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Popkultur

Ehemalige Geistliche beichten, warum sie vom Glauben abgefallen sind

"Wir blicken hinter den Vorhang und sehen, dass alles nur Illusion ist."
Ecce Homo von Antonello da Messina | Wikipedia | gemeinfrei

Es ist nichts Neues, dass der Kirche die Mitglieder weglaufen. Auch wenn der Trend in den letzten Jahren etwas abgeflacht ist, ist die Zahl der Taufen und Trauungen weiterhin niedriger als die der Austritte. Was ist aber, wenn nicht die Schäfchen abhauen, sondern die Hirten?

Wie ist ein Austritt, wenn der Glauben dein ganzes Dasein bestimmt hat? Wenn du Jahre dafür studierst und in Seminaren verbracht hast, dein ganzes Leben um den Glauben herum aufgebaut hast? Was machst du, wenn dir dämmert, dass die Verbindung zwischen dir und deiner höhere Macht verschwunden ist?

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Für solche Fälle ist das Clergy Project da, eine Online-Plattform für ehemalige Geistliche, die an irgendeinem Punkt in ihrem Leben den Atheismus für sich entdeckt haben. Die 2011 in den USA gegründete Gruppierung möchte den verlorenen Hirten dabei helfen, die ethischen und philosophischen Problemr zu bewältigen, die mit einem Abfall vom Glauben einhergehen, und sie dabei unterstützen, ins weltliche Leben einzutauchen.

Wir haben mit einigen ehemaligen Geistlichen des Clergy Projects darüber gesprochen, wie und warum sie sich von ihrem jeweiligen Glauben losgesagt haben.

Shlomo Levin, ehemaliger Rabbi

"Als Rabbi ist es deine Verantwortung, Fragen zu beantworten. Diese reichen von ziemlich tiefgründig – 'Rabbi, was geschieht mit uns nach dem Tod?' – bis hin zu ziemlich banal – 'Rabbi, ist dieser Joghurt koscher?'. Je älter ich wurde, desto weniger selbstsicher fühlte ich mich dabei, die richtigen Antworten auf all diese Fragen zu haben. Es war sogar sehr belastend, auf alles eine Antwort haben zu müssen. Menschen fragten mich zum Beispiel nach einer Beerdigung: 'Kann diese Person mich noch hören?', und ich hatte keine Antwort parat. Ich konnte aber nicht einfach sagen, dass ich es nicht weiß. Ich konnte es auch kaum mit meinem Gewissen vereinbaren, Antworten zu geben, die den Menschen schaden konnten. Für viele Menschen ist das orthodoxe Judentum ein Quell der Freude und ich habe auch gar nichts dagegen einzuwenden, wenn es das ist, was sie wollen. In manchen Fällen ist es das allerdings eindeutig nicht. Manche Menschen waren prädestiniert zu leiden.

Es war unglaublich befreiend, keinen Glauben mehr zu haben. Es macht dir das Leben schwer, wenn du weißt, dass ein Gott im Himmel ist, der dich bestraft, wenn du nicht ein bestimmtes Ritual zu einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Art durchführst. Jetzt lebt es sich viel leichter. Ich vermisse es kein Stück."

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John Gibbs, ehemaliger Methodisten-Pfarrer

"In meinen 20ern ging ich nach einer Trennung durch eine Lebenskrise. Ich hatte gerade das College abgeschlossen und wusste nicht wohin mit mir. Ich fühlte mich ziellos und das gefiel mir gar nicht. Also ging ich wieder in die Kirche. Es dauerte nicht lange und ich fasste den Entschluss, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Darum hatten mich meine Mitmenschen mein ganzes Leben lang gebeten. Ich besuchte das Priesterseminar. Dann fiel ich in eine Glaubenskrise. Ich war allerdings noch lange kein Atheist. Viel mehr hinterfragte ich gewisse Spezifika des Christentums wie die Göttlichkeit von Jesus und die Auferstehung. Das waren Dinge, an die ich noch nie stark geglaubt habe. Ich verstand das Christentum langsam als Mythos – und das nicht auf eine positive Art. Von da an hatte ich große Probleme, eine Antwort auf die Frage zu finde, was ich hier mache. Immer regelmäßiger dachte ich darüber nach, wie ich aus der ganzen Sache wieder rauskommen konnte.

Und so predigte ich etwa ein Jahr lang aus dem Alten Testament und versuchte gleichzeitig, das alles mit meiner mythologischen Sicht auf das Christentum in Einklang zu bringen. Als ich mich schließlich zum Austritt entschloss, war meine Gemeinde erleichtert. Sie hatte mitbekommen, was ich durchmachte, und es war kein schöner Anblick gewesen. Einige waren einfach nur froh, dass ich weg war, andere sorgten sich um mich. Es waren sich allerdings alle einig darin, dass mein Fortgang für alle Beteiligten das Beste war.

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Danach wusste ich erstmal an Sonntagen nichts anderes mit mir anzufangen, als weiter die Kirche zu besuchen. Mit der Zeit erkannte ich, dass ich nach etwas suchte, das ich wiederholt nicht gefunden hatte. Ich weiß, dass viele Menschen einen Mangel an Gemeinschaft beklagen. Bei Religion geht es um Gemeinschaft, um Anerkennung und Wertschätzung. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie sich vielleicht einige Aspekte, die ich für wertvoll halte, in die säkulare Kultur übertragen lassen. Etwas Wärme und Zusammenhalt tut uns allen gut."

