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Nach dem Tod meines Vaters erfuhr ich von seiner geheimen Zweitfamilie

"Hoffentlich macht es dir nichts aus, dass du eine Schwester hast", sagte seine Witwe zu mir – und der Satz machte mir klar, dass mein Vater nicht gerade der netteste Mensch gewesen war.
Sarah Berman
aufgeschrieben von Sarah Berman

Obwohl ich als Einzelkind aufwuchs, habe ich mich nie so gefühlt. Meine Eltern haben mich nicht verwöhnt und ich hatte immer Freunde um mich herum. Ich war ein sehr geselliges Kind. Trotzdem hatte ich in meiner Kindheit ständig das Gefühl, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Man könnte wohl Intuition dazu sagen.

Als ich vier Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden. Mein Vater beleidigte und beschimpfte meine Mutter und mich häufig, deswegen hatten die beiden auch keine gute Beziehung mehr. Mein Vater war einfach ein Arschloch, meine Mutter hingegen ist immer noch eine Art Engel. Zwischen der Scheidung und seinem Tod hatte mein Vater noch Beziehungen zu sechs anderen Frauen. Als ich ins Teenager-Alter kam, war es mir aber schon scheißegal, mit wem er zusammen war.

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Mein Vater wollte immer, dass ich mache, was er mir sagte. Ich sollte zum Beispiel Briefmarken sammeln oder mich in den Sportarten versuchen, die er mochte. Außerdem sollte ich keine Drogen nehmen und so weiter. Er schlug mich, wenn ich mich schlecht benahm. Ich wünschte mir immer, dass er mich als den akzeptieren würde, der ich war: ein Außenseiter mit zu viel Energie.

In der Natur fanden wir schließlich einen gemeinsamen Nenner. Ich kann mich noch gut an unsere gemeinsamen Wanderungen erinnern. Er wollte mir zwar weiter Dinge vorschreiben, aber draußen wirkte er dabei zumindest deutlich entspannter.


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Dieses Jahr am Vatertag habe ich mit der Frau meines Vaters und einigen seiner Freunde eine Art Gedenk-Abendessen zu seinen Ehren veranstaltet. Nachdem wir aufgegessen hatten, sagte die Frau meines Vaters zu mir, dass sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Ich dachte direkt an Schulden oder nicht bezahlte Steuern. Aber dann meinte sie: "Hoffentlich macht es dir nichts aus, dass du eine Schwester hast."

Natürlich machte mir das nichts aus, ich freute mich sogar richtig. OK, vielleicht war ich erstmal ein paar Tage sauer, weil mein Vater meine Schwester vor uns verheimlicht hatte. Das Ganze brachte mir aber auch etwas Klarheit darüber, was bei ihm los gewesen war. Die ganze Zeit über hatte ich eine Halbschwester, die von mir wusste und nach dem Tod unseres Vaters endlich den Mut fand, Kontakt zu mir zu suchen.

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Mein Vater war vergangenes Jahr am Vatertag gestorben. Meine Halbschwester sah die Traueranzeige und meldete sich bei dem Bestattungsinstitut, das ihn eingeäschert hatte. So kam sie an die Kontaktdaten der Frau meines Vaters. Meine Schwester hatte von Anfang an von mir gewusst, aber mein Vater hatte niemandem aus meiner Familie von ihr erzählt. Selbst seine jüngste Schwester, der er sehr nahe gestanden war, hatte keine Ahnung. Dabei sieht meine Halbschwester genau so aus wie meine Tante, als sie im selben Alter war.

Als Kind und Jugendlicher hatte ich viele Fragen. Ich wollte oft wissen, was es bedeutet, erwachsen zu sein. Mein Vater wich solchen Unterhaltungen immer aus. Er antwortete, dass ich das nicht zu wissen brauche und mit der Zeit schon selbst herausfinden werde. Ich glaube, ihm war die Situation sehr unangenehm. Er hatte ja ein ziemlich großes Geheimnis und hielt sich deswegen wohl nicht für geeignet, mir Ratschläge zu geben.

