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Datenanalyse: Facebook-Hetze kommt von einer extrem kleinen Gruppe

Immer mehr Deutsche hetzen in sozialen Medien? Nicht ganz, hat ein Informatiker herausgefunden: Es ist ein kleiner, hyperaktiver Haufen, der die Kommentarspalten unter Nachrichtenartikeln aufheizt.
Mittelfinger und Laptop
Bild: imago | blickwinkel

"Deutschland ist zum Witz geworden", schreibt ein Facebook-Nutzer unter einen Nachrichtenartikel der Welt. Es sei "eine Nation, die systematisch kaputt gespielt und kaputt regiert wird". Der Kommentar bezieht sich auf einen Artikel über den Familiennachzug. Die Regelung erlaubt engsten Familienmitgliedern von Geflüchteten nach Deutschland zu kommen, wenn sie in Gefahr sind. Für den Kommentator ist das offenbar eine Katastrophe.

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Beiträge wie diese sind typisch in Facebook-Debatten über Geflüchtete. Wer durch die Kommentarspalten der Nachrichtenmedien scrollt, bekommt schnell das Gefühl: Ein großer Teil der Deutschen ist sehr wütend. Längst steht Hass im Netz auch auf der politischen Agenda, wie das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder die Debatte um die Filterblase zeigen. In den USA stehen soziale Netzwerke wie Facebook massiv unter der Druck. Sie werden verantwortlich gemacht für die Verbreitung von Hass und letztlich auch die Polarisierung der US-Gesellschaft.

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Doch der Schein der entfesselten Wutbürger auf Facebook trügt, zumindest in Deutschland, wie eine Analyse des Informatikstudenten Philip Kreißel vom Verein "Ich bin hier" zeigt. Die Mitglieder des Vereins verbreiten gezielt Counterspeech in hasserfüllten Facebook-Debatten und schaffen damit ein Gegengewicht.

Wie Trolle Kommentarspalten erobern

Zusammen mit dem Londoner Institute for Strategic Dialogue hat Kreißel untersucht, welche Nutzer die Debatten in Facebook-Kommentarspalten an sich reißen. Sein Ergebnis: Eine kleine Gruppe aus schätzungsweise 5.500 Accounts gibt den Ton an, und zwar in den Kommentarspalten der Posts von Nachrichtenseiten. Die Nutzer hinter den Accounts legen sich besonders ins Zeug, wenn es ums Schreiben politisch rechter Kommentare geht. Und sie verteilen fleißig Likes an andere Kommentare mit Meinungsmache, damit sie unter den Posts besonders weit oben angezeigt werden.

Obwohl die Gruppe nur schlappe fünf Prozent aller aktiven Nutzer in den Kommentarspalten repräsentiert, war sie für volle 50 Prozent aller Likes verantwortlich.

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Konkret hat sich Kreißel 700 Facebook-Posts vom Januar 2018 vorgeknöpft, in deren Kommentarspalten hitzig debattiert wurde. Alle untersuchten Posts erschienen auf Facebook-Seiten von Nachrichtenmedien, vertreten waren unter anderem Spiegel Online, Welt, Bild oder Tagesschau. Das Ergebnis: In jeder untersuchten Kommentarspalte waren Mitglieder aus der Gruppe dieser 5.500 Accounts hyperaktiv beim Verteilen von Likes.

Ihr Einfluss ist bemerkenswert: Obwohl die Gruppe nur schlappe fünf Prozent aller aktiven Nutzer in den Kommentarspalten repräsentiert, war sie Kreißel zufolge für volle 50 Prozent aller Likes verantwortlich. Zum Vergleich: Das wäre so, als würden fünf Prozent der Wählenden bei einer Wahl die Hälfte aller Stimmen abgeben.

Auch beim Verfassen von Kommentaren war der Zusammenschluss aus Wutbürgern Kreißel zufolge übermäßig aktiv. Die Hälfte der Kommentare in den untersuchten Kommentarspalten lasse sich nur wenigen hundert Accounts aus dem Netzwerk zuschreiben.

Wer steckt hinter den 5500 Accounts?

"Das sind koordinierte Aktionen", schlussfolgert Kreißel. Die Accounts aus der Gruppe stünden teilweise der Identitären Bewegung nahe, teilweise der AfD. Näher will der Informatikstudent derzeit aber nicht auf die Nutzer eingehen – mit Verweis auf laufende Recherchen.

Kreißel vermutet, die Mitglieder der Gruppe verabreden sich über geschlossene Facebook-Gruppen oder Community-Apps wie Discord, um gezielt Kommentarspalten zu fluten und sich gegenseitig mit Likes zu pushen. Wenn der Verein "Ich bin hier" gegen Hetze in Facebook-Kommentarspalten vorgeht, begegne man ständig Nutzern aus dieser Gruppe, so Kreißel. Der Informatikstudent bezweifelt zudem, dass hinter den 5.500 Accounts auch 5.500 Menschen stecken. Es sei typisch, dass Trolle sich mehrere Accounts anlegen, um eine größere Wirkung zu erzielen.

