Arthur Morgan, Protagonist von Red Dead Redemption 2, hockt vor seinem Pferd
RDR2-Protagonist Arthur Morgan und sein Pferd, Griselda | Screenshot: Red Dead Redemption 2 | Rockstar Games

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Gaming

'Red Dead Redemption 2' macht selbst Hardcore-Gamer zu Wendy-Lesern

Das historische Western-Epos über einen moralisch flexiblen Outlaw ist ein fantastisches Spiel. Es hat nur ein Problem: Niemand will riskieren, dass sein Pferd stirbt.

Ich bin verliebt. Stunden habe ich in Red Dead Redemption 2 damit zugebracht, nach dem perfekten Pferd zu suchen. Habe meinen Sattel von einem Rücken zum nächsten gewuchtet, nach guten Ausdauerwerten oder besonders seltenen Fellfarben Ausschau gehalten. Dann steht sie plötzlich da, mit griesgrämigem Gesichtsausdruck, die Ohren flach am Kopf. Mein Pferd. Also, eigentlich das Pferd von jemand anderem. Aber ich wäre nicht Arthur Morgan, Outlaw und Mitglied einer der berüchtigsten Gangs des späten 19. Jahrhunderts, wenn ich mir nicht nehmen würde, was ich will.

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Meine Gang und ich sind nach einem missglückten Raubüberfall auf der Flucht und versuchen, uns in einem anderen Bundesstaat ein neues Leben aufzubauen. Statt Geld einzutreiben, konkurrierende Gangs aus dem Weg zu räumen oder beim Pokern zu betrügen, suche ich allerdings lieber nach dem perfekten Pferd. Und endlich habe ich es gefunden. Ich nenne die Stute Griselda, nach der Kokainpatin Griselda Blanco.

Ihr falbfarbenes Fell leuchtet in der Sonne golden. Wenn ich sie Berge hinauftreibe, schnauft sie widerwillig. In Verfolgungsjagden hat sie noch jeden eingeholt, bei Schießereien wird sie allerdings nervös. Vielleicht klopfe ich ihr deswegen automatisch den Hals, wenn ich aufsteige. "You're a good girl", sage ich mit versoffen-rauchiger Cowboy-Stimme, rücke mich im Sattel zurecht und schnalze mit der Zunge. Dann geht es weiter. Durch Bäche und scheinbar endlose Täler, durch hohes Gras, dichte Wälder und vernebelte Sumpflandschaften.

Eigentlich sollte ich meiner Gang dabei helfen, nach dem schiefgelaufenen Überfall wieder auf die Beine zu kommen. Nur: Ich muss keine Story-Missionen absolvieren, um Stunden in dieser Welt verbringen zu können. Rockstar Games' neuester Western-Epos ist der beste Ausreit-Simulator, seitdem es Videospiele gibt – und macht selbst ausgewiesene Shooter-Fans zu aufopferungsvollen Pferdebegeisterten.


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"Ich streichle Lucille jedes Mal, wenn ich auf- oder absteige. Ich würde für dieses Pferd sterben", schreibt Mattjew24 auf Reddit. Im GTA-Forum verkündeten andere schon Monate vor Release, bereits über den perfekten Namen für ihre zukünftigen Rösser nachzudenken. In mehreren Threads tauschen sich Nutzerinnen und Nutzer über die Farben und Namen ihrer Pferde aus oder teilen stolz Videos und Bilder ihrer Tiere. Andere stellen sich die Frage, ob es ihrem reitbaren Untersatz besser geht, wenn sie es in den kalten Regionen der Spielwelt in Ställen unterbringen, anstatt es unter offenem Himmel anzubinden. Personen, die sich im Vorfeld damit brüsteten, der härteste Outlaw überhaupt sein zu wollen, haben kein Problem damit, beim örtlichen Pferdehändler vorbeizugucken und ihr hart verdientes In-Game-Geld in einen geflochtenen Schweif für ihren tierischen Kumpel zu investieren, statt bessere Waffen zu kaufen oder das eigene Camp aufzuleveln.

Wie auch im ersten Teil gibt es verschiedene Pferderassen, die einen unterschiedlich schnell von A nach B bringen und dabei viel zu sehr ans Herz wachsen. Neu ist, dass wir uns als Spielerinnen und Spieler aktiv um sie kümmern müssen. Ist ein Pferd dreckig, muss es geputzt werden. Hat es Hunger, muss es gefüttert werden. Sonst sinken Ausdauer und Gesundheit. Hat es Angst, muss man es beruhigen, sonst landet man schneller im Staub, als man sich fragen kann, wann Videospiele eigentlich so verdammt realistisch geworden sind. Je länger man mit seinem Pferd unterwegs ist, umso mehr vertraut es einem und lernt Dressurlektionen, mit denen man es leichter durch gefährliche Situationen manövrieren kann. Außerdem sehen die ziemlich bossig aus.

