Das skrupellose Marketing der NFL an amerikanischen Schulen
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ohne skrupel

Das skrupellose Marketing der NFL an amerikanischen Schulen

Was passiert, wenn sich Amerikas gefährlichste Sportart einem zunehmend gleichgültigen jungen Publikum gegenübersieht? Sie wendet sich an gewiefte Marketingprofis, die sich auf die Vermarktung an Kinder spezialisieren.

Bevor er nach Washington kam, hat der heutige Lehrer Matt Ross in der Marketingindustrie gearbeitet. Er weiß also sehr gut, wie man Sachen zu verkaufen hat. Was uns zu NFL Rush Fantasy—Learn, Play, Score! führt, ein Baustein von einigen US-Lehrplänen, der vorgibt, Dritt- und Viertklässlern Mathe und andere wichtige Denkfähigkeiten näherzubringen, indem man sich mit … Tom Bradys Touchdown-Pässen und Rob Gronkowskis Fangqualitäten auseinandersetzt.

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Entwickelt von einer Edu-Marketingfirma in Zusammenarbeit mit der National Football League und gratis an Lehrer im ganzen Land verteilt, funktioniert NFL Rush Fantasy in etwa so: Schülern werden die Basics in Football—was sind Yards, wie werden sie gezählt etc.—beigebracht. Dann dürfen sie sich ihre eigenen Wunsch-Teams zusammenstellen, um dann während der ganzen Saison den Statistiken ihrer Spieler zu folgen. (Schüler werden zudem angehalten, Aufsätze über ihre Stars zu schreiben oder in simulierten Interviews zu begründen, warum ihre Wahl just auf Spieler X gefallen ist).

Im Zuge des Projekts sollen die Teilnehmer lernen, mit Statistiken umzugehen sowie einfache Graphen und Rechenaufgaben zu verstehen, damit sie am Ende das „ultimative" Team zusammenstellen. Und wenn die Kinder dabei—hoppala!—ein plötzliches Interesse für Football und die NFL entwickeln, das in ein lebenslanges Fan-Dasein mündet, dann war das natürlich so nicht beabsichtigt.

„Ein paar der Vorschläge klingen ganz vernünftig", sagt Ross, der sich für VICE Sports den Lehrplan hinter NFL Rush Fantasy angeschaut hat. „In Yards rechnen, multiplizieren und durch 100 teilen, addieren und subtrahieren, das fällt vielen Kindern schwer."

Aber?

„Es ist ganz offensichtlich, dass mit diesem Lehrplan auch nicht-pädagogische Ziele verfolgt werden", sagt er. „Es geht hier um sehr gezieltes Marketing. Die Schüler sind unglaublich vielen Markennamen und -sprüchen ausgesetzt. Kein Wunder: Kinder und Jugendliche zählen für die Werbeindustrie zu den begehrtesten Zielgruppen. Wenn es nur darum ginge, glaubhafte Informationen vermitteln zu wollen, würde man auf die ganzen Logos verzichten.

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„Es erinnert mich eins zu eins an das Zigarettenmodell", sagt er.

Da immer weniger Kinder und Jugendliche selbst zum Football greifen und der Altersdurchschnitt des TV-Zuschauers seit Jahren ansteigt, hat die Liga ihre Bemühungen verstärkt, den Sport für die Erwachsenen von morgen populärer zu machen. In diesem Rahmen wurden kinderfreundliche Websites und Apps sowie ein Football-Cartoon fürs Kabelfernsehen entwickelt. Zudem wurden NFL-Spielsachen in Happy Meals untergebracht und gleichzeitig Sport- und Ernährungsprogramme mit Football-Bezug in den Schulbetrieb integriert. Kurzum: Man hat so ziemlich jeden möglichen Hebel in Bewegung gesetzt. Es hat eigentlich nur noch gefehlt, dass Ligaboss Roger Goodell die Kinder auf Spielplätzen höchstpersönlich mit NFL-Artikeln abgefangen hätte.

Natürlich ist das alles kein Geheimnis: NFL-Verantwortliche haben sich mehrmals in der Presse gebrüstet, wie ernst sie es damit meinen würden, aus Schülern lebenslange Football-Fans zu machen. Und stehen damit nicht alleine da. Seine Werbung auf Kinder auszurichten, da sie die geldverdienenden Verbraucher von morgen sind, ist eine gängige Praxis von so ziemlich jeder profitorientierten Industrie.