Scott, ehemaliger Mönch bei der Self-Realization Fellowship

"Ich dachte immer, dass es im Leben eine tieferen Sinn geben muss. Etwas, das darüber hinausgeht, was wir mit unseren Augen sehen können. Während meiner Unizeit fing ich an, mich stark für fernöstliche Religionspraktiken zu interessieren. Auf einer Party empfahl ein Freund mir Die Autobiographie eines Yogi – über den Self-Realization-Fellowship-Gründer Paramahansa Yogananda. Das Buch gab mir Hoffnung, wobei sich rückblickend ein Großteil davon als Wunschdenken herausstellte. Ich wollte einfach unbedingt, dass es auf dieser Welt mehr gibt, als wir mit unseren Augen sehen können. Sobald ich ihnen beigetreten war, empfand ich das Leben dort erdrückend. Dir war es offiziell verboten, beliebige Bücher zu lesen oder beliebige Filme zu sehen. Einmal im Monat zeigten sie uns zensierte Filme – ähnlich war es mit den Büchern. Self-Realization, also Selbstverwirklichung, sollte doch eigentlich genau das sein: dich selbst zu verwirklichen. Es war unfassbar frustrierend und hat mich letztendlich zum Austritt bewegt. Es war nicht wirklich die "Gott"-Frage, es war mehr: "Warum funktioniert dieses System nicht?" Ich fühlte nicht, was ich dachte, was ich fühlen sollte. Und ich gab mir selbst die Schuld dafür. Ich dachte, ich mache es falsch. Schließlich habe ich aber erkannt: 'Nein, ich gebe mir nur unnötig selbst die Schuld. Es liegt nicht an mir, es liegt am System.'"

EJ Hill, Gründer einer niederländisch-reformierten Kirche in Südafrika

"Ich wurde in die niederländisch-reformierte Kirche von Südafrika hineingeboren und mit 16 machte ich eine 'übernatürliche Erfahrung'. Zumindest interpretierte ich das damals so. Ich war überzeugt davon, dass sich Gott mir offenbart hatte, weil ich hier auf der Erde einen bestimmten Zweck erfüllen musste. Fast 21 Jahre lang verbrachte ich den Großteil meiner Freizeit dann mit der Bibel und Apologetik. Mit der Zeit sah ich die Bibel jedoch immer kritischer. Mir fiel schnell auf, dass Gott in der heiligen Schrift viele Dinge gutheißt, die ich einfach nicht gutheißen konnte. Zum Beispiel erzwungene Abtreibungen, Sklaverei, Frauenfeindlichkeit und Betrug. Mir wurde klar, dass wir uns selbst einreden, dass Gott alles gutheißt, was wir glauben. Die leise Stimme des Gewissens ist jedoch meine eigene und nicht die von Gott. Mich vom Glauben loszusagen, hatte richtig schlimme Folgen für mich. Meine Welt ging in die Brüche. Ich verlor viele Freunde, meine Frau und meine Glaubwürdigkeit. Ich hatte schon ein paar Jahr zuvor ein geistliches Amt niedergelegt, um einen unabhängigen christlichen Posten zu übernehmen. Meine Online- und Offline-Gemeinde war am Boden zerstört. Man verlangte von mir, mich zu erklären. Und ich musste viel Kritik und Hass über mich ergehen lassen.

Ich hasse die Kirche nicht. Ich liebe Menschen. Selbst die, die einer anderer Meinung sind und die mich nicht mögen. Die Kirche versorgt viele Menschen mit Essen, Kleidung, Trost und Bildung. Das zu ignorieren, wäre unehrlich und kurzsichtig.

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Ich bin aber auch der Meinung, dass sie viel Zeit, Mühen und Geld für Nonsens verschwendet."

Drew Bekius, ehemaliger Baptistenpastor

"Ich habe ununterbrochen gebetet. Es ging darum, im Hinterkopf ständig im Gespräch mit Gott zu stehen. Ich flehte Gott an, meine Zweifel auszuwischen und meinen Glauben wiederherzustellen. In der Bibel wird versprochen, dass man sich einfach nur demütig an Gott wenden muss und er dann den Glauben zurückbringt. Also sagte ich: 'OK, ich wende mich an dich. Bring meinen Glauben zurück. Das ist mein Wunsch. Bitte hilf mir. Du hast versprochen, meinen Glauben wiederherzustellen. Also mach das auch.' Ich flehte und beichtete die ganze Zeit.

Wenn man als normaler Mensch in die Kirche geht, dann hat man vielleicht einige Fragen. Aber dann sagt man: 'Ich bin natürlich nur ein Laie. Das ist weder mein Beruf noch habe ich das studiert. Natürlich ergibt da vieles für mich keinen Sinn.' Vielleicht denkt man sich aber auch: 'Für den Typen da oben auf der Kanzel ergibt es jedoch Sinn.' Dem ist aber nicht so. Das Ganze ist vergleichbar mit Dorothy aus Der Zauberer von Oz, wenn ihr klar wird, dass der Zauberer nur mit Effekten arbeitet. So ergeht es auch uns Geistlichen: Wir blicken hinter den Vorhang und sehen, dass alles nur Illusion ist."

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