unangenehm sei, vor ihren Schülern über dieses Thema zu sprechen. Streng religiöse Lehrer würden sich in einzelnen Fällen bewusst dagegen wehren und hätten Probleme mit Kampagnen zur Aids-Aufklärung, im Rahmen derer oft Plakate mit Kondom-Motiven in Klassen aufgehängt werden.

Auch laut dem Durex Global Sex Survey aus dem Jahr 2012 lässt die Aufklärung der Österreicher zu wünschen übrig. So gaben 43 Prozent der Befragten an, keine Kondome zu verwenden, weil sie davon ausgehen, dass ihr Partner ohnehin gesund sei. Außerdem haben laut der Studie 9 von 10 Österreichern immer wieder ungeschützten Sex und nur 11 Prozent gaben an, regelmäßig an Kondome zu denken.

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Generell würde die Aufklärung in Österreich eher informell stattfinden: Die wichtigsten Quellen sind Freunde und Zeitschriften – erst an dritter Stelle mit 35 Prozent Schulen. Das Elternhaus liegt mit 28 Prozent auf Platz 5. Das ist vor allem dann bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass der Erlass zur Sexualkunde festhält, dass die Sexualerziehung primäre Aufgabe der Eltern sei und der Unterricht nur als Ergänzung dazu funktionieren soll.

Diese Aufgabe der Eltern scheinen viele junge Menschen nicht gerne in Anspruch zu nehmen: Laut einer Studie der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung aus dem Jahr 2012 ist es für 40 Prozent der Jugendlichen nicht möglich, intime Themen innerhalb der Familie zu sprechen. 32 Prozent geben an, dass sexuelle Themen zu Hause gänzlich vermieden werden.

Im Jahr 2009 ergab die Durex-Studie, dass 59 Prozent der Österreicher ihr Informationsdefizit bewusst ist. Das Problem sei, dass vor allem emotionale Aspekte in der Aufklärung oft ausgelassen würden, der Schwerpunkt liege auf abstrakten, biologischen Informationen. Dabei war der Wunsch nach mehr emotionalen, lebensnahen Themen bei den Befragten besonders hoch. Das führt dazu, dass viele Österreicher zwar genau wissen, wie der weibliche Zyklus funktioniert, aber beispielsweise bei Verhütungsfragen, die sie selbst betreffen, heillos überfordert waren, wie damals eine Expertin gegenüber dem Standard sagte.

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Wer aber klärt die Österreicher auf, wenn Elternhaus und Schule versagen?

Geht es um den Aufklärungsunterricht in Österreich, gibt es dazu mindestens so viele Positionen wie Stellungen beim Sex. Die einen finden, dass sich Kinder bereits im Kindesalter spielerisch an solche Themen annähern können sollten. Andere sprechen von einer Übersexualisierung – wie zum Beispiel die Webseite www.sexualerziehung.at, die auf den ersten Blick aussieht wie eine seriöse Informationsquelle für Eltern und Schüler. Sieht man sich die Seite jedoch genauer an, wird schnell klar, dass es hier hauptsächlich um die "Erhaltung der Kernfamilie" geht. Auf der Seite finden sich Tipps für Eltern, um ihr Kind zu "schützen" – nämlich vor zu viel Aufklärung. So heißt es hier beispielsweise:

"Besondere Vorsicht ist geboten, wenn Experten von außen an die Schule kommen, bitte lassen Sie sich dann ganz genau zeigen, was vorgetragen wird, vor allem mit welchen Methoden und Materialien (es gibt natürlich auch gute Experten). Aus gegebenen Anlass (wir haben Rückmeldungen von Eltern) fragen Sie bitte nach: Müssen unsere Kinder üben wie man ein Kondom über einen Holzpenis zieht? Oder: Sprechen Sie über Praktiken wie Oralverkehr?"

Außerdem sollen die Eltern "Wächter" an der Schule des eigenen Kinder werden, um die schleichende Beeinflussung des Gender-Mainstreaming zu beobachten. Die Seite wird von der "Initiative wertvolle Sexualerziehung" und besorgten Eltern betrieben.