Wohlgesonnene würden wohl sagen, die NFL mache auch nur das, was andere Industrien schon lange vor ihr gemacht haben. Kritiker hingegen würden ihr vorwerfen, dass sie ihre Ware einer leicht zu manipulierenden Bevölkerungsgruppe schmackhaft mache. Der Kinderschutzverband Campaign For a Commercial-Free Childhood (CCFC) aus Boston gehört zu Letzteren. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht bemängelt man, dass die jüngste Marketingoffensive der NFL aus pädagogischer Sicht nicht nur ohne Wert sei, sondern den Kindern sogar schaden könnte. Schließlich fördere diese den Konsum von Junk Food, könnte Kinder computerspielsüchtig machen und verstärke kontrovers diskutierte Begriffe wie z.B. „redskins".

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„Wenn man Unternehmenspropaganda als Bildung verpackt, lernen die Schüler nicht, was eine gesunde Skepsis ist", so Josh Golin von CCFC. „Außerdem gibt es ein paar beachtliche Studien zum Thema Kinder und Werbung. Vor ein paar Jahren haben Forscher das gleiche Essen in zwei verschieden aussehende Verpackungen gesteckt. Die eine Verpackung hatte ein McDonald's-Logo und die andere nicht. Die Kinder fanden, dass das Essen mit Original-McDonald's-Verpackung besser schmecken würde. Das zeigt, wie sehr sich junge Menschen von Marken blenden lassen, weswegen sie einem besonderen Schutz unterliegen sollten."

Die NFL hat ein Altersproblem

Mitte der 90er-Jahre hatte die NFL ein Problem. Football war nicht cool genug. Zumindest nicht unter Kindern. Basketball, Fußball und Videospiele hingegen erfreuten sich einer stetig wachsenden Beliebtheit und kulturellen Relevanz. Also hat die Liga Führungskräfte von MTV abgeworben, die eine recht simple Lösung formulierten. „Es geht nur darum, einen Football so früh wie möglich in Kinderhände zu bekommen", so einer der Verantwortlichen im Interview mit dem Magazin New Yorker. „Am besten wenn sie sechs sind. Du willst, dass sie schon einen Football in ihren Händen gehalten haben, bevor ihnen jemand zum ersten Mal einen Basketball, einen Hockey- oder einen Tennisschläger gibt."

Zwischen 1998 und 2007 hat die NFL laut ESPN mehr als 100 Millionen Dollar zur Förderung von Jugend-Football ausgegeben.

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Heute steht die Liga vor einem ähnlichen Problem. Laut Variety haben zwischen 2010 und 2013 fast elf Prozent weniger Zuschauer im Alter von 18 bis 49 Jahren bei Football-Spielen eingeschaltet, während in der gleichen Zeit der Zuschaueranteil von Männern im Alter von 18 bis 24 Jahren um fünf Prozent zurückging. Und damit nicht genug: Das durchschnittliche Zuschaueralter betrug 2013 schon 48,4 Jahre. „Damit bewegen wir uns mittlerweile am äußersten Ende von dem, was die Marketingindustrie als ihr wichtigstes Zielpublikum bezeichnet, nämlich Zuschauer zwischen 18 und 49 Jahren", so Brian Steinberg von Variety.

Zur gleichen Zeit spielen weniger junge Menschen Football. Deutlich weniger. Laut ESPN ist die Zahl von Kindern im Alter von 6 bis 12, die regelmäßig Football spielen, zwischen 2008 und 2013 um 29 Prozent gesunken, ein Rückgang, der auch frühere Berichte widerspiegelt. Kurzum: Die NFL-Fangemeinde wird immer älter und damit für die Werbeindustrie auch weniger lukrativ. Und der frühere Lösungsansatz—Kinder so früh wie möglich an Football heranzuführen—zeigt keine Wirkung mehr, weil Eltern und Kinder zunehmend besorgt sind wegen möglicher Hirnschäden in Verbindung mit Football.