Ich glaube, dass wir beide jetzt eine Art Abschluss für unsere Familien gefunden haben – auch wenn unser Vater das Geheimnis mit ins Grab genommen hat.

Plötzlich eine zweite Familie zu haben, ist schon etwas, das man erstmal verdauen muss. Meine Halbschwester kam nicht mal ein Jahr nach mir auf die Welt. Das heißt, dass mein Vater irgendwann um meine eigene Geburt herum Sex mit ihrer Mutter hatte. Inzwischen weiß ich, dass er sich vor ihr immer als "Onkel Tony" ausgegeben hatte. Als sie älter wurde, fand sie jedoch die Wahrheit heraus.

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Wenn mein Vater noch am Leben wäre, würden wir ihn fragen, warum er so viele Geheimnisse vor uns hatte. Und warum er einfach so Kinder zeugte und die Familien dann verließ.

Bis jetzt habe ich meine Halbschwester nur per Telefon und über Facebook kennengelernt. Dennoch bin ich der Meinung, dass wir uns schon sehr nahe stehen. Wir haben sogar gemeinsame Freunde, so erfahre ich auch noch einige weitere Sachen über sie. Sie ist künstlerisch veranlagt und ziemlich rebellisch. Wir sind beide Freigeister, sie als schräge junge Frau und ich als schräger junger Mann.

Ich glaube, dass wir beide jetzt eine Art Abschluss für unsere Familien gefunden haben – auch wenn unser Vater das Geheimnis mit ins Grab genommen hat. Hoffentlich fühlt sich meine Halbschwester jetzt auch wie ein richtiger Teil meiner Familie. Es hilft zu wissen, dass unsere große Familie sie willkommen heißt und möchte, dass sie ein Teil dieser Familie wird.

Es fiel meinem Vater schon schwer genug, sich einzugestehen, dass er vielleicht nicht gerade der netteste Mensch gewesen war.

Ich will mir keine "Was wäre gewesen, wenn …"-Fragen stellen. Ich bin jetzt einfach nur glücklich, dass alles so gekommen ist. Es hätte ja auch viel schlimmer laufen können. Einige meiner Schulfreunde wuchsen bei Pflegeeltern auf, andere Leute hatten Suchtprobleme und litten unter viel schlimmeren Familien-Dynamiken als unserer.

Bevor mein Vater krank wurde, wollte er wohl nicht, dass wir etwas erfahren. Weil ihm dann die Kontrolle über die Situation entglitten wäre. Ich glaube aber, dass er in den drei oder vier Jahren vor seinem Tod nach einem tieferen Sinn im Leben gesucht hat. Er begann zu akzeptierten, dass die Dinge auch anders kommen können als geplant. Ich glaube, er wäre glücklich gewesen, wenn er noch erfahren hätte, dass meine Halbschwester und ich uns gefunden haben.

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Eine Sache muss ich meinem Vater lassen: Er hat dieses Geheimnis wirklich sehr, sehr gut gehütet – auch meine Mutter hatte keinen blassen Schimmer, bis ich sie vor wenigen Wochen einweihte. Er hatte sich dieser Lüge so ganz und gar verschrieben, dass die Situation am Ende einfach völlig verfahren war. Mein Vater hatte sich mir gegenüber nie wirklich geöffnet. Es fiel ihm wohl schon schwer genug, sich selbst einzugestehen, dass er vielleicht nicht gerade der netteste aller Menschen war.

Ich glaube, ich habe viel früher als andere gelernt, dass es einem den Arsch retten kann, ehrlich zu sein. Vielleicht hat man manchmal Angst davor, andere Leute zu verletzen. Aber letztendlich vermeidet man, dass man selbst irgendwann von der bitteren Wahrheit eingeholt wird.

Immer offen und ehrlich zu sein, ist mit der Zeit zu meinem Lebensziel geworden. Denn jetzt weiß ich, dass selbst nach dem Tod irgendwann herauskommen wird, wer man wirklich gewesen ist.

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