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Als im Jahr 2012 eine neue Aufklärungsbroschüre namens "Ganz schön intim" mit Spielen und Aufgaben zur einfachen Wissensvermittlung erschien, in der auch Homosexualität und Selbstbefriedigung thematisiert wurden, schmeckte das vielen gar nicht. Besorgte Eltern und Politiker, sowohl von der ÖVP als auch FPÖ, kritisierten das Heft des Unterrichtsministeriums uns sahen es als Gefährdung für die gern zitierte Kernfamilie. Außerdem sei das Heft verstörend gewesen, fanden ÖVP und FPÖ.

Wer die Aufklärung in Schulen im Idealfall übernehmen soll, steht nicht endgültig fest. Nahe liegt jedoch, dass das nahe, autoritätsgeprägte Schüler-Lehrer-Verhältnis einen offenen Umgang mit dem Thema erschwert.

Bereits seit Jahren wird deshalb gefordert, dass externe Personen die Aufklärung von Schülern übernehmen. Auch der Wiener Gynäkologe Friedrich Gill sieht das ähnlich. Er selbst hat sich genau hierfür schon angeboten, wie er im Gespräch mit VICE erzählt: "Ich habe mich vor Jahren beim bfi angeboten, weil ich einige Patientinnen von dort bei mir hatte und gesehen habe, was bei denen für ein Unwissen über Sexualität und den Körper herrscht. Der Direktor war begeistert, aber die Schulärztin meinte, das würden sie nicht brauchen."

Dabei sei der Bedarf groß und "die Aufklärung in Österreich [liege] im Argen", so Gill weiter. In den letzten Jahrzehnten habe sich nur wenig getan. In seiner Generation, der Flower-Power-Generation, wäre mehr über Aufklärung gesprochen worden als jetzt, meint der Arzt. In seiner Praxis ist er täglich mit Unwissenheit konfrontiert.

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"Den Jungen kann man dafür nicht die Schuld geben", sagt Gill weiter. Schuld seien die Eltern, die Gesellschaft und die Politik: "Die Jugendlichen – und das betrifft beide Geschlechter gleichermaßen – holen sich ihr Wissen immer noch über die Bravo, fragwürdige Seiten im Internet und von der Freundin, die selber nichts weiß. Den Eltern ist es auch unangenehm, solche Themen mit Kindern zu besprechen. Es scheitert auch bei der Politik, weil nichts in die Richtung getan wird. Außer kurz vor dem Life Ball hört man nichts zu solchen Themen." Was es braucht, sei eine groß angelegte Kampagne: "Man soll den Kindern ja nicht sprichwörtlich mit dem Hintern ins Gesicht fahren. Aber es gehört ein Programm auf die Beine gestellt, auch mit Psychologen, das verständlich, vernünftig und auch emotional Infos vermittelt."

Die Schule überlässt die Aufklärung den Eltern, die Eltern überlassen sie der Schule. Und so überlassen es alle den Jugendlichen selbst. Feststeht: Informieren werden sich die Jugendlichen so oder so. Und mit ein wenig Pech tun sie das so schlecht oder falsch, dass sie am Ende nicht wissen, wie man richtig verhütet und schließlich denken, eine Vaginalspülung mit Cola schütze vor Schwangerschaft.

Immer mehr Frauen verhüten unzureichend, haben Angst vor Hormonen, sehen aber gleichzeitig keinen Bedarf, sich über wirkungsvolle Alternativen zu informieren. So kann es laut Dr. Gill langfristig zu mehr Krankheiten, ungewollten Schwangerschaften und auch Abbrüchen kommen. Das alles sollte Grund genug sein, um die eigene Aufklärung nicht den Jugendlichen selbst zu überlassen. So angenehm es auch ist, sich manchmal mit sich selbst zu beschäftigen, so schwierig kann es auch sein, wenn man es muss.

Verena auf Twitter: @verenabgnr

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