Die Liga hat versucht, den Rückgang zu stoppen, indem sie etwa das Tackling als weitgehend ungefährlich dargestellt hat. Zu diesem Zweck hat Commissioner Goodell sogar eigens eine Veranstaltung besucht (und war sogar ihr offizieller Gastgeber), bei der man Müttern sicheres Tacklen beigebracht hat, um ihnen so die Angst vor dem Sport zu nehmen und sie zu ermutigen, ihre Kinder Football spielen zu lassen. Es gibt aber keinen Beweis dafür, dass das sogenannte Heads-up-Tackling Football tatsächlich sicherer gemacht hat. Ganz im Gegenteil: Immer mehr wissenschaftliche Belege deuten darauf hin, dass der Sport viel gefährlicher ist, als man bisher gedacht hat.

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Was bleibt dann noch für eine Liga übrig, die nicht wie die Zeitungsindustrie enden möchte? Die unbedingt frisches Blut benötigt? „Die NFL hat beschlossen, mehr wie ein Vermarkter aufzutreten", so Golin. „Wie Disney oder Coca-Cola versucht man zunehmend, Kinder durch Medienangebote zu erreichen."

Ganz nach dem Motto: Wenn man schon Kinder nicht mehr dazu bringen kann, aktiv Football zu spielen, will man sie zumindest zu passiven Football-Konsumenten machen. Dabei bedient man sich Sales-Praktiken, die an die Spielzeug- und Junkfood-Industrie erinnern. So wie der Spielzeughersteller Hasbro in den 80ern seine G.I. Joe- und Transformers-Puppen durch Cartoons im Nachmittagsprogramm gepusht hat, hat auch die Liga seit 2010 ihre eigene Zeichentrickserie auf Nicktoons, NFL Rush Zone, bei der im Durchschnitt 1,2 Millionen Jungs im Alter von 6 bis 11 einschalten. Dazu meinte der Nickelodeon-Chef Keith Dawkins 2012:

„Die Liga wollte sehen, ob es einen anderen Weg gebe, besonders junge Kinder (zwischen 6 und 8 Jahren) an Football heranzuführen und aus ihnen so lebenslange Fans zu machen. Darum galt ihr Interesse schon schnell unserem Sender Nicktoons und seinem Programm, das auf Jungs zwischen 6 und 11 Jahre ausgerichtet ist."

Schon 2007 hat die Liga das Marketingunternehmen Brandissimo damit beauftragt, mit NFLRUSH.com eine kinderfreundliche Website zu entwickeln. Die kommt mittlerweile auf drei Millionen registrierte User und bietet neben Videos und Videospielen auch kleinere Wettbewerbe und Umfragen an—natürlich alles mit direktem NFL-Bezug. 2010 folgte dann die nächste Etappe der Charmeoffensive. 16.000 Grundschulen bekamen die Möglichkeit, einen Besuch von NFL-Spielern samt einen von 35 „Stipendien" in Höhe von 10.000 Dollar zu gewinnen. Der Haken? Es gewannen die Schulen, die den größten Teamstolz an den Tag legten". Ein geschmackloses Beispiel gefällig?

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… an der Frontier Middle School in Buffalo haben Schüler in Trikots der Buffalo Bills ihre Liebe für ihren Heimatverein damit zum Ausdruck gebracht, dass sie einen anderen Schüler, der wie ein Fan der New York Jets gekleidet war, (symbolisch) „niedergetrampelt" haben.

Wenn du findest, dass 350.000 Dollar (für die 35 Stipendien) echt gut angelegtes Geld sind dafür, dass Schulen sich selber zu riesigen Football-Werbebanden machen, kannst du Herrn Goodell vielleicht auch nicht verübeln, dass er 35 Millionen Dollar jährlich verdient. Darüber hinaus hat die NFL zusammen mit dem amerikanischen Landwirtschaftsministerium das Programm „Fuel Up to Play 60" ins Leben gerufen, das angeblich bis zu zwei Drittel aller amerikanischen Schüler erreicht und mithilfe von Preisen mit Football-Bezug gesündere Essgewohnheiten fördern soll.

Dann wäre da noch „Play 60 Challenge", das Schüler dazu ermutigen soll, sich jeden Tag 60 Minuten sportlich zu betätigen. Und natürlich der bereits erwähnte Schullehrplan NFL Rush Fantasy sowie der Cartoon NFL Rush Zone.

Hier wurde also nichts dem Zufall überlassen.

Von der Wiege bis ins Grab

2005 stand der damalige Marketing Director der NFL, Scott Lancaster, vor rund 100 anderen hochrangigen Vertretern aus der Marketing-Industrie und sollte eine Präsentation halten, die folgenden Titel hatte:

„So verwandelst du deine Marke in etwas, das Kinder cool und Mütter akzeptabel finden."

