Wie die Überlebenden und Hinterbliebenen über die Wiederaufnahme des Love-Parade-Verfahrens denken

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Wie die Überlebenden und Hinterbliebenen über die Wiederaufnahme des Love-Parade-Verfahrens denken

Sieben Jahre nach der Katastrophe mit 21 Toten kommt es nun doch noch zum Prozess. Warum die Hauptverantwortlichen aber bereits "raus" sind – und was jetzt noch geschehen muss, haben uns die Mutter eines Verstorbenen und ein Anwalt der Opfer erklärt.

21 Tote und mehr als 600 Verletzte. Das war die traurige Bilanz der Love-Parade 2010 in Duisburg. Doch dabei blieb es nicht. Vor fast genau einem Jahr entschied das Düsseldorfer Landgericht, dass das Unglück vorerst nicht vor Gericht verhandelt werden würde: Es könne kein hinreichender Tatverdacht festgestellt werden, der eine Hauptverhandlung rechtfertige. Dass niemand für das Desaster die Verantwortung tragen sollte, war vor allem für die Angehörigen der Opfer schwer nachzuvollziehen.

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Gestern nun hob das Oberlandesgericht Düsseldorf die Entscheidung des Landgerichtes jedoch wieder auf: Das Strafverfahren muss doch eröffnet werden.

Wie haben die Betroffenen der Katastrophe diese Nachricht aufgenommen?

Rechtsanwalt Prof. Dr. Julius Reiter vertritt über einhundert Opfer der Katastrophe – darunter auch vier Angehörige von Besuchern, die bei der Love-Parade ums Leben kamen: "Die Reaktionen waren sehr positiv, es gab große Erleichterung. Manche waren sogar überschwänglich", so Reiter im Gespräch mit Noisey. Viele seien allerdings auch "überrascht, weil sie die Einstellung des Strafverfahrens [bereits] als Justizskandal bewertet und die Hoffnung aufgegeben hatten, dass die Verantwortlichen überhaupt noch zur Rechenschaft gezogen werden."

Eine der Angehörigen, die Rechtsanwalt Reiter vertritt, ist Gabriele Müller. Die 59-Jährige verlor bei der Love Parade 2010 ihren damals 25-jährigen Sohn Christian. Noisey erzählt sie, wie sie sich fühlte, als sie von der Entscheidung des Oberlandesgerichtes Düsseldorf erfuhr:

"Das war total überraschend, damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Ich habe es gestern Morgen in den 11-Uhr-Nachrichten gehört und gedacht, dass ich mich verhört habe. Ich konnte es nicht fassen, sogar heute Morgen nicht. Als ich aufgewacht bin, dachte ich, das wäre nur ein Traum gewesen. Dann habe ich aber erst mal im Internet nachgeguckt und gesehen, dass ich nicht geträumt habe. Wir haben ja fast sieben Jahre gewartet." – Gabriele Müller, Hinterbliebene

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Von dem anstehenden Prozess erhofft sich Müller vor allem Aufklärung über die Ereignisse vom 24. Juli 2010. "Wer ist dafür verantwortlich? Wo sind die Fehler gemacht worden? Da ist ja alles offen. Ich hoffe, endlich Antworten zu bekommen", sagt sie.

Ihre Freude darüber, dass es nun doch zu einer juristischen Aufarbeitung kommt, ist allerdings auch etwas getrübt: "Der bittere Beigeschmack bei der Sache ist aber, dass die Hauptverantwortlichen raus sind. Die können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden."

Christian Müller starb auf der Love-Parade 2010 (Foto: privat)

Als Hauptverantwortlichen sieht Müller zum Beispiel Rainer Schaller, dem neben der Fitnesskette McFit auch die Firma Lopavent gehört, die 2010 die Love-Parade veranstaltete. Er wird im kommenden Prozess nicht auf der Anklagebank sitzen – genau so wenig wie die leitenden Polizeibeamten, die während des Unglücks im Einsatz waren. Denn die Anklage auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung richtet sich lediglich gegen sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier Lopavent-Mitarbeiter.

Viele Angehörige und Opfer empfinden – laut Rechtsanwalt Reiter – in diesem Punkt wie Gabriele Müller: "Trotz allem sind die Leute auch enttäuscht, dass 'die Großen' schon laufen gelassen wurden, also die Verwaltungsspitze der Stadt und Herr Schaller als Chef der Lopavent."

Schaller selbst sagte gestern gegenüber der dpa, dass er "froh" sei über den anstehenden Prozess und die Angehörigen ein Recht auf Aufklärung hätten. "In Duisburg fand keine Naturkatastrophe statt, sondern Menschen haben Fehler gemacht", heißt es von ihm.

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Dennoch überwiegt bei den Geschädigten ganz klar die Erleichterung, dass es nun zum Strafprozess kommt.

Vor einem Jahr war das anders. Die damalige Entscheidung des Landgerichtes Düsseldorf war für Gabriele Müller der größte Rückschlag der letzten sieben Jahren. "Die Nachricht vor einem Jahr war für mich so, als wäre Christian ein zweites Mal gestorben."

Aber bereits wenige Tage später startete sie eine Petition, die die Aufklärung der Geschehnisse verlangte. Natürlich hat diese nicht dazu geführt, dass das Oberlandesgericht nun doch den Prozess eröffnen lässt, aber: "Die Petition sollte ein öffentliches Zeichen setzen, dass das so nicht hinzunehmen ist. Die Öffentlichkeit und die Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, was da passiert ist."

Bei der Aufklärung vertraut Gabriele Müller ganz ihrem Anwalt. "Das, was ich fühle, ist ja etwas Anderes, als es dann schlussendlich juristisch ist." Für Julius Reiter war die Love-Parade 2010 "organisierte Verantwortungslosigkeit." Zur Illustration zieht er das bekannte Bild der drei Affen heran, die nicht sehen, hören und sprechen wollen:

"Die Stadt hat die Augen verschlossen und eine nicht genehmigungsfähige Veranstaltung ermöglicht. Der Veranstalter hat sich die Ohren zugehalten, um Sicherheitsauflagen nicht zu erfüllen. Und die Polizei hat den Mund nicht aufgemacht, um die Veranstaltung im letzten Moment abzublasen oder zumindest auf der Veranstaltung entschlossen durchzugreifen. Es gab keine Handlungsstrategie. Stattdessen stand man rum und hat nicht die Zivilcourage gehabt, etwas zu sagen und sich den Mund zugehalten." – Julius Reiter, Anwalt einiger Opfer

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Fernab der juristischen Aufarbeitung wünschen er und Gabriele Müller sich eine politische Aufarbeitung des Unglücks: "Es geht nicht nur um die Aufarbeitung der individuellen Schuld, sondern auch um das Versagen der Behörden." Und auch darum, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern, wie Gabriele Müller abschließend fordert. Die politische Aufarbeitung muss daher zeitnah erfolgen: "In zehn Jahren erinnert sich sonst niemand mehr daran. Wir als Angehörige werden das nie vergessen."

Bleibt zu hoffen, dass der Prozess vor dem Duisburger Landgericht Klarheit für alle Opfer bringt.

Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.

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