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Meinungsmache unter Facebook-Posts von Nachrichtenmedien | Screenshot: Facebook

Als reine Hass-Postings würde Kreißel die untersuchten Kommentare aber nicht bezeichnen. Auch das Wort "Hetze" sei nicht immer zutreffend. "Das beste Wort ist Meinungsmache", erklärt Kreißel. Was für eine Art von Meinungsmache damit gemeint ist, geht aus dem Datensatz hervor, den Motherboard teilweise einsehen konnte: Es gibt einen kleinsten gemeinsamen Nenner der untersuchten Kommentare, und das ist radikale Ablehnung gegenüber Geflüchteten und gegenüber der deutschen Regierung. Wenn etwa ein Facebook-Nutzer behauptet: "In 50 Jahren ist der Ausländeranteil bei 80 Prozent" ist das kein Hass, drückt aber eine klare, politische Haltung aus.

Wie sich Nutzer und Medien beeinflussen lassen

Die Analyse von Philip Kreißel untermauert Beobachtungen anderer Forscher. Die Kommunikationswissenschaftler Thomas Friemel und Mareike Dötsch haben zum Beispiel die Nutzerkommentare auf Schweizer Nachrichtenseiten untersucht. Das Ergebnis der im Jahr 2015 veröffentlichten Studie: Nur ein Bruchteil der Leser schreibt überhaupt Kommentare – und politisch rechts orientierte Nutzer kommentieren häufiger.

Auf den ersten Blick hat das etwas Beruhigendes, denn offenbar ist die Zahl der Zornigen und Verängstigten deutlich kleiner, als es scheint. Ein Problem gibt es trotzdem: Das verfälschte Stimmungsbild beeinflusst andere Nutzer. Friemel und Dötsch befürchten sogar eine "systematisch verzerrte Wahrnehmung der öffentlichen Meinung" durch Kommentare im Netz.

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Ähnlich sieht das Politikwissenschaftler Thorsten Thiel, der am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft über Demokratie und Digitalisierung forscht: "Es kann sein, dass Nutzer zufällig über diese Diskurse stolpern". Das könne einige enthemmen und dazu bringen, selbst aggressive Kommentare zu verfassen. Andere könnten sich wiederum vom rauen Tonfall abschrecken lassen und die Debatte den Zornigen überlassen.

"Schwierig wird es, wenn große gesellschaftliche Player die Themen übernehmen", sagt Thiel. Über soziale Medien könne auch eine kleine Gruppe ihre Themen in die großen Nachrichten hieven. Tatsächlich beziehen sich Nachrichtenmedien in Berichten über Geflüchtete immer wieder auf feindselige Kommentare in sozialen Medien. Die Debatte über eine sogenannte Obergrenze für Geflüchtete in Deutschland wäre ohne Stimmungsmache in sozialen Medien wohl sanfter verlaufen.

Wie gefährlich ist Facebook-Hetze wirklich?

Bei aller Sorge um Meinungsmache im Netz muss man sich aber vor Augen halten: Auch der Einfluss von Facebook ist begrenzt. Nur sieben Prozent der Deutschen bezeichnen soziale Medien und Online-Messaging als ihre wichtigste Nachrichtenquelle. Das geht aus dem Digital News Report des Reuters Institute hervor. Klassische TV-Formate wie Tagesschau und Heute sind den meisten Befragten immer noch am wichtigsten.

"Wir sind sehr weit davon entfernt, dass unsere Demokratie aufgrund sozialer Medien eine zentrale Krise erlebt."

Trotzdem schreibt das Bundesfamilienministerium im März 2017 mit Blick auf soziale Netzwerke: "Hass und Hetze gefährden den Zusammenhalt in unserem Land, sind Gift für unsere Gesellschaft." Die taz betitelte ein Interview mit: "Hate Speech bedroht die Demokratie".

Politikwissenschaftler Thorsten Thiel sieht das eher gelassen. "Wir sind sehr weit davon entfernt, dass unsere Demokratie aufgrund sozialer Medien eine zentrale Krise erlebt", sagt der Forscher. Der Hass im Netz sei nur eine von vielen gesellschaftlichen Herausforderungen. "Wir müssen lernen, dem Erregungszustand sozialer Medien entspannter zu begegnen."

Was heißt das für Nutzer, die von einer Minderheit aufgeheizte Kommentarspalten unter Nachrichtenartikeln sehen? Sie können solche Debatten bewusst vermeiden – oder aktiv kommentieren. So engagiert sich zum Beispiel Informatikstudent Kreißel in der Facebookgruppe "Ich bin hier". Auch Thorsten Thiel sieht die Lösung vor allem in einer linken, aktiven Zivilgesellschaft. "Öffentlichkeit war schon immer ein Kampf um Meinungshoheit", sagt der Forscher. "Es ist wichtig, dass Nutzer im Netz auch die Gegenmeinung lesen."

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