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Laut Journalist Leigh De Armas soll Lancaster gesagt haben, dass Kinder deswegen so wichtig seien, weil sie die Erwachsenen und Geldverdiener von morgen sind. In diesem Zusammengang lobte er das Videospiel Madden NFL, weil es die Marke NFL bekannter und populärer gemacht habe und zudem Kinder auch abseits des Spielfeldes für Football begeistern würde. Außerdem betonte er, dass eine erfolgreiche Marketingstrategie auch die Eltern berücksichtigen und einbinden müsse:

… „Man hört immer wieder Kinder sagen, dass ihnen ihre Eltern verboten haben, Football zu spielen, weil sie Angst um deren Gesundheit haben. Genau dort setzen unsere Tackle-Schulungen für Mütter an … "

Lancasters Rede war Teil von Kid Power 2005, einer dreieinhalbtägigen Konferenz (Teilnahmegebühr: 4.000 Dollar) mit Gastrednern von der NHL, Reebok, Burger King und Coca-Cola. Dort wurden natürlich auch zahlreiche Seminare angeboten, unter anderem zu der Fragestellung, wie man erfolgreich in Schulen und gegenüber Kindern mit Lernbehinderungen Marketing betreiben kann.

Richtig überraschen kann einen sowas aber nicht. Vor allem wenn man sich folgende Zahlen vor Augen führt: 1983 gaben US-Unternehmen Berichten zufolge rund 100 Millionen Dollar pro Jahr für auf Kinder ausgerichtete Werbung aus. Bis etwa 2005 war die Zahl schon auf fast 17 Milliarden Dollar angestiegen. Einerseits wollen die Unternehmen auch nur an den 40 Milliarden Dollar mitverdienen, die Unter-Vierzehnjährige jährlich ausgeben. Andererseits haben sie auch das sogenannte „Cradle to grave"-Prinzip („von der Wiege bis zum Grab) im Hinterkopf, das auf einen ehemaligen General-Mills-Geschäftsführer zurückgeht. Damit ist gemeint, dass Kinder, die man schon sehr früh an das eigene Produkt binden konnte, für gewöhnlich für viele Jahre, und im besten Fall ein Leben lang, treue Kunden sein werden.

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Unternehmen zielen aus demselben Grund mit ihrer Werbung auf Kinder ab, wie Football-Spieler Steroide verwenden: Weil es funktioniert. In seinem Buch Born to Buy: The Commercialized Child and the New Consumer Culture berichtet Juliet B. Schor, dass 10-Jährige im Durchschnitt schon 400 Marken kennen. (Liebe Kinder, was jetzt kommt, ist wirklich wichtig: Wenn ihr an Sport denkt, denkt bitte zuerst an VICE Sports). Zudem hat man in Studien herausgefunden, dass zwischen Alkoholwerbung und dem Konsum bei Jugendlichen eine starke Korrelation besteht: Je häufiger Kinder in jungem Alter Alkoholwerbung ausgesetzt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal früher mit dem Trinken beginnen und zudem auch mehr Alkohol konsumieren werden. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für Junkfood und [Tabakkonsum](http://www.tobaccopolicycenter.org/documents/SGR NY 5-25-12.pdf).

Laut dem Wall Street Journal hat eine 2010 von der NFL durchgeführte Studie herausgefunden, dass sich 60 Prozent ihrer größten Fans schon seit Grundschultagen für Football interessieren, wohingegen die Mehrzahl der Gelegenheitsfans deutlich später angefangen hat, sich mit NFL und Football zu beschäftigen.

„Zurück geht das Ganze auf die Tabakindustrie", sagt Michele Simon, Autor von Appetite for Profit: How the Food Industry Undermines Our Health and How to Fight Back. „Sie haben als Erste mit ihrer Werbung auf Jugendliche abgezielt, um sie so möglichst früh abhängig zu machen. Mittlerweile bemühen sich alle großen Unternehmen darum, Kinder so früh wie möglich an ihr Produkt zu binden."

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Simon—ein Anwalt für Gesundheitsfragen, der sich erfolgreich für ein Verbot von alkoholischen Energy-Drinks eingesetzt hat—sagt, dass Kinder unter 12 besonders empfänglich für Werbung seien, weil sie noch nicht wüssten, dass man es in der Werbung mit der Wahrheit nicht immer so genau nehme.