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Verschiedene Pferderassen haben in Red Dead Redemption 2 unterschiedlich gut ausgeprägte Fähigkeiten – und das kostet || Screenshot: Red Dead Redemption 2 | Rockstar Games

Am Anfang weigert sich Griselda beharrlich, in die Nähe von Wölfen und anderen Raubtieren zu kommen. Mittlerweile schüttelt sie zwar unwillig den Kopf und tänzelt nervös, trottet aber am Ende trotzdem vorwärts. Weil sie mir vertraut. Und dieser Umstand macht es mir beinahe unmöglich, Red Dead Redemption 2 so zu spielen, wie ich die meisten anderen Videospiele spielen würde. Wie soll ich Spaß haben, wenn ich in ständiger Angst lebe?

Die großen moralischen Fragen wirft die Geschichte um moralisch flexible Gangs im Wilden Westen nämlich nicht dann auf, wenn es darum geht, Zeugen oder Gegenspieler zu erschießen oder zu verschonen, beim Poker zu bescheißen oder hilflose Farmer auszurauben. Wirklich ins Herz trifft es, wenn es die Spielerin oder den Spieler mit dem Tod seines Pferdes konfrontiert. Die können nicht nur von anderen Charakteren angeschossen oder von Wildtieren angegriffen werden, sondern sich unter anderem auch die Beine brechen, wenn man zu schnell über steiniges Terrain galoppiert. Ist euer Pferd verletzt und ihr habt keine Medizin zur Hand, könnt ihr es von seinen Qualen erlösen, indem ihr ihm zum Beispiel in den Kopf schießt oder ein Messer ins Herz rammt. EIN MESSER. INS HERZ! Anschließend müsst ihr euch einen neuen vierbeinigen Partner (oder eben eine Partnerin, Tiere haben jetzt auch Geschlechter) in freier Natur einfangen, in Ställen kaufen oder ganz klassisch klauen. Neues Vertrauen aufbauen, neue Tricks lernen, sich neu auf die ganz persönlichen Eigenschaften des jeweiligen Pferdes einstellen.

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Wie kostbar ein Leben ist, wie schnell man jemanden verlieren kann, der einem wirklich etwas bedeutet, versteht man in Red Dead Redemption 2 spätestens dann, wenn man aus dem Nichts von Kopfgeldjägern angegriffen und über den Haufen geschossen wird. Arthur Morgan ist wenige Sekunden später wieder lebendig und kann vom letzten Checkpoint aus neu starten. Sein Pferd bleibt tot.

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Griselda und ich, auf dem Weg in eine leuchtende Zukunft || Screenshot: Red Dead Redemption 2 | Rockstar Games

"Ich habe gestern mein Pferd verloren und das hat Arthur für immer verändert", schreibt Twitter-Nutzer crypticjordan. "Er hat nur getötet, wenn es sein musste, aber nachdem er sie verloren hat, hat er jeden umgebracht, der ihn auch nur schief angeguckt hat." LeonHurley hat ebenfalls sein Lieblingspferd verloren und kann nun "nie wieder Liebe empfinden", wie er auf Twitter erklärt. "Alle anderen Pferde sind bedeutungslos geworden." Das klingt dramatisch, scheint aber einen großen Teil aller RDR2-Spielenden zu betreffen. Auf Reddit gibt es gleich mehrere Threads, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Nutzerinnen und Nutzer ihre verstorbenen Tiere rächen würden.

Griselda hat bisher rund acht Stunden mit mir überlebt. Mehr als einmal hat sie mir das Leben gerettet, weil sie selbstständig einem heran stürmenden Kopfgeldjäger ausgewichen ist. Vor jeder Mission speichere ich panisch. Wenn sie stirbt, kann ich so einfach den vorherigen Speicherstand laden. Ich überfalle keine Kutschen oder Läden, schieße nur dann auf Personen, wenn es zwingend notwendig ist, und mache einen großen Bogen um Bären und andere große Wildtiere. Die schneebedeckten Regionen im Norden meide ich, weil mir dort bereits ein anderes leichter gebautes Pferd gestorben ist, und das kann ich Griselda einfach nicht antun.

Ich liebe Red Dead Redemption 2, aber ich mache mir Sorgen. Sorgen, dass ich das volle Potenzial dieses Spiels nicht ausreizen kann, solange ich Angst haben muss, meinem geliebten Pferd ein Messer ins Herz rammen zu müssen, um es von seinen Qualen zu erlösen. Qualen, die ich verursacht habe. Vielleicht brauche ich ein Ersatzpferd. Oder gleich mehrere. Tiere, die ich von Mission zu Mission durchwechsle, um ja keine emotionale Bindung aufzubauen. Bis dahin halte ich es mit Twitter-Nutzer BobSocrates1: "Mein Pferd Bruce Campbell wird für immer leben! Oder ich schalte sofort das Spiel aus, suhle mich für ein paar Tage in meinen Tränen und komme zurück und töte jedes Lebewesen, das mir über den Weg läuft!"

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