1989 erklärte der Werbeprofi Nancy Shalek der Los Angeles Times, aus welchem anderen Grund Kinder eine sehr leichte Beute seien:

„Werbung ist dann am effektivsten, wenn man bei Verbrauchern das Gefühl auslöst, dass sie ohne das Produkt auf der Verliererseite der Gesellschaft stehen, dass sie also Loser sind", sagte sie. „Kinder und Jugendliche sind dafür besonders empfänglich. Wenn man ihnen sagt, dass sie das Produkt X kaufen sollen, stößt man auf taube Ohren. Sagt man ihnen hingegen, dass sie ziemliche Trottel sind, wenn sie es nicht kaufen, hat man ihre Aufmerksamkeit. Man bedient sich also ihrer emotionalen Anfälligkeit, die in dem Alter besonders stark ausgeprägt ist."

Im vergangenen Sommer sprach der damalige Marketing-Chef der NFL mit dem WSJ über die Bemühungen vonseiten der Liga, Football für Kinder und Jugendliche wieder interessanter zu machen. Er gab an, dass die NFL mit NFL Rush Fantasy Kindern einen manchmal etwas komplizierten Sport näherbringen wolle, aber dass es gleichzeitig auch darum ginge, den Kindern eine Lernhilfe zu bieten. „Wenn man Football liebt und einem mathematische Zusammenhänge mithilfe von Football erklärt werden, ist die Chance hoch, dass man auf diese Weise auch Mathe besser und schneller verstehen wird."

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Bei dem Unternehmen hinter NFL Rush Fantasy klang das aber ein wenig anders. Laut einem internen Firmendokument aus dem Jahr 2009 wird betont, dass man sich mit NFL Rush Fantasy von dem übrigen Werbegewitter positiv abheben könne, weil man es schaffen würde, dass sich Schüler über viele Stunden mit den Marken auseinandersetzen. Zudem würde der Wirkungsbereich der Werbung, in Form von Hausaufgaben, über den Klassenraum hinausgehen. Gleichzeitig würde man auf diese Weise zeigen, dass die NFL Bildung wertschätze, was den verschiedenen Brands bei Kindern und Eltern eine größere Glaubwürdigkeit verleihen würde.

Gerade der letzte Punkt ist alles andere als unwichtig: „Wenn ein Kind in der Schule mit Werbung konfrontiert ist, geht es davon aus, dass es sich in einer sicheren und geschützten Umgebung befindet", so Faith Boninger von der University of Colorado. „Das schulische Umfeld sorgt dafür, dass die beworbenen Produkte wie für gut befunden wirken. Und wenn der eigene Lehrer eine Sache für gut befindet, geht man als Schüler davon aus, dass sie in der Tat gut sein muss.

„Damals nannte man es Propaganda"

Vor rund zwanzig Jahren hat eine US-Verbraucherschutzorganisation firmengesponserte Lernmaterialien à la NFL Rush Fantasy—Learn, Play, Score! untersucht und dabei herausgefunden, das 80 Prozent der Materialien verzerrte oder unvollständige Informationen vermittelten. Genau deswegen sagt Boninger: „Was wir heute firmengesponserte Lernmaterialien nennen, hätte man früher einfach als Propaganda bezeichnet."

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„Der krasseste Fall war Exxon," erinnert sich Golin. „Kurz zuvor war das Unglück der Exxon Valdez geschehen und in den von Exxon gesponserten Unterrichtsmaterialien war die Rede davon, wie schnell sich doch Mutter Erde von ?–lkatastrophen erholen könne."

Natürlich sind die NFL-Unterrichtsangebote nicht so offensichtlich befangen. Man war auch nicht so dumm zu schreiben, wie schnell sich doch das menschliche Gehirn von schweren Erschütterungen erholen würde und dass man auch trotz beginnender chronisch-traumatischer Enzephalopathie ganz gut leben könne. Aber besonders erhellend sei das NFL Rush Zone-Lernpaket auch nicht gerade, fand ein CCFC-Bericht. Zudem wird kritisiert, dass in den Unterrichtsmaterialien auch das Wort „redskins", also Rothäute, vorkommen würde (in Anlehnung an die Washington Redskins). Passend dazu gibt es auch im Rush Zone-Cartoon eine Figur, die an einen amerikanischen Ureinwohner erinnert und „redskin" heißt. Im CCFC-Bericht steht dazu Folgendes:

… indem man den Begriff „redskin" verwendet, wird eine rassistische Bemerkung salonfähig gemacht, die in einem Kinderfernsehprogramm einfach nichts zu suchen hat … zudem ist es eigentlich unvorstellbar, dass heutzutage in Unterrichtsmaterialien immer noch der Begriff „redskin" vorkommt …

Dieselbe „Rothaut"-Figur war im Übrigen auch Teil von verschiedenen Rush Zone-Spielzeugen, die „Happy Meals" beigegeben wurden. Du liest richtig: McDonald's ist ein offizieller Sponsor der NFL. Was uns direkt zum Thema Junkfood bringt.

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Ein Drittel der amerikanischen Kinder ist bereits übergewichtig oder fettleibig. Zudem wird Diabetes Typ 2 auch unter Kindern und Jugendlichen zu einem immer größer werdenden Problem. Zu allem Überfluss werden Kinder mit Junkfood-Werbung regelrecht bombardiert. So ergab 2010 eine Studie der Yale University, dass Kinder im Alter von sechs bis elf täglich mehr als drei TV-Spots von Fastfood-Unternehmen sehen; dass es McDonald's mit seiner inzwischen geschlossenen Website Ronald.com schon auf Zweijährige abgesehen hatte; und dass die Fastfood-Industrie mit ihrer Werbung unverhältnismäßig stark auf schwarze und Latino-Jugendliche abzielt, die—statistisch gesehen—ein höheres Risiko haben, an Fettsucht zu erkranken.

Und jede zusätzliche Ermunterung vonseiten der NFL, zu Fastfood zu greifen, ist da logischerweise alles andere als hilfreich. Indem die Liga mit Nickelodeon eine Partnerschaft eingegangen ist, habe man sich mit der „wichtigsten Quelle von Food-Spots, die von Kindern gesehen werden" verbündet, wie es die Yale-Forscher formuliert haben. Denn auf Nickelodeon laufen 26 Prozent aller von Kindern gesehenen TV-Spots zum Thema Essen und Trinken. Das Problem dabei ist, dass man fast 70 Prozent aller auf Nickelodeon beworbenen Lebensmittelprodukte getrost als Junkfood bezeichnen kann.

Und dann wäre da noch das Programm Fuel Up to Play 60, das die NFL gerne als besonders gesundheits- und menschenfreundlich vermarktet. Laut einer schriftlichen Vereinbarung zwischen der Liga und dem amerikanischen Landwirtschaftsministerium, die VICE Sports vorliegt, soll das Programm nicht dazu dienen, „gewisse Produkte oder Dienste zu bewerben". Doch wie die CCFC betont, dreht sich das gesamte Programm eigentlich nur darum, die NFL zu promoten. Und noch schlimmer: Dritter Partner im Bunde ist die National Dairy Council, ein Interessenverband der Milchwirtschaft. So bemängelt Rechtsanwalt Simon, dass das jährlich 50 Millionen Dollar teure Programm am Ende nur ein Ziel verfolgen würde: Den Konsum von Schokomilch und süßen Joghurts anzukurbeln. In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, warum die Verantwortlichen von Fuel Up to Play 60 Folgendes eine „Erfolgsgeschichte" genannt haben:

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… eine Schule in West Fargo, die mit Postern für die „Milchwoche" geworben hatte, verteilte gratis griechische Joghurts und Milchriegel, wenn die Schüler bei einem Milch-Ratespiel richtige Antworten gegeben hatten …

„Wir haben es mit einem Schulprogramm zu tun, das für Milchprodukte bzw. verschiedene Arten von Junkfood, die Milch enthalten, wirbt—und das unter dem Schutzmantel der Bildung und der NFL", sagt Simon.

Und noch ein Wort zu NFL Rush Fantasy—Learn, Play, Score! Kritiker werfen dem interaktiven Lernprojekt vor, dass seine Fantasie-Liga nicht nur Football, sondern auch Glücksspiel fördere. Was vor allem deswegen gefährlich ist, weil auch bei Glücksspiel gilt: Je früher man ihm zum ersten Mal ausgesetzt ist, desto größer ist das Risiko, später ein Suchtproblem zu entwickeln.

„Man muss nicht gleich alles verteufeln"

Als Matt Ross in der Schule anfing, erwartete ihn die größte Überraschung nicht im Klassenraum, sondern in seinem Schulbriefkasten. Denn der war Tag für Tag zugestopft mit firmenfinanziertem Unterrichtsmaterial.

„Man bekommt so unglaublich viel Zeug zugeschickt", sagt er. „Und das Schlimme ist: Man kann es nicht mal abbestellen."

Das Gros des Unterrichtsmaterials, das amerikanischen Schülern vorgesetzt wird, pusht gewissermaßen eine Agenda: sei es die der Schulbehörde, einer einflussreichen gemeinnützigen Organisation wie etwa die Gates Foundation oder eben eines Spenders aus der Privatwirtschaft wie die NFL. Manche Agenden sind eher subtil gehalten, andere hingegen operieren so unauffällig wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen … Ein gutes Beispiel hierfür war ein Lehrplan vor rund vier Jahren, der aus der Zusammenarbeit von Scholastic—dem weltgrößten Schulbuchverlag—und der American Coal Foundation hervorging. Dieser trug den Titel The United States of Energy und pries laut einem Bericht der New York Times die Vorteile von Kohle an, ohne auch nur mit einem Wort giftige Abfälle, Treibhausgase, oder die Gefahren beim Bergbau zu erwähnen.

Nach Protesten von CCFC und Kinderschutzverbänden hat Scholastic The United States of Energy aus dem Programm genommen und öffentlich versichert, in Zukunft ihre Marketingoperationen in Schulen einzuschränken. Es war ein seltener Sieg für den Kinderschutz in den USA. Denn wohingegen die EU Werbung, die auf Kinder abzielt, streng reguliert und teilweise sogar verbietet, gilt in den USA das Laissez-faire-Prinzip. Und die wenigen Fortschritte, die man erzielen kann, werden regelmäßig von den Lobbyisten der Industrie aufgeweicht oder zunichte gemacht.

Aber warum lassen sich Schulen überhaupt auf so viel Werbung ein, die bisweilen so weit geht, dass Unternehmen schon auf Zeugnissen (!) für ihre Produkte werben? Die (wenig überraschende) Antwort: Weil sie kein Geld haben. Die letzte große Wirtschaftskrise hat vor allem die Bundesstaaten und Gemeinden hart getroffen, weswegen die Schuletats in vielen Teilen des Landes zu klein sind.

Und die Lehrer? Ross gibt zu, dass er und seine Kollegen in Zeiten, wenn es besonders stressig zugeht, auch schon mal zu den sofort einsatzbereiten firmengesponserten Unterrichtsmaterialien greifen. Vor ein paar Wochen war mal wieder so ein Fall. Er gab gerade eine Unterrichtseinheit zum Thema Elektrizität und er wusste, dass er für zwei Tage fehlen würde. Auf der Suche nach Material für den Vertretungslehrer fiel ihm ein Lernpaket eines örtlichen Stromanbieters in die Hände. Er schaute sich das Unterrichtsmaterial genau an und befand es für tauglich. „Es ging unter anderem darum, dass man mit feuchten Händen keine Elektroanschlüsse anfassen darf'', sagt er. „Natürlich könnte man argumentieren, dass es im eigenen Interesse der Stromanbieter ist, die jungen Verbraucher mit anschaulichen Materialien zu informieren, um so später keine Klagen am Hals zu haben. Andererseits ist und bleibt es ein wichtiger und potentiell lebensrettender Hinweis für meine Schüler."

Zumal Ross eh der Meinung ist, dass nicht alle firmenfinanzierten Materialien von Hause aus durchweg schlecht seien. Das gelte, zumindest teilweise, auch für die Bildungsaktion der NFL.

„Die Etats sind knapp", sagt er. „Es gibt kaum öffentliche Gelder für gute Materialien. Gleichzeitig werden die Klassen immer größer. Es gibt also viele Gründe, warum Schulen und letztendlich auch Lehrer zu firmengesponserten Materialien greifen. Und was den NFL-Lehrplan betrifft: Wir wissen doch, dass sich Kinder für Sport interessieren. Punkt! Da haben sie eine Verbindung zu. Und die NFL hat viele Fans. Außerdem könnte das auch andere in der Familie interessieren, die sich dann etwa bei den Hausaufgaben einschalten. Mathe war schon immer ein schwieriges Fach. Darum sollte man für neue Ideen und Lehrmethoden immer ein offenes Ohr haben."